Ein Ausweis für die Unsichtbaren
Sie pflegen Kranke, putzen Wohnungen, arbeiten auf dem Bau: Sans-Papiers leben unter uns – und haben kaum Rechte. Ein neues Dokument könnte das ändern. Zumindest ein wenig.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Daniel Stolle (Illustration), 31.08.2021
Wir verabreden uns am späten Nachmittag im Zürcher Hauptbahnhof; beim Treffpunkt, mitten im Gewimmel von Ankommenden, Abreisenden, Flaneuren, Gestrandeten und Touristinnen. Wir kennen uns nicht, haben uns noch nie gesehen, nur kurze Whatsapp-Nachrichten ausgetauscht. Es ist ein Blind Date, sozusagen – und der Ort ist denkbar schlecht gewählt. Auf dem Bahnhofsgelände wimmelt es nur so von Polizisten; mit und ohne Uniform, staatliche und solche, die im Auftrag der Hausherrin, der Schweizerischen Bundesbahnen, für Ruhe und Ordnung sorgen.
Was für eine unsäglich dumme Idee, die Gesprächspartnerin ausgerechnet hier zu treffen. Wie gedankenlos, nicht überlegt zu haben, dass sie sich damit in Gefahr begibt. Einmal mehr.
Wie sie sich nähert und wir uns zu erkennen geben, bestätigt sie die Selbstkritik: Ja, normalerweise meide sie das Bahnhofsareal. Sie fühle sich hier nicht sicher. Wobei: Ausserhalb ihrer eigenen vier Wände gibt es für sie nirgends Sicherheit. Nicht in der Schweiz, wo sie seit bald 8 Jahren lebt und arbeitet. Wo sie ein zurückgezogenes, einsames Dasein fristet, geprägt von Arbeit, Angst und Lüge.
Sie gehört zu den mutmasslich 10’000 Sans-Papiers, die in der Stadt Zürich leben. Kantonsweit sind es vielleicht 19’000. Schweizweit schwanken die Zahlen enorm, je nachdem, wer sie erhebt: Gemäss Schätzungen des Bundes leben zwischen 58’000 und 105’000 Papierlose in der Schweiz, die Landesregierung geht davon aus, dass die Anzahl von 76’000 Sans-Papiers in der Schweiz «am wahrscheinlichsten» sei.
Die nationale Plattform zu den Sans-Papiers hingegen geht von bis zu 250’000 Betroffenen aus. Niemand weiss es genau, denn es geht um Frauen, Männer und Kinder, die gar nicht hier sein dürften, die es nicht geben sollte. Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung, keine Papiere, die ihnen den rechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz bescheinigen würden.
Es sind «Illegale».
Aber sie sind da. Für wenig Lohn und ohne Rechte putzen sie Wohnungen, sie hüten Kinder, pflegen Alte und Kranke, machen den Garten, arbeiten auf dem Bau, im Gastgewerbe oder in der Landwirtschaft.
Wer nicht pariert, wird denunziert
Sie möchte Allison genannt werden, es ist nicht ihr richtiger Name. Sie ist Mitte dreissig und kommt aus Lateinamerika: «Bitte schreib nicht, woher genau, ich darf nicht erkannt werden.» Viele Sans-Papiers-Frauen in der Schweiz und in Zürich stammen aus Lateinamerika und sind alleinerziehende Mütter. «Eigentlich bin ich ja nicht papierlos», präzisiert Allison, «ich habe den Ausweis meines Herkunftslands. Ich habe bloss keine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für die Schweiz.»
Das allerdings macht Allison hierzulande weitgehend zur Rechtlosen, und das seit bald 8 Jahren. Obwohl ihre Arbeitskraft gerne in Anspruch genommen wird. Als Schwarz- oder Grauarbeit. Von Grauarbeit ist dann die Rede, wenn die Papierlosen und ihre Arbeitgeberinnen Sozialversicherungsbeiträge zahlen, was möglich ist, ohne den Aufenthaltsstatus der Arbeitnehmerin angeben zu müssen. Steuern zu zahlen hingegen, das wird ihnen verunmöglicht.
Doch warum ist Allison in die Schweiz gereist?
Wir haben inzwischen zu Fuss die Redaktionsräume an der Langstrasse erreicht, und die Frau atmet hörbar auf. Sie fühlt sich drinnen sicherer als draussen auf der Strasse, wo sie nichts vorweisen könnte bei einer der Personenkontrollen, die es hier im Quartier dauernd gibt. Erneut keine brillante Idee, die Gesprächspartnerin in diese Gegend zu bringen.
Wäre die Situation anders, wenn wir beide eine City-Card in der Tasche hätten und der Polizei vorweisen könnten? Wenn wir als Stadtbewohnerinnen identifiziert würden, unabhängig davon, ob wir Schweizerin oder Ausländerin sind? Mit legalem oder illegalem Aufenthalt? Davon später mehr. Nun stehen zwei Tassen Kaffee vor uns, und Allison erzählt, wie alles angefangen hat, wie sie zur Sans-Papiers in der Schweiz wurde:
Ich bin mit vielen Wünschen und Träumen hierhergekommen. Die Hauptmotivation war meine damals 12-jährige Tochter. Ich hatte sehr jung geheiratet und ein Kind bekommen. Weder ich noch mein Ehemann hatte einen Job. Mein Mann emigrierte in die USA und schickte hin und wieder Geld, doch wir wussten nie, ob Geld kommen würde, und falls ja, wie viel. Er war nicht sehr verantwortungsbewusst. Ich musste arbeiten gehen, um mich und die Tochter durchzubringen. Später kam es zur Scheidung. Ich stamme aus einer armen Familie, meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mich an eine Universität zu schicken. Ich hätte gerne Medizin studiert. Ohne Ausbildung konnte ich in meiner Heimat nur putzen. Und dann bekam ich plötzlich dieses Angebot. Ich könne in die Schweiz reisen und dort für eine Familie arbeiten. Ich würde im Monat 1000 Dollar verdienen – das war viel mehr, als ich je verdient hatte. Ich schwankte zwischen grosser Freude und grosser Angst. Der Entscheid fiel mir nicht leicht.
Allison reiste mit einem Touristenvisum in die Schweiz ein, was ihr einen legalen Aufenthalt von drei Monaten ermöglichte. Arbeiten wäre ihr nicht erlaubt gewesen. Die meisten Sans-Papiers (63 Prozent) reisten als Touristinnen oder rechtswidrig ein, schreibt der Bundesrat im Dezember 2020 in seinem Bericht über die Sans-Papiers.
Die Arbeitskraft der Papierlosen wird vor allem in städtischen Gebieten nachgefragt. Dass viele von ihnen aus Lateinamerika kommen, liegt laut dem Bundesrat an den dortigen Wirtschafts- und Finanzkrisen – und daran, dass die Latinas und Latinos auf bestehende soziale Netzwerke in der Schweiz zurückgreifen können.
Genau so war es bei Allison. Ihre Mutter arbeitete in Lateinamerika bei einer Familie, die wiederum eine Familie in der Schweiz kannte, die eine Haushalthilfe suchte. Das verlockende Jobangebot in der Fremde landete bei Allison.
Die Familie versprach mir, sich um eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für mich zu bemühen. Doch das klappte nicht, als Drittstaatenangehörige hatte ich in der Schweiz keine Chance auf eine Bewilligung. Nach drei Monaten musste ich ihr Haus verlassen, nach einem neuen Job und einer neuen Wohngelegenheit suchen. Ohne die Hilfe meiner Kirche hätte ich das nicht geschafft. Doch ich wollte in der Schweiz bleiben, hier weiterarbeiten, denn in meiner Heimat wäre das Elend weitergegangen. Ich musste an meine Tochter denken. Meine Mutter unterstützte mich dabei. Wir sind sehr gläubig. Meine Mutter sagt: «Es gibt einen Grund dafür, dass dich Gott in die Schweiz geschickt hat.»
Niemand zweifelt daran, dass in der Schweiz eine Nachfrage nach der Arbeitskraft von Sans-Papiers besteht. Nach Männern und Frauen, die einen Niedriglohn und harte Arbeitsbedingungen akzeptieren, volle Flexibilität gewährleisten – und sich über Ausbeutung und Missbrauch weder beklagen noch sich dagegen wehren können. Die im Gegenteil immer mit der Bedrohung leben, denunziert zu werden, die Schweiz verlassen zu müssen. Es sind Drohungen, die sie von Arbeitgeberinnen und Lebenspartnern hören, wenn sie nicht parieren.
Angst ist ein Wort, das im Gespräch mit Allison immer wieder fällt.
Ich erlebte eine missbräuchliche Beziehung mit einem Partner. Er wurde gewalttätig und drohte mir mit dem Tod. Er wusste genau, dass ich ihm ausgeliefert war. Zum Glück erfuhr ich über die Kirche von der Zürcher Anlaufstelle für Sans-Papiers. Sie intervenierte, als es mit meinem Freund eskalierte. Allein kann ich nichts tun; nicht zur Polizei gehen, keine Anzeige erstatten, kein Bankkonto eröffnen, keine Wohnung mieten, keine Versicherungen abschliessen, keinen eingeschriebenen Brief abholen. Ich bin auf Helferinnen und Vermittler angewiesen. Es ist ein grosses Glück, dass jemand für mich ein Studio organisiert hat, dass ich seit ein paar Jahren in meinen eigenen vier Wänden wohnen kann. Vorher lebte ich bei anderen und musste dauernd umziehen. Es machte mich depressiv, wenn ich schon wieder den Koffer packen und eine neue Bleibe suchen musste.
Bea Schwager leitet die Zürcher Anlaufstelle für Sans-Papiers (Spaz), die diesen Sommer den jährlich vergebenen städtischen Gleichstellungspreis entgegennehmen konnte – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei den Papierlosen mehrheitlich um Frauen handelt.
«Es ist ein Kampf, seit es uns gibt, also seit 16 Jahren», sagt Schwager, «wir beissen auf Granit. Die Sans-Papiers leben in absoluter Prekarität, die ständige Angst macht sie krank. Auch die wenigen Rechte, die sie haben, werden ihnen oft verwehrt. Die meisten Krankenkassen stellen sich quer, eine Anmeldung klappt nur, wenn wir uns einschalten. Dass ihre Kinder die Grundschule besuchen dürfen, ist eigentlich unbestritten – doch einzelne Gemeinden oder Lehrer weigern sich, Sans-Papiers-Kinder zu unterrichten. Es ist auch schon zu Denunziationen durch die Schule gekommen.»
Nach der obligatorischen Schulzeit sieht es für die papierlosen Kinder erst recht düster aus. Manche von ihnen können keine Lehre beginnen, keine Praktika absolvieren – weil sie in einen Bereich gelangen, in dem es Arbeitsverträge und damit eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung braucht. Nur wenn sie eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, werden sie trotz fehlender Papiere für die Berufsbildung zugelassen. Sie müssen etwa nachweisen, dass sie fünf Jahre lang ohne den kleinsten Unterbruch die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben. Dann erhalten sie eine Härtefallbewilligung für eine berufliche Grundbildung. Für alle anderen bleibt Schwarzarbeit die einzige Option – das gilt auch für in der Schweiz geborene Kinder von Sans-Papiers-Eltern.
«Diese Ausgangslage war für mich ein wichtiger Grund dafür, meine Tochter nicht in die Schweiz zu holen», sagt Allison. «Sie soll eine gute Ausbildung bekommen. Und ich wollte auch nicht, dass sie mit all meinen Problemen und meiner Traurigkeit konfrontiert wird.»
Stell ja kein Härtefallgesuch
Eine ihrer ersten Klientinnen, sagt Bea Schwager von der Spaz, sei heute 76 Jahre alt. Die Frau wohne in einem Fabrikareal, allein und mit dürftiger Infrastruktur. Sie habe über 40 Jahre in der Schweiz gearbeitet und tue dies bis heute, da sie keine Altersrente beziehen könne. «Inzwischen hat sie aber nur noch wenige Jobs und kommt kaum über die Runden. Solche Fälle nehmen zu.»
Aber warum bloss ist der Status dieser 76-jährigen Frau nicht längst durch eine Härtefallbewilligung legalisiert worden? Nach 40 Jahren in der Schweiz? In denen die Frau nie Sozialhilfe bezog, weil sie dazu nicht berechtigt war?
Bea Schwager seufzt. Weder kann ihre Klientin Deutsch noch beherrscht sie eine andere Landessprache. Das sei ein Klassiker, sagt Schwager, da viele Sans-Papiers hart arbeiteten, und zwar in einem Umfeld, wo ihre Muttersprache gesprochen wird. Oder wo es keine Landessprachenkenntnisse braucht. Dazu komme die ständige Unsicherheit, ausgeschafft zu werden – alles zusammen führe dazu, dass die Papierlosen weder Zeit, Kraft, Energie noch die Motivation für Deutschkurse fänden.
Doch wer keine Landessprache beherrscht, erfüllt eine der Voraussetzungen für den Härtefall nicht. Damit ist ein Gesuch chancenlos – und gefährlich. «Wir müssen unseren Klientinnen oft davon abraten, Härtefallgesuche einzureichen», sagt Schwager. «Sie müssen im Verfahren alles offenlegen, Kontakte, Adressen, Arbeitgeber, sie müssen jedes Jahr ihres Daseins belegen und sich als Sans-Papiers outen. Wird ihr Gesuch abgewiesen, droht ihnen die Ausweisung.»
Einen Hoffnungsschimmer für minimale Verbesserung gibt es allerdings: in der Stadt Zürich wie auch in anderen Städten der Schweiz, etwa Bern, Freiburg, Lausanne, La Chaux-de-Fonds, Genf, St. Gallen, Baden, Uster oder Luzern.
Der Hoffnungsschimmer heisst: City-Card.
Eine städtische Identitätskarte
In Zürich läuft das Projekt unter dem Namen «Züri City-Card», erste politische Hürden wurden bereits überwunden. Mittels dringlicher Motion hat das Stadtparlament 2018 die Stadtregierung damit beauftragt, eine Vorlage zur Einführung einer «städtischen Identitätskarte für alle Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner» vorzulegen.
Die Exekutive hat diesen Auftrag erledigt und zwei Jahre später in einem ausführlichen Positionspapier aufgezeigt, wie eine Züri City-Card ausgestaltet werden könnte; was die Möglichkeiten und was die Grenzen sind – und vor allem: dass sie rechtens ist. Eine Stadtbehörde ist befugt, für ihre Stadtbewohnerinnen eine Karte auszustellen, die zweierlei festhält: wer der Karteninhaber ist (seine Identität) und dass er in der Stadt Zürich wohnt. Angaben zur Nationalität oder zum Aufenthaltsstatus werden keine gemacht.
An einem allfällig illegalen Aufenthalt oder einer fehlenden Arbeitsbewilligung ändert sich nichts, beides liegt in der Kompetenz von Bund und Kantonen.
Soll eine City-Card funktionieren, für Leute mit oder ohne Papiere, sind drei Voraussetzungen zentral:
Die Karte wird von möglichst vielen Menschen, also auch solchen mit legalem Status, benützt. Das Vorzeigen der City-Card soll nicht den Anschein eines illegalen Aufenthalts erwecken – sonst würde sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie soll: Stabilität und Inklusion.
Die Karte muss für alle einen Nutzen bringen. Idealerweise ersetzt sie bestehende städtische Karten wie etwa die Badi-Saisonkarte, Museums- und Bibliothekskarten sowie den digitalen Zugang zur Stadtverwaltung und zur Schule. Die City-Card könnte all diese Nutzungen vereinen und Ermässigungen oder Rabatte gewähren.
Die Karte muss von den städtischen Behörden und von privaten Anbietern (die freiwillig mitmachen) in jenen Bereichen als Identifizierung der Inhaberin anerkannt werden, in denen kein Pass und kein Ausländerausweis nötig ist und wo es auch nicht darum geht, den Aufenthaltsstatus zu kennen. Bea Schwager von der Anlaufstelle Spaz nennt als Beispiele: Covid-Impfungen oder -Tests, Vaterschaftsanerkennung, Heirat, die Registrierung einer Geburt oder das Eröffnen eines Bankkontos. Auch bei Polizeikontrollen sollte die City-Card genügen – wenn es keinen Anfangsverdacht dafür gibt, die Person könnte sich illegal in der Schweiz aufhalten.
«Die City-Card», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Peter Nideröst, «ist kein utopisches, sondern ein sehr pragmatisches Projekt. Es anerkennt die Sans-Papiers als eine faktische Grösse, als Teil der städtischen Bevölkerung.» Nideröst ist Vorstandsmitglied des Vereins Züri City Card, der das Anliegen seit 2015 vorantreibt – geduldig, hartnäckig und mit einer immer breiteren Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft.
Für Allison ist die City-Card ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung:
Aber die City-Card gibt uns noch keine Sicherheit, wir bleiben weiterhin in der Illegalität. Ich lebe im Schatten, in einer ständigen Lüge. Wenn ich gefragt werde, wie ich hierhergekommen sei und was ich hier tue, dann lüge ich. Doch ich mache es für meine Tochter, die ich seit 8 Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie hat inzwischen ein Informatikstudium aufgenommen, ich bin sehr stolz auf sie. Wegen ihres Studiums muss ich noch mehr Geld nach Hause schicken. Doch meine Tochter wird in unserer Familie den Unterschied machen. Meine Grossmutter hat in fremden Haushalten geputzt, meine Mutter putzt, und ich putze in der Schweiz. Ich schäme mich nicht dafür, denn meine Tochter wird die Erste sein, die einen Beruf ihrer Wahl ergreifen kann. Sie soll ein selbstständiges Leben führen können, auch nicht von einem Mann abhängig sein.
Hinter der City-Card, diesem kleinen Schritt mit begrenzten Möglichkeiten, steckt ein grosser Gedanke. Es ist die Idee von solidarischen Städten mit einer offenen Gesellschaft, an der alle teilhaben können. Die Anfänge machten einzelne Kommunen in den USA und in Kanada; dorthin flohen in den 1980er-Jahren zu Hunderttausenden Menschen aus lateinamerikanischen Kriegsgebieten – und die sanctuary cities unternahmen alles, damit die Geflüchteten nicht wieder ausgeschafft wurden. Auch wenn dies gegen die Intention der nationalen Politik verstiess – bis heute.
Stadtluft macht frei
Deutlich weiter zurück – ins Mittelalter – datiert das Konzept der «freien Städte» oder, anders ausgedrückt, der Rechtsgrundsatz «Stadtluft macht frei». Er bedeutete, vereinfacht gesagt, dass jene Leibeigenen, die sich vom Gutsherrn lossagten und in die Städte flüchteten, nach einem Jahr und einem Tag den Status als Unfreie verloren. Sie durften ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von den Herrschaften als ihr Eigentum zurückgefordert werden. Wurden sie aber vor Jahresfrist aufgegriffen, erlangten sie die Freiheit nicht. (Und weiss Gott, was nach der misslungenen Flucht mit ihnen geschah.)
Apropos freie und solidarische Städte: Der Schweizerische Städteverband gehört zu den Befürwortern von City-Cards. Der Winterthurer Exekutivpolitiker Nicolas Galladé hat im Juli die Position des Verbands vor Nationalräten vertreten. Nichts zu tun, erklärt SP-Mitglied Galladé, sei keine Option, weil der vollständige Ausschluss aus der Gesellschaft hohe Folgekosten verursache. Sans-Papiers seien eine Realität. Die Städte müssten einen Umgang damit finden, dazu bräuchten sie Spielraum und dürften von Bund und Kantonen nicht im Stich gelassen werden.
Die Vertreterinnen von SP, Grünen und der Alternativen Liste, die mit ihrer Motion im Zürcher Gemeinderat die Idee einer Züri City-Card vorangetrieben haben, orientieren sich am Stadtausweis von New York. Eingeführt wurde die ID NYC 2015 unter der Ägide von Bürgermeister Bill de Blasio – sie zählt heute über 3 Millionen Nutzer. Tendenz steigend.
New York kann allerdings nur bedingt zum Vorbild für Zürich genommen werden, denn die Millionenstadt am Hudson River versteht sich als eine sanctuary city. Will heissen: Sie weigert sich, mit den nationalen Immigrationsbehörden zu kooperieren, diese bei ihren Aufgaben zu unterstützen. Das ist ihr gemäss US-amerikanischem Recht erlaubt, und New York City ist nicht die einzige Kommune, die davon Gebrauch macht.
Die städtischen Behörden einer sanctuary city sind nicht verpflichtet, illegal Anwesende den übergeordneten Instanzen zu melden. Schulen, Krankenhäuser, die Polizei und andere Behörden fragen nicht nach dem Aufenthaltsstatus (don’t ask). Und falls sie von Irregularitäten erfahren sollten, berichten sie es nicht weiter (don’t tell).
Diese Ausgangslage gibt es in der Schweiz nicht.
Hier sind die Städte und Gemeinden verpflichtet, das Ausländer- und Migrationsrecht zu vollziehen, das von Bund und Kantonen vorgegeben wird. Es gilt die Beamtenpflicht, Informationen weiterzuleiten. Weder die Stadt Zürich noch die Stadt Bern oder La Chaux-de-Fonds dürfen sagen: Interessiert uns nicht, was die bundesrechtlichen Vorgaben sind, wir haben andere Auffassungen vom Zusammenleben.
«Es gibt dennoch Spielraum für die Städte», wirft Anwalt Peter Nideröst ein.
So verfüge Zürich über eine Stadtpolizei, «und diese kann verpflichtet werden, eine City-Card zur Identifizierung einer Person zu akzeptieren. Und zwar dann, wenn der Aufenthaltsstatus bei der Kontrolle keine Rolle spielt, was häufig der Fall sein dürfte. Anlasslose Personenkontrollen sind verboten. Eine ausländisch wirkende Person nur wegen ihres Aussehens zu kontrollieren, ist racial profiling. Liegt hingegen der Verdacht auf einen illegalen Aufenthalt vor, nützt die City-Card bei einer Kontrolle nichts. Dann ist die Situation die gleiche wie ohne Karte. Aber eben: Nach dem Ausländerausweis darf nur gefragt werden, wenn es einen Grund dafür gibt.»
Doch längst nicht alle Städte leisten sich eine Stadtpolizei – und die Kantonspolizei kann von der Stadtregierung nicht dazu verpflichtet werden, eine City-Card anzuerkennen. Ausser natürlich der Kanton macht mit.
«Das ist ein Nachteil für Bern», sagt die Soziologin Sarah Schilliger, die an einer Vorstudie zu einer Berner City-Card mitgearbeitet hat: «Hier wurde die Stadtpolizei schon vor vielen Jahren aufgelöst. Dafür haben wir im Gegensatz zu den meisten anderen Städten ein städtisches Migrationsamt – das der Idee einer City-Card aufgeschlossen gegenübersteht. Dies übrigens nicht zuletzt aus sicherheitspolitischen Überlegungen. So zeigt das Beispiel New York, dass sich die öffentliche Sicherheit für alle erhöht, wenn Sans-Papiers Verbrechen oder Ausbeutung angstfrei melden und als Zeugen aussagen können.»
«Wir alle sind Bern»
Auch in der Stadt Bern stellt man sich eine digitale Karte vor, die allen einen Nutzen bringen und von möglichst vielen angewendet werden soll. Das Vorhaben, sagt Schilliger, sei von Anfang an von einer breiten Koalition unterstützt worden und in der Stadtregierung auf offene Ohren gestossen. Zivilgesellschaftliche Kreise und kirchliche Netzwerke stehen hinter der City-Card und treiben das Projekt seit 2016 voran – unter dem Slogan «Wir alle sind Bern».
Die Stadtberner Regierung zieht mit und erwähnt die Einführung einer City-Card im integrationspolitischen Schwerpunkteplan für die Jahre 2018 bis 2021: «Die Stadt beteiligt sich an der Debatte um das Konzept von ‹Urban Citizenship› und ist bestrebt, eine City-Card einzuführen, um damit die Teilhabe aller Bewohnerinnen und Bewohner Berns unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu fördern.»
Und was ist bisher passiert in der Bundesstadt?
«Wir haben rasch realisiert, dass es eine Vorstudie braucht, um der Stadtregierung eine konkrete Umsetzung vorschlagen zu können», sagt Susanne Rebsamen, Leiterin der Berner Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen: «Weil Bern einem strengen Sparprogramm unterliegt, wird das nicht einfach sein. Ideal wäre es, wenn wir die City-Card mit bestehenden Angeboten verknüpfen könnten.» Das Projekt befindet sich für diese Abklärungen noch in der Verwaltung, und die Vorstudie liegt inzwischen vor. Zu den Autorinnen gehören neben der Soziologin Schilliger auch ein Jurist und eine Juristin. Ihre Untersuchung soll demnächst veröffentlicht werden.
Rebsamen und Schilliger sind zuversichtlich, dass eine City-Card von der Politik unterstützt wird. Was allerdings nicht bedeutet, dass es keinen Widerstand gibt, ob in Bern oder anderswo.
Vor allem an der Limmat ertönt der Protest immer lauter – und das hat einen Grund. Am 1. September wird das Zürcher Stadtparlament über einen Kredit von 3,2 Millionen Franken abstimmen; über die finanziellen Mittel, die für die Vorbereitungsarbeiten der Züri City-Card kalkuliert wurden. Die bürgerlichen Parteien, allen voran SVP und FDP, stellen sich landauf, landab gegen die Idee. Auch in La Chaux-de-Fonds, wo die Stadtregierung auf einen entsprechenden Vorstoss hin ebenfalls eine Vorlage ausarbeiten will.
Die Hauptargumente der Kritikerinnen lauten: Eine städtische City-Card verstosse gegen übergeordnetes Recht. Die Kommunen hätten keine Kompetenz und keinen Spielraum für einen städtischen Identitätsausweis. Das Ausländerrecht werde umgangen, indem den Sans-Papiers der Aufenthalt in der Schweiz erleichtert werde; das fördere einen jahrelangen Aufenthalt und führe so zur Erfüllung einer wichtigen Voraussetzung für die Härtefallbewilligung.
City-Cards, so die Skeptiker weiter, hätten eine Sogwirkung zur Folge und gaukelten eine falsche Sicherheit vor. Die NZZ schreibt in einem Kommentar zur Züri City-Card: Das «Einschwenken» der Stadtregierung zeige, «wie radikale und rechtlich fragwürdige Positionen in der Stadt Zürich mittlerweile salonfähig geworden sind».
Support erhalten die bürgerlichen Kritikerinnen vom Bundesrat, der in seinem Bericht über die Sans-Papiers die Idee der City-Card zwar nur oberflächlich streift – aber eindeutig nichts davon hält. Die Landesregierung schreibt: Die City-Card erwecke den Anschein einer rechtskonformen Situation. Und weiter: «Eine von einer Stadt ausgestellte Karte, die ein faktisches Aufenthaltsrecht auf dem Stadtgebiet anerkennt, würde gegen Bundesrecht verstossen.»
Wie ein Taxiausweis, ein Jagdpass oder die Schülerkarte
Die Stadt Bern sieht das anders. Sie hat im Rahmen ihrer Vorstudie abgeklärt, ob eine City-Card rechtlich zulässig wäre. Die Studienautoren, sagt Susanne Rebsamen, hätten die Frage mit Ja beantwortet: «Bern darf ein städtisches Identifikationspapier ausstellen.»
Das ist kein überraschendes Resultat, denn ein Zürcher Gutachten mit der gleichen Fragestellung liegt schon seit Monaten vor. Die beiden Expertinnen Regina Kiener (Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Zürich) und Danielle Breitenbücher (Rechtsanwältin) kommen ebenfalls zum Schluss, eine City-Card verstosse nicht gegen übergeordnetes Recht.
Die beiden Gutachterinnen halten fest:
Die City-Card macht keine Aussagen zur Nationalität oder zum ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus, sondern legt amtlich fest, wer der Karteninhaber ist – und dass er in der Stadt Zürich wohnt.
Die Städte sind befugt, solche kommunalen Ausweise auszustellen, das wird durch die Bundeskompetenz nicht ausgeschlossen.
Ähnliche Ausweise gibt es heute schon: Taxiausweise, Jagdpässe, Legitimationskarten an Unis und Hochschulen, Schülerkarten, Badikarten, Ermässigungskarten für Ortsansässige in den Skigebieten etc.
Die City-Card beeinflusst den Aufenthaltsstatus der Inhaberin nicht, sie erleichtert ihr aber den Zugang zu den Behörden sowie die Geltendmachung jener Rechte, die allen Menschen zustehen, ungeachtet ihres Aufenthaltsrechts: der Grund- und Menschenrechte.
Die City-Card hat kein ausländerrechtliches Regelungsziel; weder anerkennt sie einen illegalen Aufenthalt noch fördert sie diesen.
Bei der City-Card, sagt die Soziologin Sarah Schilliger, gehe es um eine Humanisierung des Alltags von Sans-Papiers. Und darum, dass die ausländische Stadtbevölkerung nicht mehr ständig ihren Aufenthaltsstatus oder ihre Nationalität kundtun müsse. Oder auch darum, dass trans- und intergeschlechtliche Menschen die Möglichkeit bekämen, einen offiziellen Geschlechtereintrag zu erhalten, der ihre Identität widerspiegelt.
Oder, um Hannah Arendt zu zitieren: um das grundlegendste Recht überhaupt – das Recht auf Rechte.
Was die Karte hingegen nicht einlösen kann, ist der Zugang zur Justiz. Wer ein Gericht anrufen will, ein Verfahren in Gang setzt, muss mit einem Outing als Sans-Papiers rechnen. Und damit mit der Ausweisung. Dieser Mangel wird von der Zürcher Stadtregierung als «die grösste Lücke» bezeichnet.
Allison wäre trotzdem froh, wenn sie bald eine City-Card hätte:
Als ich kürzlich im Tram sass und ein Mann kontrolliert wurde, bin ich fast gestorben vor Angst. Ich gab mir grosse Mühe, dass man mir meine Panik nicht ansieht. Auch wenn mir auf der Strasse eine Polizeipatrouille entgegenkommt, muss ich mich zusammenreissen und ruhig bleiben, obwohl ich am liebsten wegrennen würde. Das sind stressige Situationen. Ich wünsche nichts mehr, als dass ich meinen Aufenthalt in der Schweiz legalisieren könnte. Ich habe deshalb auch begonnen, Deutsch zu lernen, obwohl das schwierig ist neben meiner Arbeit. Doch ich möchte endlich wieder ein normales Leben führen können. Und meine Tochter in die Schweiz einladen. Schade, dass es in Zürich keine «Operation Papyrus» gibt.
Operation Papyrus?
Die gab es tatsächlich, in Genf, und das Pilotprojekt hatte nichts mit einer City-Card zu tun. Während einer begrenzten Periode, von Februar 2017 bis Dezember 2018, unterstützte eine Vielzahl von Organisationen die Genfer Sans-Papiers darin, ein Härtefallgesuch einzureichen. Sinn und Zweck der «Operation Papyrus» war der Kampf gegen Schwarzarbeit und Lohndumping.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) war von Anfang an mit im Boot. Denn es ist das SEM, das auf ein entsprechendes Gesuch des Kantons hin dem Härtefallgesuch zustimmt – oder es ablehnt, was von den Betroffenen vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochten werden kann.
Auch während der «Operation Papyrus» wurde jeder Einzelfall geprüft und mussten sämtliche Voraussetzungen für eine Härtefallbewilligung vorliegen. Es handelte sich nicht um eine pauschale Legalisierung oder gar um eine Amnestie, wie das oft kolportiert wird. Der Unterschied zum herkömmlichen Vorgehen war: Die Sans-Papiers wurden aktiv aufgefordert, Härtefallgesuche einzureichen, und sie wurden dabei von einer breiten Allianz unterstützt.
Aussergewöhnlich war zudem, dass sie während der Aktion Anspruch auf eine Bewilligung hatten, wenn die Kriterien erfüllt waren – dies im Unterschied zu den normalen Härtefallverfahren, bei denen gemäss Gesetzeswortlaut eine Bewilligung erteilt werden kann, aber nicht muss.
In seinem Bericht über die Situation der Sans-Papiers geht der Bundesrat detailliert auf die «Operation Papyrus» ein. 3450 Personen hätten in der besagten Periode bei den Migrationsbehörden des Kantons Genf ein Gesuch eingereicht, davon seien 97 Gesuche abgelehnt worden. Die Aktion habe weder zu einer Sogwirkung noch dazu geführt, dass die Neu-Legalisierten vermehrt staatliche Hilfe in Anspruch genommen hätten.
Der Bundesrat schreibt: «Nur zwei Personen, deren Aufenthalt im Rahmen der Operation Papyrus geregelt wurde, mussten Sozialhilfe beantragen. Der Grund dafür war, dass sie wegen Gesundheitsproblemen ihre Arbeit vorübergehend aufgeben mussten.»
Es geht auch um Würde
Trotzdem hat das Genfer Pilotprojekt bisher keine Nachahmer gefunden. Der Regierungsrat des Kantons Zürich beispielsweise hat sich zweimal dagegen ausgesprochen – positives Fazit hin oder her.
Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss war an der «Operation Papyrus» aktiv beteiligt – und hielt diesen Sommer die Laudatio, als die Zürcher Anlaufstelle für Sans-Papiers (Spaz) ausgezeichnet wurde.
«Es braucht Spatzen, die es von den Dächern pfeifen», sagte Dreifuss im ehrwürdigen Stadthaus an der Limmat. «Denn es verstösst gegen die Menschenrechte, die Arbeit der Menschen anzunehmen und sie rechtlos zu belassen. Wir bieten ihnen den Weg für eine illegale Einwanderung, für niedrig eingestufte Jobs, für Jahre der Einsamkeit und des Schuftens, in der ständigen Angst vor einer Ausweisung. Doch es geht nicht nur darum, den Sans-Papiers Rechte zuzubilligen – es geht auch um Würde.»
Allison verabschiedet sich nach einem langen Gespräch auf der Redaktion, das sie sichtlich aufgewühlt hat. Wenn sie von ihrer Tochter erzählt, ein Bild von ihr auf dem Handy zeigt, kommen ihr die Tränen. Es ist Abend geworden, und gemeinsam gehen wir zur nächsten Bushaltestelle, schauen beide nach links und rechts, ob auch keine Polizeipatrouille im Anmarsch ist. Ob die Stadtluft rein ist. Rein und frei.
Ein letztes Winken, dann fährt sie davon.