Bührle-Connection – Teil 2

Von zweifelhafter Provenienz: «Jeune femme en costume oriental (La sultane)» von Edouard Manet (ca. 1871) in der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich.

Die Bührle-Blackbox: Aufklärung unerwünscht

Die Bührle-Stiftung verweist gerne auf ihre aufwendige Herkunfts­forschung, die sie für die Kunst­sammlung des Kanonen­königs betreibt. Doch wie seriös ist diese Forschung? Serie «Bührle-Connection», Teil 2.

Eine Recherche von Daniel Binswanger (Text) und Elisabeth Real (Bilder), 19.10.2021

Der Nationalsozialismus hat mit dem Holocaust das grösste Verbrechen der Menschheits­geschichte begangen. Es gibt legitime Debatten darüber, wie die Singularität des Holocaust zu verstehen sei, aber seine Einzigartigkeit steht nicht infrage. Weniger im Bewusst­sein ist ein weiteres Verbrechen des NS-Staates, das in seiner Barbarei nicht vergleichbar ist, in seinen Dimensionen aber ebenfalls keine historischen Vorläufer kennt: der Kunstraub.

Hitlers Schergen plünderten überall in Europa Museen, Privat­sammlungen, Synagogen, hauptsächlich Kunst aus jüdischem Besitz. Es ist, als hätten die Nazis geglaubt, die systematische Enteignung des europäischen Kultur­gutes sei eine Vorbedingung zur Durch­setzung ihrer totalitären Welt­ordnung. Raubkunst wurde verwendet zur Devisen­beschaffung, für die Kollektionen von NS-Grössen wie Reichs­marschall Göring, für das geplante Führer­museum in Linz. Bis heute lastet auf unzähligen Kultur­gütern das schwere Erbe jener Epoche. Gegen 600’000 Kunstwerke sollen die Nazis auf ihren Raub­zügen gestohlen haben – genaue Schätzungen sind unmöglich, aber es ist eine häufig genannte Zahl. Noch schwieriger ist es, zu quantifizieren, wie viele Werke nie an ihre Eigentümer oder deren Nachfahren zurück­gingen. Bis heute ist auch der Nazi-Kunstraub ein unbewältigter Zivilisations­bruch.

Mit dem Einzug von Teilen der Kunst­sammlung des Waffen­händlers Emil G. Bührle ins neue Kunst­haus wird jetzt auch Zürich mit voller Wucht von der Raubkunst­problematik eingeholt. Wie viele Kunst­werke, die ihren Besitzern durch Krieg und Verfolgung entrissen wurden, hängen nun in den edlen Saal­fluchten des Neubaus von David Chipperfield? Diese Frage lag bleischwer über den Eröffnungs­reden. Geklärt ist sie bis heute nicht. Zwar will die Bührle-Stiftung viel Aufwand betrieben haben, um die Provenienzen ihrer Werke abzuklären. Aber dass nun nach bestem Wissen und Gewissen alles untersucht sei – dieser Eindruck wollte sich trotzdem nie einstellen.

Die wirkliche Arbeit dürfte erst noch bevorstehen. Warum? Diese Frage beleuchtet dieser zweite Teil der Recherche.

Von grossen Werken

Seit Mitte der Neunziger­jahre hat der Wille zur Aufarbeitung und Wieder­gutmachung stark zugenommen. Für Museen wird es immer verpflichtender, die Herkunft ihrer Werke abzuklären. 1998 sind die «Washington Principles» unter­zeichnet worden, 2009 die Erklärung von Theresien­stadt. Ein weiteres einschneidendes Ereignis war in der Schweiz die Übernahme des Gurlitt-Nachlasses durch das Kunst­museum Bern. Plötzlich war das Berner Museum gezwungen, für eine hoch kompromittierte Sammlung mit aller Sorgfalt die nötigen Abklärungen zu treffen. Bern stellte sich dieser Heraus­forderung.

Ursprünglich interessierte sich die Kunst­wissenschaft für Provenienzen, um Fälschungen zu entlarven. Heute jedoch hat die sogenannte Provenienz­forschung eine Funktion, die noch wichtiger ist als jede Absicherung gegen Betrug: Sie soll Kunst­sammler davor bewahren, sich mitschuldig zu machen an historischem Unrecht.

Kunsterfahrung ist eben nicht der ausser­weltliche Zufluchts­ort des Guten, Wahren und Schönen. Sie ist ein Appell, sich auf die blutigen Wechsel­fälle der Tradierung einzulassen. Die Begegnung mit grossen Werken ist nicht nur eine Quelle der Inspiration, sondern eine Auseinander­setzung damit, woher wir kommen und wer wir sind.

Bis vor wenigen Jahren ging es in der Provenienz­forschung haupt­sächlich darum, den Nazi-Kunstraub rückgängig zu machen. Neuere Debatten um die während der Kolonial­zeit geraubten afrikanischen und sonstigen ausser­europäischen Kultur­güter haben das Bewusstsein heute jedoch noch einmal ganz neu geschärft, den Horizont der Frage­stellungen neu definiert, zu einer weiteren Ausdehnung der Forschungs­tätigkeit geführt.

Wer hat Angst vor der Provenienz?

Aus diesem Grund nimmt Provenienz­forschung für die Kunst­vermittlung heute eine entscheidende Rolle ein – aus diesem Grund ist sie das neuralgische Zentrum des Bührle-Skandals. Die Sammlung der Bührle-Stiftung unterliegt dem dringenden Verdacht, Werke zu enthalten, die als Raub­kunst im weiteren Sinn zu betrachten sind. In ihrem Fall ist dieser Verdacht besonders unerträglich, weil Emil Bührle den Grund­stein zu seinem immensen Vermögen bekanntlich mit dem Verkauf von Kanonen ans Hitler­reich legte und seine Stiftung zugleich Werke enthält, die jüdischen Sammlern aufgrund der Verfolgung durch den Nazistaat entrissen wurden.

Zu Reichtum kam Bührle als Zudiener der Nazis. Zu Gemälden kam er als Ausbeuter ihrer Opfer. Möglich geworden ist dieser Verwertungs­kreislauf auch deshalb, weil die Schweiz dem Sammler und Industriellen eine sichere Operations­basis geboten und ihn bei seinen Waffen­exporten unterstützt hat. Bührle ist ein helvetisches Erfolgs­modell. Und jetzt soll er zum Flagg­schiff der Zürcher Kulturstadt werden.

Die Bührle-Stiftung hat ab dem Jahr 2002 damit begonnen, die Provenienzen der Gemälde in der Stiftung zu erforschen. 2010 war dieser Prozess offiziell abgeschlossen, und die Resultate wurden publiziert. Von 2010 bis 2017 schliesslich wurden die Provenienzen der übrigen Werke der Bührle-Sammlung – nur rund ein Drittel der gut 600 Werke wurde in die Stiftung überführt – einer Abklärung zugeführt. Auch diese Resultate sind auf der Website der Stiftung vollständig einsehbar. Die Stiftung legt Wert auf die Feststellung, dass die Anstrengungen auch heute noch weitergehen.

Man sollte anerkennen, dass es kaum eine zweite Schweizer Privat­sammlung gibt, die einen scheinbar so substanziellen Effort gemacht hat, die Herkunft ihrer Bilder zu erforschen. Die meisten Schweizer Museen sind heute noch weit davon entfernt, ihre Bestände vollständig durchleuchtet zu haben. Taugt Bührle also als Vorbild? Das trifft aus zahlreichen Gründen leider nicht zu.

Die Strukturen der Bührle-Provenienz­forschung waren niemals so organisiert, dass ihre unabhängige Wissenschaftlichkeit glaubhaft gewesen wäre; die prägenden Akteure bezeugen ein Geschichts­verständnis, das sich nicht auf der Höhe des heutigen wissen­schaftlichen Diskurses bewegt; externe Spezialistinnen, die beigezogen wurden, haben eine umstrittene Leistungs­bilanz; Abklärungen zu einzelnen Werken sind dermassen tendenziös und einseitig, dass erklärungs­bedürftig erscheint, wie es dieser Forschung in eigener Sache bis heute gelungen ist, als seriös zu gelten.

Die Grundgegebenheit ist simpel: Es ist zweifelhaft, wie weit es der Bührle-Forschung überhaupt um historische Wahrheit geht. Im Zentrum scheinen stattdessen die Bewahrung der Sammlung und die Verhinderung von Restitutionen zu stehen. Nach der Abwicklung der Raubkunst­fälle in der unmittel­baren Nachkriegs­zeit haben die Bührle-Erben zwar sehr extensive «Abklärungen» zu potenziellen Rück­gaben finanziert, aber nie mehr auch nur ein einziges Werk tatsächlich restituiert.

Nur schon diese banale Tatsache sollte selbst oberflächliche Beobachter ein bisschen stutzig werden lassen. Bei Stadt und Kanton Zürich beurteilt man das jedoch anders. Die hausinterne Provenienz­forschung der Bührle-Stiftung gilt als quasi unangreifbar. Man hat sich schliesslich bedingungslos und blind darauf verlassen. Vielleicht würde es sich trotzdem lohnen, einmal etwas genauer hinzuschauen.

Bührle-Connection

Emil Bührle, grösster Nazi-Waffen­lieferant im Zweiten Weltkrieg, schrieb eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Kriegs­schuld. Der Transfer seiner Sammlung ins Zürcher Kunst­haus ist ein Akt kollektiver historischer Verdrängung. Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 2

Die Bührle-Blackbox

Teil 3

Zürich forscht

Interview

«Sie haben uns ins Gesicht gelacht»

Was wichtig ist, taucht nicht auf

Wenigstens über eine Frage gibt es heute weitgehende Einigkeit: Das Zusammen­tragen von Archiv­dokumenten, von Rechnungs­belegen und Bank­auszügen, liefert zwar eine entscheidende Grundlage für die Beurteilung von Rückerstattungs­forderungen, kann konkrete Rückgabe­fälle jedoch noch nicht entscheiden. Historische Kontextualisierung ist das Zauber­wort. Neben der Erarbeitung der archivarischen Grund­lagen muss auch immer eine Einordnung ins historische Gesamt­bild stattfinden.

Die Bührle-Stiftung jedoch hat sich in ihrer Forschungs­tätigkeit lange auf einen Hyper­positivismus eingeschworen und so getan, als wären rohe Daten – was in diesem Fall bedeutet: Archiv­material – die einzig seriöse historische Währung. So werden auf der 633 Werke präsentierenden Website der Bührle-Stiftung zwar zu jedem Werk akribisch die dokumentierten Hand­änderungen dargelegt, teilweise auch die Preise aufgeführt, zu denen die Gemälde gehandelt wurden – aber unter «Jude», «Jüdin» oder «jüdische Sammlung» ist die Anzahl der Einträge exakt gleich null. Die Bührle-Stiftung bringt es fertig, ihre Bestände «abzuklären», ohne die alles entscheidende Frage in der offiziellen Dokumentation auch nur auftauchen zu lassen.

Da, wo die Stiftung zu Diskussionen konkreter Fälle von NS-verfolgungs­bedingtem Entzug Stellung nehmen muss, kommt sie jedoch nicht darum herum, die konkreten Bedingungen einer Hand­änderung auf umfassendere Weise zu thematisieren. Es geht dann immer auch um die grund­sätzlichen historischen Fragen, an denen sich die Geschichts­wissenschaft seit der Nachkriegs­zeit abarbeitet: wie die Rolle aufzufassen ist, welche die Schweiz als unbesetztes, neutrales Land mitten in Europa im Zweiten Weltkrieg gespielt hat; wie die Schweizer Flüchtlings­politik, der Waffen­handel, die Situation jüdischer Verkäufer auf dem Kunst­markt, das generelle Wesen von historischer Schuld heute zu bewerten sind; und schliesslich wann und wie nach heutigen Moral- und Rechts­vorstellungen Ansprüche auf «Wieder­gutmachung» überhaupt geltend gemacht werden können.

Nur wenn man sich allen diesen Problem­komplexen gegenüber positioniert hat, wenigstens implizit, lassen sich Argumente entwickeln, um konkrete Restitutions­forderungen als legitim oder illegitim auszuweisen. Nur mit einem fein gestrickten historischen Referenz­system ist zu ermitteln, wie eine «faire und gerechte» Lösung für solche Dispute aussehen soll.

Die Insel und das Strandgut

Die wichtigste Frage, um die historischen Forschungen der Bührle-Stiftung zu bewerten, lautet deshalb: Welches Geschichts­bild hat Dr. Lukas Gloor? Gloor ist der langjährige Stiftungs­direktor der Bührle-Stiftung und betreibt – abgesehen von Interventionen der amerikanischen Provenienz­forscherin Laurie A. Stein, von denen noch zu reden sein wird – die Bührle-Provenienz­forschung seit knapp zwanzig Jahren als One-Man-Show. Schon dieser Umstand ist bemerkenswert.

Wäre es nicht fast zwingend, eine solche Aufgabe einem Team von Spezialistinnen anzuvertrauen? Auf die Anfrage der Republik antwortet Lukas Gloor mit einer Gegen­frage: «Können Sie uns Angaben machen, wer Ihrer Ansicht nach im Jahr 2002 in der Schweiz in der Lage gewesen wäre, die Provenienz­forschung für die Sammlung Emil Bührle aufzunehmen?» Dieser Einwand ist für die Frühphase der Forschungen nicht unberechtigt. Doch schon seit längerem hat sich die Lage geändert: Kompetente Provenienz­forscher wären inzwischen verfügbar.

Was auch immer die Motive der Bührle-Stiftung gewesen sein mögen: So wie die Forschungs­strukturen bis heute organisiert worden sind, hängt nun alles an der Geschichts­auffassung des Lukas Gloor. Wie sieht er die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg?

In einem Aufsatz, den Gloor 2014 verfasste und den Erich Keller in seinem Buch «Das kontaminierte Museum» bereits scharfsinnig analysiert hat, entwickelt der Direktor der Bührle-Stiftung ein sehr klares Geschichts­bild: «Die Schweiz war gleichsam eine Insel mitten im unsicheren Meer der Zeit. Wenn auf diesem Meer Schiff­brüchige aus verschiedensten Ländern und besonders viele aus dem nahegelegenen Deutschland trieben, können auch aus heutiger Sicht für die Schiff­brüche an sich nicht die Insel­bewohner zur Verantwortung gezogen werden.» Man ist ein wenig hilflos angesichts dieser Aussage. Sie widerspiegelt eine so rückwärts­gewandte Auffassung der historischen Rolle der Eidgenossenschaft, dass man sie noch nicht einmal in den konservativsten Perioden der Schweizer Nach­kriegs­zeit verorten könnte.

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in der Schweizer Geschichts­wissenschaft die Bunker­rhetorik der Reduit-Nostalgie gepflegt, man sprach von der Schweiz als einer wehrhaften Alpen­festung, die sich mit allen Mitteln auf ihre Verteidigung vorbereitet hatte – aber nicht davon, dass das Land der Welt­geschichte passiv und unbeteiligt ausgesetzt gewesen sei wie eine Südsee­insel einem herauf­ziehenden Tropen­sturm. Lediglich zu Zeiten des Ersten Weltkriegs war die Metapher von der Schweiz als sicherer Insel, die vom europäischen Kriegs­geschehen nicht überspült wird, ein zentrales Leit­motiv der Propaganda­diskurse. Das Geschichts­bild des Lukas Gloor, das an dieser Stelle offenbart wird, gehört mentalitäts­geschichtlich in eine Zeit, die noch vor den Ereignissen liegt, die er eigentlich erfassen sollte.

Gemessen an Gloors Insel-Metaphorik erscheint der Reduit-Diskurs, der die Schweizer Nachkriegs­zeit dominierte, als faktennah und fortschrittlich. Noch weiter entfernt als vom Reduit-Diskurs ist Gloors Geschichts­bild jedoch von den Recherchen der unabhängigen Historiker­kommission, die seit der Jahrtausend­wende den Forschungs­stand definiert und die zum ersten Mal systematisch dargelegt hat, dass die Schweiz keine autarke Alpen­festung und schon gar keine Insel gewesen ist, sondern auch durch intensive Aussen­bindungen, die Integration in die deutsche Kriegs­wirtschaft sowie eine Nazideutschland «nicht provozierende» Flüchtlings­politik versucht hat, möglichst unbeschadet über die Kriegs­jahre zu kommen.

Das ficht den Direktor der Bührle-Stiftung allerdings nicht an. Der Nachlass­betreuer von Emil Bührle, der während der Kriegsjahre für 70 Prozent der Schweizer Waffen­­exporte an Nazideutschland verantwortlich war; der, um seine Sammlung aufzubauen, mit den wichtigsten Kunst­händlern des NS-Regimes in Kontakt stand; der während des Krieges persönlich das besetzte Paris besuchte, um Kunst­werke aufzukaufen – dieser Nachlass­betreuer spricht von der Schweiz als «Insel mitten im unsicheren Meer». Und die Kunst­werke? Sind dann «Strandgut».

Lukas Gloor übernimmt die «Strandgut»-Metapher aus einem Text des Kunst­händlers Walter Feilchen­feldt senior, der sich allerdings sehr scharf gegen die Vorstellung von einem Strandgut ohne «Seerecht» wendet, auch wenn es «von Liebhabern aller Art gerne aufgelesen wurde». Allerdings, so macht Gloor in diesem Text einen Vorschlag zur Güte, Flucht­kunst, die von den Besitzern selber auf die Insel gebracht worden sei, könne nicht eigentlich als Strandgut betrachtet werden. Es erreiche die «Insel» ja in geordneten Verhältnissen.

Man könnte vielleicht einwenden, dies sei nur eine Textstelle und es könne sich auch um einen Aussetzer handeln, eine Aussage, die gar nicht so gemeint war. Diese Erklärung scheitert daran, dass sich diese Haltung wie ein roter Faden durch die Positions­bezüge von Lukas Gloor hindurchzieht.

Im April 2021 zum Beispiel gab Gloor dem «Tages-Anzeiger»-Magazin ein grosses Interview. Der Kernsatz? «Die Schweiz war nie Bestand­teil des NS-Unrechts­staates. Das lässt sich (…) durch keine Argumentation ins Gegen­teil verkehren.» So wichtig ist Lukas Gloor diese Aussage, dass sie etwas weiter unten im Gespräch gleich noch einmal wiederholt werden muss, allerdings mit einer Präzisierung: «Die Empfehlungen der Deutschen Limbach-Kommission können nicht auf die Schweiz übertragen werden, da die Schweiz nie Bestand­teil des NS-Unrechts­staates war.» Wenn Deutschland Kunst­werke zurück­erstattet, wie es dies gemäss den Empfehlungen der über Rück­erstattungen entscheidenden sogenannten Limbach-Kommission gelegentlich tut, mag das okay sein. Aber im Fall der Schweiz?

Gloor führt im Interview aus: «Dass der Wunsch besteht, wenigstens einen kleinen Teil des riesigen Unglücks wieder­gutzumachen, das NS-Herrschaft und Krieg über die Welt gebracht haben, ist verständlich. Die Frage ist allerdings, wer dazu in die Pflicht genommen werden soll.» Die Antwort ergibt sich von selbst: nicht die Bewohner der Insel, die mit dem NS-Unrechts­staat nie etwas zu tun hatten. Nicht die Rechts­nachfolger des Nazi-Waffen­lieferanten.

Über jeden Zweifel erhaben

Um wie viele strittige Werke in der Bührle-Sammlung geht es überhaupt?

Angesichts der Tatsache, dass Emil Bührle seine Sammlung zwischen 1936 und 1954 zusammen­gekauft hat, kann nicht überraschen, dass es potenziell sehr viele sind. Aus einem internen Arbeits­papier zur Provenienz­forschung der Bührle-Stiftung von 2018, das der Republik vorliegt, geht hervor, dass von den 197 überprüften Werken nicht weniger als 90 in die sogenannte «Kategorie B» fallen: Das bedeutet, es gibt zwar bisher keine Hinweise darauf, dass sie zwischen 1933 und 1945 von jüdischen Vorbesitzern innerhalb des deutschen Macht­bereiches verkauft wurden oder dass sie solchen durch Konfiskation entrissen wurden – aber es gibt auch keine Hinweise auf das Gegenteil. Man weiss es bisher nicht. Sechs weitere Gemälde im Besitz der Stiftung sind Fälschungen oder Teil­fälschungen und fallen nicht in Betracht. Die Bedeutung dieses internen Papiers hat bereits Erich Keller in seinem Buch «Das kontaminierte Museum» hervorgehoben.

Als praktisch unbedenklich stuft die Bührle-Stiftung jedoch alle Werke jüdischer Eigen­tümer ein, die sich von 1933 bis 1945 nachweislich ausserhalb des Nazi-Macht­bereiches befanden. Das bedeutet, dass zum Beispiel das so heftig umstrittene Gemälde «Champs de coquelicots près de Vétheuil» von Claude Monet, das von den Erben von Max Emden zurück­gefordert wird, von der Stiftung als unbelastet rubriziert wird. Es wird festgehalten, eine problematische Provenienz könne «mit an Sicherheit grenzender oder mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden».

Auch von zweifelhafter Provenienz: Monets Mohnfeld (2. v. r.) in der Bührle-Sammlung.
Bei 90 der 197 Werke liegt die Herkunft weiterhin im Dunkeln: Die Sammlung Bührle in den neuen Chipperfield-Sälen.

Das interne Arbeits­papier zur «Provenienz­forschung der Stiftung Sammlung E.G. Bührle, Zürich» ist jedoch noch aus einem anderen Grund brisant. In diesem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Dokument wird noch viel ungeschminkter als an anderer Stelle artikuliert, weshalb sich aus Sicht der Stiftung in der Schweiz ausgedehnte Provenienz­debatten erübrigen sollten: «‹Fluchtgut› konnte zwischen 1933 und 1945 nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen von Deutschland nicht besetzten Ländern von Flüchtlingen aus Deutschland legal gehandelt werden (z. B. in Gross­britannien und in den USA). Entschädigungen für Verkäufe, die unter dem Druck über­geordneter Verhältnisse (Krieg, Emigration) zustande kamen, können nach Auffassung der Stiftung Bührle nachträglich nur von den Nach­fahren derer eingefordert werden, die diese Verhältnisse ursächlich verschuldet haben.»

Will heissen: Nur in Deutschland sind Rückgabe­forderungen legitim für Werke, die unter verfolgungs­bedingtem Zwang verkauft werden mussten. Es ist für die Stiftung offenbar kein Problem, dass sie sich mit dieser Auffassung frontal gegen die Erklärung von Theresien­stadt und die völker­rechtlichen Zusagen der Eidgenossenschaft stellt. In keinem der inter­nationalen Abkommen ist eine Klausel zu finden, dass ausschliesslich die Bundes­republik Deutschland restitutions­pflichtig sein soll.

Und die Schweiz? Bleibt untätig

Überhaupt, dieses lästige Deutschland. Emil G. Bührle hat sich mit seinem Herkunfts­land bekanntlich aufs Beste arrangiert und verdankte dem Hitler­reich seinen märchen­haften Reichtum. Mit der Bundes­republik hingegen haben seine Nachlass­vertreter ihre liebe Mühe.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in der Bundes­republik Institutionen zur Beilegung von Restitutions­streitigkeiten existieren, die das Desinteresse der politischen Schweiz für Fragen der historischen Gerechtig­keit in ein nicht besonders schmeichelhaftes Licht tauchen. Die Bundes­republik verfügt seit 2003 über die bereits erwähnte Limbach-Kommission: Sie spricht bei Rückgabe­forderungen Empfehlungen aus im Sinne der Washingtoner Richt­linien. Auch andere europäische Staaten, darunter Gross­britannien, die Nieder­lande, Österreich und Frankreich, haben entsprechende Instanzen eingerichtet.

Nur in der Schweiz ist bisher nichts geschehen.

Ärgerlich ist die Limbach-Kommission – oder die «Beratende Kommission im Zusammen­hang mit der Rückgabe NS-verfolgungs­bedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz», wie sie korrekter­weise heisst – für die Bührle-Stiftung vor allem deshalb, weil sich Restitutions­konflikte, welche die deutsche Kommission zu bewerten hat, manchmal mit Fällen über­schneiden, die auch in der Schweiz verhandelt werden. Dann wirds peinlich.

Dazu muss man wissen, dass die Limbach-Kommission ein aus den Spitzen der deutschen Justiz-, Universitäts- und Politik­welt zusammen­gesetztes zehnköpfiges Gremium ist, dessen Tätigkeiten unentgeltlich und ehren­amtlich erfolgen. Die Kommission verfügt auch über eine Geschäfts­stelle, die (bezahlte) Mitarbeiter beschäftigt, darunter eine Provenienz­forscherin, die sicherstellt, dass Entscheide auf solider Grundlage getroffen werden können.

Mit einem Entscheid vom März 2019 empfahl die beratende Kommission die Rückgabe von zwei historischen Stadt­ansichten des venezianischen Malers Bernardo Bellotto – besser bekannt als Canaletto – an ihre als rechtmässig erachteten Besitzer. Die beiden Gemälde wurden aus staatlichen deutschen Museen zurück­gegeben an die Erben von Max Emden, welche die Rückgabe­forderung erhoben hatten. Einen ähnlichen Restitutions­anspruch machen die Emden-Erben auch gegenüber der Bührle-Stiftung geltend, von der sie die Rückgabe des Monet-Bildes «Champs de coquelicots près de Vétheuil» fordern.

Jeder Restitutionsfall ist anders und muss individuell betrachtet werden. Der Bellotto- und der Monet-Fall überschneiden sich jedoch sehr weitgehend. Zentral ist für beide, ob man davon ausgehen kann, dass Max Emden beziehungs­weise nach dessen Ableben im Sommer 1940 sein Sohn und einziger Erbe Hans Erich Emden in einer verfolgungs­bedingten wirtschaftlichen Zwangs­lage waren oder nicht. Die Bellottos wurden 1938 an den mächtigen, für Hitler persönlich tätigen Kunst­händler Karl Haberstock verkauft. Der Monet ging 1941 an Emil Bührle. In den drei Jahren, die zwischen den beiden Verkäufen liegen, mag sich die finanzielle Lage der Emdens noch einmal verändert haben. Aber gewiss nicht zum Besseren.

In der Schweiz gibt es jedoch keine unabhängige Kommission, keine ehrenamtlich tätigen Experten, keine zur Klärung dieser Fragen von der öffentlichen Hand bezahlten, unabhängigen Forscher. In der Schweiz gibt es Lukas Gloor. Er steht seit knapp zwanzig Jahren in Lohn und Brot bei der Bührle-Stiftung und wird gelegentlich von der im Mandats­verhältnis tätigen Laurie Stein unterstützt. Gloors Befunde nehmen sich dementsprechend anders aus als diejenigen der beratenden Kommission. Völlig anders.

Illustrieren lässt sich der Unterschied der Sicht­weisen zum Beispiel mit der Bewertung der Arbeiten von Thomas Buomberger. Buomberger ist einer der bekanntesten Schweizer Historiker auf dem Gebiet. 1998 publizierte er die Studie «Raubkunst – Kunstraub», die als Meilen­stein für das Thema gelten muss. 2012 verfasste er für die Emdens ein Parteien­gutachten, das insbesondere den Nachweis führen sollte, dass die aggressive Arisierungs- und Verfolgungs­politik des Nazi­regimes das zum grössten Teil in Deutschland verbliebene Vermögen der Emden-Familie dem Zugriff seiner Besitzer entzog und in kürzester Zeit zerstörte. Die Sachwalter der Bührle-Stiftung sind jedoch nie müde geworden, den Vorwurf zu erheben, Buomberger produziere reine «Polemik», sei unseriös, projiziere in die Lücken des historisch Beweisbaren seine eigenen Fantasien und zeichne ein Bild der wirtschaftlichen Lage der Emdens, das eine «wider besseres Wissen gemachte, falsche Behauptung» darstelle.

Wie beurteilt dementgegen die beratende Kommission unter dem Vorsitz des deutschen Alt-Verfassungs­gerichts­präsidenten Hans-Jürgen Papier die Forschungen von Thomas Buomberger? Sie stützt ihren Restitutions­entscheid explizit auf sein Gutachten, dem zugute­gehalten wird, es zeige «beispielhaft» die «üblichen Restriktionen, Schikanen und Willkür­massnahmen gegen jüdische Unter­nehmer und Anteils­eigner».

So kann es denn nicht verwundern, dass die beratende Kommission im Bellotto-Fall zu einer Beurteilung kommt, die derjenigen der Bührle-Stiftung beziehungs­weise ihres Zuständigen für Inhouse-Provenienz­forschung diametral entgegen­gesetzt ist. Sie schreibt: «Als Kern­tatbestand (bleibt) die durch die national­sozialistische Verfolgung unmittelbar ausgelöste wirtschaftliche Notlage Max Emdens und des damit verfolgungs­bedingten Vermögens­verlustes. Die Kommission gelangt daher zu dem mehrheitlichen Beschluss, eine Rückgabe der beiden derzeit im Bundes­besitz befindlichen Bilder an die recht­mässigen Erben nach Hans Erich Emden als seiner­zeitigem Allein­erben des Dr. Max Emden zu empfehlen.»

Im bereits zitierten internen Dokument der Bührle-Stiftung wird dagegen festgehalten: «Dank eines Akten­fundes von Laurie Stein gelang der Stiftung aber der Nachweis, dass Hans Erich Emden nach dem Tod des Vaters bis zur Abreise nach Südamerika (und auch nach seiner Ankunft dort) jederzeit frei über sein grosses Vermögen verfügen konnte.» Die Kommission spricht von «verfolgungs­bedingtem Vermögens­verlust», die Bührle-Stiftung spricht von freiem Verfügen über ein grosses Vermögen. Eine der beiden Instanzen sagt mutmasslich die Unwahrheit.

Die Herkunftsforscherin

Dass solche Beurteilungs­unterschiede etwas zu tun haben könnten mit der Interessen­bindung der Bührle-Forschung, ist ein naheliegender Gedanke. Allerdings wird gegen diesen Einwand immer ein gewichtiges Argument geltend gemacht: Laurie A. Stein.

Stein ist eine Provenienz­forscherin aus Chicago, die einen guten Ruf geniesst. Im Jahr 2000 gehörte sie zu den Gründungs­mitgliedern des Arbeits­kreises Provenienz­forschung. An den Recherchen der Unabhängigen Experten­kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg war sie als externe Mitarbeiterin beteiligt und leistete in Form eines «internen Forschungs­berichts UEK», der ungewöhnlicher­weise nie gesondert publiziert wurde, einen Beitrag zum Band «Fluchtgut – Raubgut». 2020 schliesslich erhielt sie für ihre langjährigen Leistungen im Bereich der Provenienz­forschung das deutsche Bundes­verdienst­kreuz.

Allerdings zeichnet sich die Karriere von Laurie Stein auch durch eine Auffälligkeit aus: In zahlreichen bedeutenden Restitutions­streitigkeiten intervenierte sie als Expertin – auffällig häufig jedoch aufseiten von grossen Museen, die keine Mühe scheuen, Restitutionen zu verhindern. So geschah es in Düsseldorf im Restitutions­streit um «Die Füchse» von Franz Marc; so geschah es, als das Museum of Modern Art sich erfolgreich gegen Rück­forderungen von Georg-Grosz-Gemälden aus den Beständen der Galerie Alfred Flechtheim zur Wehr setzte; so geschah es im Rechts­streit zwischen den Erben von Lilly Cassirer und der Thyssen-Bornemisza Collection Foundation; und so geschah es im Ringen um einen weiteren Bellotto aus der Emden-Sammlung, der heute im Houston Museum of Fine Arts hängt.

Hat Laurie Stein eine Präferenz für die Interessen­vertretung von mächtigen Institutionen? In einem aktuellen New Yorker Zivilrechts­verfahren, in dem es um den Besitz­anspruch auf den «Dogenpalast» geht, ein weiteres Gemälde von Claude Monet, war Stein für ein Gerichts­gutachten, das der Republik vorliegt, gezwungen, ihren Stundensatz offenzulegen: 350 Dollar. Das ist grundsätzlich kein überraschendes Honorar für eine hoch qualifizierte Spezialistin, die in Verfahren interveniert, in denen es um enorme Streit­werte geht. Es entspricht jedoch weniger der Entlöhnung einer kunst­historischen Forscherin als derjenigen einer guten Anwältin. Das wirft eine offensichtliche Frage auf: Versteht Stein auch das Wesen ihrer Arbeit als anwaltschaftlich?

Seit dreizehn Jahren wird Laurie Stein nun von der Bührle-Stiftung beschäftigt. Offiziell war sie an der Abklärung von 633 Werken beteiligt. Ihr Mandat dürfte mehrere hundert, vielleicht auch mehrere tausend Arbeits­stunden umfassen. Zu welchen Honorar­ansätzen? Auf Anfrage der Republik teilt die Stiftung mit, dass die Zusammen­arbeit mit Stein auf «Mandats­basis mit pauschaler Entschädigung» erfolgt sei und nur Archiv­arbeit betroffen habe. Zur Höhe der Honorare mache man keine Angaben.

Die Kritik, Laurie Stein handle nicht ausschliesslich im Interesse der Wissenschaft, kam im Lauf ihrer Karriere schon mehrfach auf. Sehr kritisch wurde bewertet, dass die Forscherin, als sie 2009 vom New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) als Expertin engagiert wurde, plötzlich einen völlig anderen Stand­punkt zu vertreten schien als im Jahr 2000, als sie für die Bergier-Kommission ihren Beitrag für den Band «Fluchtgut – Raubgut» verfasste. Das MoMA war mit den Restitutions­forderungen der Erben von Georg Grosz konfrontiert, welche Werke zurück­forderten, die heute im Besitz des Museums sind, aber einst zu den Beständen der Berliner Galerie von Alfred Flechtheim gehörten, die Ende 1933 unter dem Druck der Verfolgung zwangs­liquidiert wurde.

Stein gab 2009 in einer Zeugen­aussage zu Protokoll, dass «die Liquidierung der Galerie Flechtheim ein geordneter, professioneller Vorgang war». Curt Valentin, der zeitweilig der Assistent von Flechtheim war und später vom NS-Regime ein offizielles Mandat erhielt, konfiszierte «entartete» Kunst ins Ausland zu verkaufen, sei ein «gut beleumundeter Kunst­händler». Diese Bewertung scheint in direktem Gegensatz zur Analyse zu stehen, die Laurie Stein in ihrem internen Bericht für den ersten Band des Bergier-Berichtes vorlegte.

Der amerikanische Starreporter William D. Cohan hat für das Magazin «Art News» versucht, die Hinter­gründe des MoMA/Grosz-Falls zu recherchieren. Er zitiert aus dem Stein-Bericht von 2000: «Die höchste Konzentration von Werken entarteter Kunst aus Deutschland, die durch Curt Valentins Einfluss und Verbindungen in amerikanische Museen gelangte (…) findet sich heute im Museum of Modern Art.» Es sei davon auszugehen, dass die Sammlung eine unbestimmte Zahl von «Raub­kunstwerken» und von «Werken unbestimmter Provenienz» enthalte. Verantwortlich dafür sei die enge Beziehung zwischen Curt Valentin und Alfred Barr, dem damaligen Direktor des MoMA. Ist für die radikale Neubeurteilung im Jahr 2009 der wissenschaftliche Erkenntnis­fortschritt verantwortlich – oder doch die veränderte Auftragslage?

Die Angelegenheit bleibt auch deshalb obskur, weil Cohan nur den ersten Teil des internen UEK-Berichtes von Stein einsehen konnte. Der zweite Teil ihrer historischen Forschungen für die UEK musste verblüffender­weise unter Verschluss bleiben, weil er gedeckt ist durch eine Geheim­haltungs­klausel. Auch mit der Forscherin selber konnte Cohan kein Gespräch führen: Sie unterstand auch einer Vertraulichkeits­verpflichtung gegenüber dem MoMA.

Noch bemerkenswerter ist Laurie Steins Engagement für das Museum of Fine Arts in Houston. Dieses befindet sich in einem Restitutions­streit um einen Bellotto. Die Gegen­partei sind wiederum die Emdens. Dieser Bellotto ist das dritte der drei Gemälde, die 1938 von Max Emden nach Berlin verkauft wurden und von Hitler wohl für das Führer­museum in Linz vorgesehen waren. Die Emden-Familie hat nun eine gerichtliche Klage eingereicht gegen das Museum of Fine Arts und will die Rück­erstattung des Gemäldes gerichtlich erzwingen.

Lange schien zweifelhaft, ob der Houston-Bellotto tatsächlich dasselbe Gemälde ist wie das einst im Besitz der Emdens befindliche. Es handelt sich um den «Markt­platz in Pirna», von dem Canaletto verschiedene Versionen geschaffen hat: Die Houston-Version könnte deshalb eine andere sein als die Emden-Version. In einer Expertise von 2007, die das Museum of Fine Arts in Houston in Auftrag gab, kommt Laurie Stein in der Tat zum Schluss, dass es keine hinreichenden Beweise gebe, die belegen würden, dass diese beiden Bellottos ein und dasselbe Gemälde sind.

Dieses Jahr nun hat allerdings die Non-Profit-Organisation «Monuments Men Foundation for the Preservation of Art» den Emden-Erben ihre Unter­stützung zukommen lassen. Die Monuments-Men-Stiftung hat sich der Aufgabe verschrieben, die Legacy der monuments men and women zu verteidigen, jener Sonder­truppe der US-Armee, die in der letzten Phase des Krieges für das Auffinden und die Rückgabe von Nazi-Raubkunst verantwortlich war. Die Stiftung agiert immer supra partes, das heisst unabhängig von den Parteien und ohne Vertretungs­mandat. Für den Houston-Fall macht sie zum ersten Mal eine Ausnahme von dieser Regel.

Robert Edsel, der Vorsitzende der Stiftung, sagt auf Anfrage der Republik dazu: «Wir haben den Houston-Fall unabhängig und auf eigene Kosten geprüft und sind zum Schluss gekommen, dass das Museum in Houston keinen Besitz­anspruch auf den Bellotto erheben kann und dass das Gemälde den Emden-Erben gehört. In der Folge haben wir uns mehrfach um ein Treffen mit dem Direktor des Museums bemüht, um ihm unsere Recherchen offenzulegen und unsere Schlüsse zu erläutern. Dieses Treffen wurde jedoch verweigert mit dem Argument, dass unsere Stiftung nicht eine mandatierte Vertreterin der Emden-Erben sei. Es war zum ersten Mal, dass eine Museums­organisation sich weigerte, unsere Forschungs­resultate überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb entschlossen wir uns, in diesem besonderen Fall zu Rechts­vertretern der Emden-Erben zu werden.»

Die Monuments Men haben im August eine Gegenexpertise zur Provenienz­studie von Stein veröffentlicht – und das Verdikt ist vernichtend. Gemäss der Gegen­expertise leidet die Stein-Studie zu Bellotto an ganz grund­sätzlichen handwerklichen Fehlern. So wird eine selbst auf Fotografien klar erkennbare Inventar­nummer, die auf der Front­seite der Leinwand angebracht ist und eine Rekonstruktion der wahren Identität des Gemäldes und seiner Besitzer ermöglicht, gar nicht erwähnt in der Provenienz­analyse von Stein. Die Inventar­nummer ist deshalb entscheidend, weil sie zu bestätigen scheint, dass der Houston-Bellotto identisch ist mit dem Emden-Bellotto. Das ist irritierend: Eine Provenienz­analyse von Stein, die offenbar nicht nur fehlerhaft ist, sondern auch klar im Interesse der Auftrag­geber liegt? Irrtümer sind immer möglich. Allerdings macht es stutzig, wenn hoch qualifizierte und hoch bezahlte Spezialistinnen simple Anfänger­fehler begehen.

Konfrontiert mit der Kritik an ihren Forschungen, lässt Laurie Stein mit einer Rechts­anwältin antworten. Diese hält fest, Stein komme Nach­forschungen «ausschliesslich unter rein wissenschaftlichem Ansatz» nach, das Ergebnis ihrer Forschungen sei «vollkommen offen». Entsprechend «würde sie niemals einen Auftrag annehmen, bei dem das Ergebnis der Forschungen von ihrem Auftrag­geber vorher­bestimmt ist».

Nichts ist abgeschlossen

Provenienzforschung ist eine hochkomplexe, sehr aufwendige Wissen­schaft. Die ganzen Auseinander­setzungen um Raub­kunst, Aufarbeitung der Vergangenheit und kritisches Geschichts­bewusstsein leiden jedoch daran, dass finanziell potente Institutionen die Provenienz­forschung in eine Blackbox verwandelt haben, in der sie sämtliche Rückgabe­forderungen beerdigen können. Es wäre deshalb dringend angezeigt, dass staatliche Institutionen, der Bund, die Kantone und die grossen Städte substanzielle Geld­mittel in die Hand nähmen, um dieser interessengeleiteten Wissenschaftlichkeit endlich ein Ende zu setzen. Der Bund hat 2016 damit angefangen, die Provenienz­forschung zu unterstützen. Die gesprochenen Gelder haben bisher allerdings einen eher symbolischen Umfang.

Man sollte die erinnerungs­politischen Dimensionen dieser Gleich­gültigkeit nicht unterschätzen. Wie lückenhaft und verfälscht sich die offiziellen Forschungs­ergebnisse der Bührle-Stiftung ausnehmen, wurde schon häufiger dargelegt. Erich Keller hat zum Beispiel letztes Jahr in einem WOZ-Artikel gezeigt, wie die Bührle-Stiftung Dokumente frisiert, um die Provenienz des Gemäldes «Paysage» von Paul Cézanne, das sich in den Dreissiger­jahren in Deutschland befand, in der Sammlung des jüdischen Ehepaares Nothmann, möglichst unverfänglich aussehen zu lassen. In seinem Buch «Das kontaminierte Museum», das aktuell die öffentliche Debatte beherrscht, nimmt Keller den Nothmann-Fall wieder auf. Auch an anderen Beispielen kann gezeigt werden, wie interessen­geleitet die Diskurse sind, die von der Bührle-Stiftung als «Stand der Wissenschaft» ausgegeben werden.

So hat Lukas Gloor nun pünktlich zum Einzug der Bührle-Stiftung ins neue Kunst­haus seine wissenschaftliche Summe veröffentlicht: den 472 Seiten starken Gesamt­katalog der Sammlung Emil Bührle, der auch eine Geschichte der Sammlung und die Präsentation von 70 Meister­werken enthält. Der Gedanke liegt nahe, dass mit dieser Publikation der Status quo nun definitiv besiegelt werden soll: eine abschliessende, umfassende Publikation der Sammlungs­bestände als das vermeintlich letzte Wort zur Aufarbeitung. Folgerichtig hiess es in der «NZZ am Sonntag» dazu: «Es wird Zeit, dass in der Restitutions­debatte ein neues Kapitel geöffnet wird.» Was wohl nur heissen kann: dass sich das Kapitel der Rückgabe­forderungen nun schliessen soll.

Die Texte in dem Werk lesen sich stellenweise denn auch, als würde Gloor den Versuch machen, seine Bührle-Apologetik diskret und definitiv zu zementieren. Zum Monet-Bild «Champs de coquelicots près de Vétheuil» heisst es: «Bei (Max) Emdens Tod im Juni 1940 fielen Insel, Haus und Einrichtung zusammen mit dem Vermögen an den Sohn Hans Erich Emden, der vor dem Hinter­grund der militärischen Erfolge Deutschlands seine Auswanderung nach Chile vorbereitete.» Diese Aussage ist nicht buchstäblich falsch, aber so verzerrend, dass sie gezielt einen falschen Eindruck vermittelt.

Ja, das Vermögen fiel an den Sohn – aber es war aufgrund der NS-Verfolgung auf einen kleinen Bruchteil eingeschrumpft, was Hans Erich, der Kredite bedienen und die Liegenschaft erhalten musste, in eine prekäre Lage brachte. Warum wird die NS-Verfolgung mit keiner Silbe erwähnt?

Ja, Hans Erich Emdens Entschluss, nach Südamerika auszuwandern, fiel sicher auch «vor dem Hinter­grund der militärischen Erfolge Deutschlands». Aber seine Einbürgerung war zweimal abgelehnt worden von den Schweizer Behörden, ans Totenbett seines Vaters hatte er nur mit einem Besucher­visum einreisen können, wie alle staatenlosen Juden musste er fürchten, von der Fremden­polizei ausgeschafft zu werden. Auch der haitianische Pass, den sein Vater für ihn noch hatte kaufen können, hätte ihn davor längerfristig nicht geschützt. Diese Fakten sind bekannt, wurden vom Publizisten Francesco Welti für «Der Kaufhaus-König und die Schöne im Tessin», eine Biografie Max Emdens, sehr gründlich recherchiert. Warum wird die unmittelbare, existenzielle Bedrohung totgeschwiegen?

Was schliesslich soll insinuiert werden mit der Formulierung, Hans Erich habe «seine Auswanderung nach Chile vorbereitet»? Er war im Mai 1940 aus dem Deutschen Reich ausgebürgert worden, musste sich unter abenteuerlichen Bedingungen von Budapest, wo er sich damals aufhielt, nach Brissago ans Toten­bett seines Vaters durchschlagen, und begab sich, ohne im Besitz legitimer Reise­dokumente zu sein, kurz darauf auf die Flucht mit dem Ziel, das hoffentlich rettende Südamerika zu erreichen. Eine «Auswanderung vorbereiten»? Die Schön­färberei wird zum blanken Zynismus.

Die Bührle-Provenienz­forschung war nie von heraus­ragender Qualität. Die Verantwortungs­träger hätten sich nie hinter den Nebel­petarden des vermeintlichen Aufklärungs­aktivismus verstecken dürfen. Und nein: Diese Provenienz­forschung ist nicht abgeschlossen. Erst in Zukunft wird sie seriös betrieben werden können. Stadt, Kanton und Kunst­gesellschaft stehen in der Verantwortung, die Aufklärung endlich zu ermöglichen, die sie spätestens 2012, bei Abschluss des Leihvertrags mit der Bührle-Stiftung, entschlossen und konsequent hätten in die Wege leiten müssen.

Was ihre Fähigkeiten anbelangt, Licht ins Dunkel von pseudo­wissenschaftlichen Manipulations­versuchen zu tragen, ist der bisherige Leistungs­ausweis der Verantwortungs­träger allerdings bescheiden. Das zeigen die verblüffenden Vorgänge um die sogenannte Leimgruber-Studie der Universität Zürich. Um diese Studie geht es im dritten Teil dieser Recherche.

Sie lesen: Teil 2

Die Bührle-Blackbox

Teil 3

Zürich forscht

Interview

«Sie haben uns ins Gesicht gelacht»