Serie: «Deutschland hat die Wahl» – Folge 4

Ernüchterung

Deutschland hat gewählt. Und jetzt? Wir haben nachgefragt bei den Wählerinnen, die in den letzten Wochen in der Republik von ihren Problemen und ihren Erwartungen an die Politik erzählt haben. Teil 4 der Serie «Deutschland hat die Wahl».

Von Eser Aktay, Anina Ritscher (Text) und Verena Müller (Bilder), 29.09.2021

Am Vormittag des Wahltags steht die Pflegerin Julia Heusser im Kranken­haus. Die Schicht ist knapp besetzt. Alle sind am Anschlag – wie immer. Am Abend schaltet sie zu Hause den Fernseher ein. So wird sie es der Republik später am Telefon erzählen. Um 18 Uhr kommen die ersten Prognosen. Dann reden die Spitzen­kandidaten über die Ergebnisse. Erschöpft vom Tag, verfolgt Heusser die Reaktionen am Fernseher – und staunt. Der Zustand der Pflege ist an diesem Wahl­abend mitten in der Pandemie kein Thema.

Nach 16 Jahren Merkel, eineinhalb Jahren Pandemie und vielen Monaten Wahl­kampf steht ein Sieger fest: Olaf Scholz. Und die SPD. Knapp dahinter landet die Union mit einem historisch schlechten Wahl­ergebnis: Sie verliert verglichen mit den letzten Wahlen rund ein Viertel an Wähler­stimmen. Und auf dem dritten Platz, weit abgeschlagen, die Grünen, obwohl sie ihren Anteil von 2017 um knapp sechs Prozent­punkte übertroffen haben.

Jetzt steht eine heikle Regierungs­bildung bevor: Deutschland wird wohl das erste Mal seit den Fünfziger­jahren von einem Dreier­bündnis regiert werden. Wer Kanzler wird, ist noch unklar. Obwohl rechnerisch möglich, lehnen SPD und CDU eine Neu­auflage der Grossen Koalition ab. Zwei Szenarien bleiben: die Ampel aus SPD-FDP-Grünen oder Jamaika, eine Koalition von CDU-Grünen-FDP.

Während des Wahl­kampfs hat die Republik sieben Wählerinnen in Baden-Württemberg begleitet. Sie alle waren in unterschiedlicher Weise von der Pandemie betroffen. Sie haben mit Hoffnung und Sorge auf diese Wahl geschaut, unterschiedliche Lehren aus der Pandemie gezogen. Was sagen sie jetzt zum Resultat? Und was erwarten sie von den kommenden vier Jahren?

Am Wahlabend und am Tag danach rufen wir an und fragen nach.

Wir erreichen sie auf dem heimischen Sofa, an einer Wahlveranstaltung, bei der Arbeit und unterwegs.

Serie: «Deutschland hat die Wahl»

Am 26. September endete in Deutschland eine politische Ära – mitten in der Pandemie, der Klimakrise und einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft. Bis zum Wahl­sonntag reiste die Republik durch Baden-Württemberg, sprach mit Bürgerinnen und Wählern und hat nach der Wahl nochmals nachgehakt. Zur Übersicht.

Folge 3

Aufbruch

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Er­nüch­te­rung

Julia Heusser war lange unsicher, wen sie wählen soll. Für die Pflege wollen sich laut ihren Programmen alle Parteien einsetzen, so richtig abgekauft hat sie es aber keiner. Dass das Thema am Ende gar keine Rolle im Wahl­kampf spielte, das hatte sie nicht erwartet.

Schulleiter Dirk Lederle, den wir zu Beginn dieser Serie kennen­gelernt haben, ist vom Ergebnis überrascht: «Wenn mich jemand vor sechs Wochen gefragt hätte», erzählt er am Telefon, «dann hätte ich gesagt, die CDU gewinnt.» Tatsächlich standen die Chancen anfangs schlecht für Olaf Scholz. Erst ab August holte er auf.

«Mir ging es vor allem um Kontinuität»: Schulleiter Dirk Lederle hat die SPD gewählt – wegen Olaf Scholz.

Im Haus Lederle gab es vor den Wahlen viel Diskussions­stoff: Seine Frau ist Mitglied der CDU. Statt Armin Laschet hätte sie aber lieber Markus Söder von der CSU als Kanzler­kandidaten gehabt. Er sei kantiger, habe mehr Profil, findet sie. Doch selbst im CDU-freundlichen Baden-Württemberg hat die Partei dieses Jahr viele Stimmen verloren.

Lederle war bis zuletzt nicht sicher, ob er mit seiner Ehefrau einig ist. «Ich habe mit dem Bundes­trend abgestimmt», sagt er. SPD also – wie viele andere auch, die nicht mehr CDU wählen wollten. Überzeugt hat Lederle nicht die Partei, sondern Olaf Scholz. Insgesamt gaben 37 Prozent der Wählerinnen bei den Befragungen nach der Wahl an, dass Scholz sie dazu bewogen hatte, SPD zu wählen. Nicht die Kompetenz der SPD, keine langjährige Partei­bindung. Nur Scholz. Als ehemaliger Bürger­meister von Hamburg sowie Finanz­minister und Stellvertreter von Merkel konnte er im Gegensatz zu seiner Konkurrenz auf langjährige Regierungs­erfahrung zurückblicken. «Mir ging es vor allem um Kontinuität», sagt Lederle.

«Es wird unglaublich langsam vorangehen»

Auf Scholz, so scheint es, können sich einige unserer Gesprächs­partnerinnen einigen. Selbst Maria Haido, Gewerkschafterin und Linke-Mitglied aus Heilbronn. Als wir sie am Wahl­abend anrufen, ist im Hintergrund Stimmen­gewirr zu hören. 50 Mitglieder der lokalen Fraktion der Links­partei haben sich in einem Jugend­zentrum versammelt, hören Livemusik, backen Pizza. Überraschend fröhlich, für eine Partei, die um ein Haar aus dem Bundes­tag geflogen wäre. Die Linke liegt laut dem vorläufigen Endergebnis mit 4,9 Prozent knapp unter der 5-Prozent-Hürde, die für den Einzug ins Parlament an sich überwunden werden muss. Nur dank drei Direkt­mandaten wird die Partei auch weiterhin im Bundestag vertreten sein.

Mit Scholz als Kanzler wäre Haido zufrieden: SPD und Linke seien so weit ja nicht voneinander entfernt, findet sie. Ihren Bekannten und Verwandten riet sie sogar dazu, mit ihrer Erst­stimme SPD zu wählen – der Kandidat der Linken habe sowieso keine Chance auf ein Direkt­mandat gehabt.

Waren denn die Pandemie und der ständige Ruf nach Solidarität nicht eine Steilvorlage für eine Partei, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt? Haido fürchtet, vielen gehe das Wahl­programm zu weit: «Dort steht das Wort Enteignung. Viele Leute verstehen nicht, dass damit nicht sie, sondern grosse Konzerne gemeint sind», so erklärt sie sich das schlechte Wahlresultat.

Auch Gewerkschafterin und Linke-Mitglied Maria Haido kann mit einem Kanzler Scholz gut leben.
Greenpeace-Pressesprecherin Inga Ritter ist enttäuscht, dass die Grünen nicht mehr Stimmen holten.

Als Gewinnerin der Wahl kann sich auch Annalena Baerbock von den Grünen sehen. Sie blieb zwar weit unter ihrem Ziel und ihren zwischen­zeitlichen Prognosen. Und doch erzielten die Grünen das beste Ergebnis bei einer Bundestags­wahl seit Gründung der Partei. Das Klima­thema prägte diesen Wahl­kampf entscheidend. Am Ende hat auch die Pflegerin Julia Heusser Grün gewählt. «Für die Zukunft meines Kindes», wie sie sagt.

Der Erfolg der Grünen freut Inga Ritter, die Tanz­pädagogin aus Stuttgart. Sie wählte Grün, obwohl sie ihre Stimme lieber der Tierschutz­partei gegeben hätte. Das Resultat stellt sie nun nicht zufrieden: «Die Grünen hätten mehr herausholen können.»

Dass nicht mehr Menschen Grün gewählt haben, spiegelt für Ritter die Denkweise der Bevölkerung wider: «Wir wollen das 1,5-Grad-Ziel erreichen, aber wir wollen nichts dafür tun.» Sollten beide, Grüne und SPD, an der künftigen Regierung beteiligt sein, kann sich ihrer Meinung nach etwas verändern. Aber: «Es wird unglaublich langsam voran­gehen, weil die Bevölkerung wenig bereit ist, nachhaltiger zu leben, und weil die Politik nicht schnell genug die nötigen Gesetze dafür erlässt», sagt sie.

«Hauptsache: Die CDU muss weg»

Klar ist, dass die grosse Zeit der beiden traditionellen Volks­parteien vorüber ist. Stattdessen stehen einige mittel­grosse und viele Kleinparteien neben­einander da: Rund neun Prozent der Wählerinnen machten das Kreuz bei einer Partei, die nicht im Bundes­tag sitzt.

Das beobachtet auch der Bioladen­besitzer Michael Reitberger aus Konstanz. Er hat wenig Zeit am Montag­nachmittag, er ist gerade dabei, Most zu pressen. Reitberger hat gleich zwei Kleinst­parteien gewählt: Die Erststimme gab er der Satire­partei Die Partei, die Zweit­stimme der Querdenker-Partei Die Basis. Letztere ist bundes­politisch irrelevant – konnte aber in einigen Teilen Baden-Württembergs aus dem Stand heraus auf drei Prozent kommen.

Hat Kleinstparteien gewählt: Bioladen­besitzer Michael Reitberger.
«Von breitem Konsens kann nicht die Rede sein, wenn die meist­gewählte Partei gerade mal ein Viertel aller Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen konnte»: Clubbesitzerin Carolin Ott.

Clubbesitzerin Carolin Ott ist traurig: «Ich habe gedacht, dass sich jetzt wirklich etwas verändert.» Die Zersplitterung der Parteien­landschaft findet sie ernüchternd: «Von breitem Konsens kann nicht die Rede sein, wenn die meistgewählte Partei gerade mal ein Viertel aller Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen konnte.»

Am meisten schockiert sie aber, dass die AfD stark geblieben ist – in Sachsen und Thüringen in Ost­deutschland wurde sie gar zur stärksten Kraft. «Einige meiner Freunde überlegen gerade, ob sie ihren Wohnort verlassen sollen, weil die AfD dort so gut abgeschnitten hat.» Die Signal­wirkung, die das Resultat hat, macht ihr Sorgen. Vor allem, weil die Partei, die nun zum zweiten Mal in den Bundes­tag einzieht, wohl neue Finanzierungs­möglichkeiten erhält: Gemäss Gewohnheits­recht erhalten partei­nahe Stiftungen wie die Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD öffentliche Förder­gelder, sofern die jeweilige Partei wiederholt im Bundestag vertreten ist.

Das Resultat der AfD findet auch Dejan Trandafirovic erschreckend. Der Aktivist aus Heidelberg durfte selbst nicht wählen: Einen deutschen Pass hat er nicht. In seinem Umfeld haben die meisten Leute ihre Stimme der SPD oder den Grünen gegeben. Viele von ihnen aus strategischen Gründen: «Für sie war die Hauptsache: Die CDU muss weg.» Scholz sei besser als Laschet – aber auch mit ihm wird sich in Sozial- und Klima­politik wenig verändern, glaubt Trandafirovic. Zu kritisch sieht er dessen Rolle beim Hamburger G-20-Gipfel 2017 und bei den Verstrickungen im Wirecard- und Cum-Ex-Fall. Scholz ist für ihn nur das kleinere Übel.

Aktivist Dejan Trandafirovic wundert sich über die Zugkraft der FDP bei seinen Altersgenossen.

Gewundert hat den 23-jährigen Trandafirovic das Wahl­verhalten seiner Alters­genossen: Bei den Erst­wählerinnen holte die FDP noch vor den Grünen am meisten Stimmen. «Ich glaube, es liegt an ihrem Social-Media-Auftritt. Der ist glatt und professionell. Ausserdem wird uns im Internet ständig Werbung für Life-Coaches oder Ähnliches angezeigt – das neoliberale Versprechen zieht anscheinend.»

Eine Ampel­koalition, geführt von der SPD mit Olaf Scholz als Kanzler, ist Pflegerin Heusser zwar lieber als ein Jamaika-Bündnis unter Laschet. Bauch­schmerzen hat sie trotzdem. «In so einem Bündnis von drei Parteien muss man Kompromisse finden, und das ist ja auch gut so.»

In einem Punkt ist sie sich aber sicher: «Ich weiss, dass wir in der Pflege letztlich den Kürzeren ziehen werden.»

Zu den Autorinnen und zur Fotografin

Anina Ritscher arbeitet als freie Journalistin für Zeitungen und Magazine (TAZ, «Der Freitag» und «Dummy») in Deutschland und der Schweiz. Eser Aktay ist freier Journalist und lebt in Mainz. Er arbeitet regelmässig für den Südwest­rundfunk und hat als freier Autor für TAZ, «Süddeutsche Zeitung» und «Zeit Campus» geschrieben. Beide sind Teil ­des Selbstlaut-Kollektivs, eines Zusammen­schlusses aus frei­beruflichen Journalistinnen. Die Bilder zu dieser Reportage stammen von der Stuttgarter Fotografin Verena Müller.