Die Carbonara-Frage
Man sollte Kantinenessen nicht von vornherein als schlecht abtun. Manchmal wandelt sich eine Betriebsmensa zum Foodtempel, der zur Inspiration für ein Kult-Kochbuch wird. «Geschmacksache», Folge 24.
Von Michael Rüegg (Text) und Reinhard Hunger (Bild), 14.09.2021
Wer «Die klassische italienische Küche» von Marcella Hazan ebenfalls im Regal stehen hat, weiss: Ich besitze so etwas wie das Standardwerk zu dieser Materie. 450 Rezepte, den Stiefel rauf und runter. Doch nun hat Hazan Konkurrenz bekommen: «River Café – Alle Rezepte» vereint bisher erschienene Bücher von Rose Gray und Ruth Rogers zu einem Schinken, der «Die klassische italienische Küche» in puncto Umfang sogar knapp schlägt.
Die beiden Werke haben gewisse Gemeinsamkeiten. Der Hauptunterschied liegt auf den ersten Blick darin, dass das «River Café» reich bebildert ist – während Hazans Buch bloss mit einigen wenigen Schwarz-Weiss-Illus aufwartet.
Wir wollen uns heute also in vergleichender Kochbuchwissenschaft üben.
Je einmal über den Teich
Marcella Hazan wanderte in den 1950er-Jahren in die USA aus, wo ihr ebenfalls italienischstämmiger Mann aufgewachsen war. Erst dort begann sie, sich mit der Küche ihrer Heimat zu beschäftigen. Für die italienische Küche tat sie, was Julia Child für die französische cuisine erreicht hatte: Hazan brachte den Amerikanerinnen bei, wie man italienisch kochte.
Ruth Rogers’ Weg verlief anders. Die Amerikanerin fand erst in Europa zum Kochen. Sie heiratete Richard Rogers, der zwar englisch klingt, aber wiederum in Italien geboren war – die Familie Rogers war zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Venedig ausgewandert. Die Familie verliess 1939 Mussolinis Italien gen England. Richard Rogers liess sich zum Architekten ausbilden und erlangte Berühmtheit, als er mit seinen Büropartnern den Wettbewerb für den Bau des Centre Pompidou in Paris gewann.
Danach heiratete er besagte Ruth Rogers und zeigte der Amerikanerin Italien. Einige Jahre später eröffnete Ruth zusammen mit Rose Gray das «River Café» in London – als Mensa für das mittlerweile stark angewachsene Architekturbüro ihres Gatten.
Das Lokal hatte Erfolg, brach aus seinem Kantinendasein aus, holte einen Michelin-Stern, und die beiden Chefinnen brachten einem talentierten Jungkoch namens Jamie Oliver den einen oder anderen Kniff bei. Als Rose Gray 2010 an Krebs starb, war das «River Café» längst eine Institution, die weit über den Ärmelkanal hinaus Berühmtheit erlangt hatte.
Zwei unterschiedliche Generationen
So viel zu den Urheberinnen. Am meisten ins Auge sticht, dass bei den deutschen Ausgaben beider Bücher der «Magazin»-Kochkolumnist Christian Seiler das Vorwort verfasst hat. Wer also Bücher hauptsächlich Vorworten von Christian Seiler wegen kauft, hat hier wirklich die Qual der Wahl. Die Vielfalt an Rezepten lässt bei beiden kaum Wünsche übrig. Wobei Hazan sich etwas stärker den Grundlagen widmet, während das «River Café» mehr hands on daherkommt – also einfach mal loslegen, pfeif auf den Überbau.
Alles in allem merkt man dem «River Café»-Buch durchaus an, dass es einige Jahre jünger ist als Hazans Sammlung. Man muss sich das so vorstellen: Hazans Kochbuch ist wie eines jener italienischen Lokale, in denen bereits die dritte Generation am Herd steht, die Servietten gestärkt sind, die Tapete abblättert und der betagte Oberkellner einen argwöhnisch beäugt. Das «River Café»-Buch hingegen erinnert an ein Abendessen auf einer frisch renovierten Terrasse mit Aussicht und hübschen jungen Kellnern. Wobei man bei beiden sehr gut isst.
Eierspeise mit militärischem Hintergrund
Also machen wir die Probe aufs Exempel: Wie bereiten Hazan und Gray/Rogers Spaghetti carbonara zu? Der Vergleich soll eine gewisse Einsicht bieten.
Hazan stellt Carbonara ins Kapitel «Saucen» und verortet die Entstehung des Gerichts ins Nachkriegs-Rom, wo amerikanische Soldaten ihren italienischen Freunden Speck und Eier brachten und sie baten, etwas daraus zu kochen. Sie verwendet Pancetta, aromatisiert das Öl, indem sie darin Knoblauch röstet, gibt etwas Weisswein hinzu und bedient sich für sechs Portionen zweier grosser Eier. Beim Käse nimmt sie Pecorino romano und Parmiggiano reggiano, je hälftig. Ausserdem gehackte Petersilie.
Das «River Café» fügt das Gericht im Kapitel «Pasta» unter «Spaghetti» ein. Gray/Rogers nehmen etwas weniger Pancetta, eine rote Zwiebel, zusätzlich etwas Butter, ebenfalls Petersilie und die gleichen Mengen derselben Käsesorten. Der grosse Unterschied liegt bei den Eiern. Hier werden nicht weniger als neun Eigelbe zugegeben. (Ich bin immer etwas ratlos, was ich in einem solchen Fall mit neun Eiweissen anstellen soll. Das gibt etwa sechs Backbleche voll mit Meringue, halleluja.)
Die besten Spaghetti carbonara meines Lebens ass ich einst in einer schäbigen Hütte am Pistenrand in Courmayeur, im Aostatal. Dort, wo Italiener auch Französisch sprechen. Die Spaghetti kamen in einer verbeulten Bratpfanne und waren göttlich. Ich habe seither versucht, sie in etwa so zuzubereiten wie die Köchin in jener heruntergekommenen Hütte.
Daher ist mein eigenes Rezept für Carbonara noch etwas simpler als diejenigen in den beiden Standardwerken. Man muss nichts abmessen, Handgelenk mal Pi reicht alleweil. Variieren ist erlaubt. Wichtig ist, dass die Zutaten gut sind. Man kann anstelle von Bratspeck auch Pancetta nehmen, ich finde aber den Speck völlig okay. Bitte keine Speckwürfel, es reicht, wenn die meisten Restaurants dazu greifen. Und unter keinen Umständen darf man für Carbonara Rahm verwenden. Derartiges gehört schwer bestraft.
Spaghetti carbonara «simpel»
Mengenangaben für eine Person, bei mehreren einfach multiplizieren.
Zutaten: 100 bis 150 g gute Spaghetti oder Spaghettoni, 50–70 g Bratspeck in Streifen, 1 frisches Bio-Ei, mind. 2 EL geriebener, gereifter Parmesan oder je 1 EL Parmesan und Pecorino (was grad da ist), frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
Einen Topf Wasser ansetzen und zum Kochen bringen.
Die Speckstreifen in kleinere Streifen schneiden und in eine heisse Bratpfanne geben. Anbraten, bis sie an den Rändern etwas knusprig sind, aber noch keine Speckchips. Pfanne vom Feuer nehmen.
Wenn das Wasser brodelt, salzen, Spaghetti reingeben und diese al dente kochen.
Derweil das ganze Ei in eine Schüssel geben und verquirlen. Die beiden geriebenen Käse dazugeben und gut vermengen.
Wenn die Spaghetti ready sind, abgiessen und noch dampfend in die Schüssel zu Ei und Käse geben. Gut vermischen und den Speck aus der Pfanne dazugeben (das ausgelaufene Fett muss nicht unbedingt mit, ein bisschen schadet aber nicht).
Pfeffern, alles gut untereinanderbringen und sofort in einem vorgewärmten Pastateller servieren. Zusätzliches Salz ist meist nicht nötig, Speck und Käse reichen hier völlig aus.
Wer Vegi will: Den Speck kann man ersetzen, etwa durch blättrig geschnittenen, leicht gesalzenen, gebratenen Knoblauch.
Wie viel Farbe im Glas darfs sein?
Weinmässig würde ich bei Weiss bleiben. Italienische Weissweine beginnen und enden leider vielerorts bei Pinot grigio aus dem Veneto. Die meisten der dafür verwendeten Trauben werden lieblos auf grossen, maschinell bearbeiteten Flächen aufgezogen. Das Resultat sind geschmacklich dünne Weine, die in Schweizer Lokalen für überrissene 7 Franken pro Deziliter im Offenausschank erhältlich sind. Das sollte man sich nun wirklich nicht antun, zumal die Pinot gris eine wunderbar aromatische Traube ist, die Grandioses hervorbringt, sofern man richtig mit ihr umgeht. Das können allerdings nur die im Südtirol, dort wird Weinbau eher wie in Österreich oder im Elsass betrieben (tatsächlich finden sich viele Parallelen zum Elsass).
Eine gute Wahl zur Carbonara wäre ein italienischer Chardonnay der besseren Sorte. Aus dem Südtirol oder etwa aus Sizilien, wo das Zeug auf vulkanischen Böden wächst. Denkbar wäre etwa auch ein spritziger Verdicchio aus den Marken. Ein Auge werfen könnte man auf Soave, einen Weisswein aus dem Veneto, der in unterschiedlichen Qualitäten auf dem Markt ist. Gereiftere Exemplare weisen in der Nase Aromen von Kamille auf. Wer sich etwas mehr zutraut und sich als Millennial versteht, könnte mit einem Orange Wine experimentieren. Vor allem in Julisch Venetien, in der Nähe von Slowenien, trenden diese Weissweine, die lange auf ihren Schalen liegen und dadurch nicht nur intensiv gefärbt sind, sondern mitunter recht funky schmecken. Selbst im Veltlin anbauende Schweizer Winzer aus Poschiavo haben bereits Vernünftiges in dieser Kategorie hervorgebracht.
«River Café – Alle Rezepte» von Rose Gray und Ruth Rogers ist dieses Jahr neu im Echtzeit-Verlag erschienen. Bereits einige Auflagen hinter sich hat im selben Verlag «Die klassische italienische Küche» von Marcella Hazan.