«Als ich kürzlich im Tram sass und ein Mann kontrolliert wurde, bin ich fast gestorben vor Angst»: Sans-Papiers riskieren täglich, festgenommen zu werden.

Ein Ausweis für die Unsichtbaren

Sie pflegen Kranke, putzen Wohnungen, arbeiten auf dem Bau: Sans-Papiers leben unter uns – und haben kaum Rechte. Ein neues Dokument könnte das ändern. Zumindest ein wenig.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Daniel Stolle (Illustration), 31.08.2021

Wir verabreden uns am späten Nachmittag im Zürcher Haupt­bahnhof; beim Treff­punkt, mitten im Gewimmel von Ankommenden, Abreisenden, Flaneuren, Gestrandeten und Touristinnen. Wir kennen uns nicht, haben uns noch nie gesehen, nur kurze Whatsapp-Nachrichten ausgetauscht. Es ist ein Blind Date, sozusagen – und der Ort ist denkbar schlecht gewählt. Auf dem Bahnhofs­gelände wimmelt es nur so von Polizisten; mit und ohne Uniform, staatliche und solche, die im Auftrag der Haus­herrin, der Schweizerischen Bundes­bahnen, für Ruhe und Ordnung sorgen.

Was für eine unsäglich dumme Idee, die Gesprächs­partnerin ausgerechnet hier zu treffen. Wie gedankenlos, nicht überlegt zu haben, dass sie sich damit in Gefahr begibt. Einmal mehr.

Wie sie sich nähert und wir uns zu erkennen geben, bestätigt sie die Selbst­kritik: Ja, normaler­weise meide sie das Bahnhofs­areal. Sie fühle sich hier nicht sicher. Wobei: Ausserhalb ihrer eigenen vier Wände gibt es für sie nirgends Sicherheit. Nicht in der Schweiz, wo sie seit bald 8 Jahren lebt und arbeitet. Wo sie ein zurück­gezogenes, einsames Dasein fristet, geprägt von Arbeit, Angst und Lüge.

Sie gehört zu den mutmasslich 10’000 Sans-Papiers, die in der Stadt Zürich leben. Kantons­weit sind es vielleicht 19’000. Schweiz­weit schwanken die Zahlen enorm, je nachdem, wer sie erhebt: Gemäss Schätzungen des Bundes leben zwischen 58’000 und 105’000 Papierlose in der Schweiz, die Landes­regierung geht davon aus, dass die Anzahl von 76’000 Sans-Papiers in der Schweiz «am wahr­scheinlichsten» sei.

Die nationale Plattform zu den Sans-Papiers hingegen geht von bis zu 250’000 Betroffenen aus. Niemand weiss es genau, denn es geht um Frauen, Männer und Kinder, die gar nicht hier sein dürften, die es nicht geben sollte. Sie haben keine Aufenthalts­bewilligung, keine Papiere, die ihnen den recht­mässigen Aufenthalt in der Schweiz bescheinigen würden.

Es sind «Illegale».

Aber sie sind da. Für wenig Lohn und ohne Rechte putzen sie Wohnungen, sie hüten Kinder, pflegen Alte und Kranke, machen den Garten, arbeiten auf dem Bau, im Gast­gewerbe oder in der Land­wirtschaft.

Wer nicht pariert, wird denunziert

Sie möchte Allison genannt werden, es ist nicht ihr richtiger Name. Sie ist Mitte dreissig und kommt aus Latein­amerika: «Bitte schreib nicht, woher genau, ich darf nicht erkannt werden.» Viele Sans-Papiers-Frauen in der Schweiz und in Zürich stammen aus Latein­amerika und sind allein­erziehende Mütter. «Eigentlich bin ich ja nicht papierlos», präzisiert Allison, «ich habe den Ausweis meines Herkunfts­lands. Ich habe bloss keine Aufenthalts- und Arbeits­bewilligung für die Schweiz.»

Das allerdings macht Allison hierzulande weitgehend zur Recht­losen, und das seit bald 8 Jahren. Obwohl ihre Arbeits­kraft gerne in Anspruch genommen wird. Als Schwarz- oder Grauarbeit. Von Grauarbeit ist dann die Rede, wenn die Papier­losen und ihre Arbeit­geberinnen Sozial­versicherungs­beiträge zahlen, was möglich ist, ohne den Aufenthalts­status der Arbeit­nehmerin angeben zu müssen. Steuern zu zahlen hingegen, das wird ihnen verunmöglicht.

Doch warum ist Allison in die Schweiz gereist?

Wir haben inzwischen zu Fuss die Redaktions­räume an der Lang­strasse erreicht, und die Frau atmet hörbar auf. Sie fühlt sich drinnen sicherer als draussen auf der Strasse, wo sie nichts vorweisen könnte bei einer der Personen­kontrollen, die es hier im Quartier dauernd gibt. Erneut keine brillante Idee, die Gesprächs­partnerin in diese Gegend zu bringen.

Wäre die Situation anders, wenn wir beide eine City-Card in der Tasche hätten und der Polizei vorweisen könnten? Wenn wir als Stadt­bewohnerinnen identifiziert würden, unabhängig davon, ob wir Schweizerin oder Ausländerin sind? Mit legalem oder illegalem Aufenthalt? Davon später mehr. Nun stehen zwei Tassen Kaffee vor uns, und Allison erzählt, wie alles angefangen hat, wie sie zur Sans-Papiers in der Schweiz wurde:

Ich bin mit vielen Wünschen und Träumen hierher­gekommen. Die Haupt­motivation war meine damals 12-jährige Tochter. Ich hatte sehr jung geheiratet und ein Kind bekommen. Weder ich noch mein Ehemann hatte einen Job. Mein Mann emigrierte in die USA und schickte hin und wieder Geld, doch wir wussten nie, ob Geld kommen würde, und falls ja, wie viel. Er war nicht sehr verantwortungs­bewusst. Ich musste arbeiten gehen, um mich und die Tochter durch­zubringen. Später kam es zur Scheidung. Ich stamme aus einer armen Familie, meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mich an eine Universität zu schicken. Ich hätte gerne Medizin studiert. Ohne Ausbildung konnte ich in meiner Heimat nur putzen. Und dann bekam ich plötzlich dieses Angebot. Ich könne in die Schweiz reisen und dort für eine Familie arbeiten. Ich würde im Monat 1000 Dollar verdienen – das war viel mehr, als ich je verdient hatte. Ich schwankte zwischen grosser Freude und grosser Angst. Der Entscheid fiel mir nicht leicht.

Allison reiste mit einem Touristen­visum in die Schweiz ein, was ihr einen legalen Aufenthalt von drei Monaten ermöglichte. Arbeiten wäre ihr nicht erlaubt gewesen. Die meisten Sans-Papiers (63 Prozent) reisten als Touristinnen oder rechts­widrig ein, schreibt der Bundesrat im Dezember 2020 in seinem Bericht über die Sans-Papiers.

Die Arbeitskraft der Papierlosen wird vor allem in städtischen Gebieten nachgefragt. Dass viele von ihnen aus Latein­amerika kommen, liegt laut dem Bundesrat an den dortigen Wirtschafts- und Finanz­krisen – und daran, dass die Latinas und Latinos auf bestehende soziale Netzwerke in der Schweiz zurück­greifen können.

Genau so war es bei Allison. Ihre Mutter arbeitete in Latein­amerika bei einer Familie, die wiederum eine Familie in der Schweiz kannte, die eine Haushalt­hilfe suchte. Das verlockende Job­angebot in der Fremde landete bei Allison.

Die Familie versprach mir, sich um eine Aufenthalts- und Arbeits­bewilligung für mich zu bemühen. Doch das klappte nicht, als Drittstaaten­angehörige hatte ich in der Schweiz keine Chance auf eine Bewilligung. Nach drei Monaten musste ich ihr Haus verlassen, nach einem neuen Job und einer neuen Wohn­gelegenheit suchen. Ohne die Hilfe meiner Kirche hätte ich das nicht geschafft. Doch ich wollte in der Schweiz bleiben, hier weiter­arbeiten, denn in meiner Heimat wäre das Elend weiter­gegangen. Ich musste an meine Tochter denken. Meine Mutter unterstützte mich dabei. Wir sind sehr gläubig. Meine Mutter sagt: «Es gibt einen Grund dafür, dass dich Gott in die Schweiz geschickt hat.»

Niemand zweifelt daran, dass in der Schweiz eine Nachfrage nach der Arbeits­kraft von Sans-Papiers besteht. Nach Männern und Frauen, die einen Niedrig­lohn und harte Arbeits­bedingungen akzeptieren, volle Flexibilität gewähr­leisten – und sich über Ausbeutung und Missbrauch weder beklagen noch sich dagegen wehren können. Die im Gegenteil immer mit der Bedrohung leben, denunziert zu werden, die Schweiz verlassen zu müssen. Es sind Drohungen, die sie von Arbeit­geberinnen und Lebens­partnern hören, wenn sie nicht parieren.

Angst ist ein Wort, das im Gespräch mit Allison immer wieder fällt.

Ich erlebte eine missbräuchliche Beziehung mit einem Partner. Er wurde gewalt­tätig und drohte mir mit dem Tod. Er wusste genau, dass ich ihm ausgeliefert war. Zum Glück erfuhr ich über die Kirche von der Zürcher Anlauf­stelle für Sans-Papiers. Sie intervenierte, als es mit meinem Freund eskalierte. Allein kann ich nichts tun; nicht zur Polizei gehen, keine Anzeige erstatten, kein Bank­konto eröffnen, keine Wohnung mieten, keine Versicherungen abschliessen, keinen eingeschriebenen Brief abholen. Ich bin auf Helferinnen und Vermittler angewiesen. Es ist ein grosses Glück, dass jemand für mich ein Studio organisiert hat, dass ich seit ein paar Jahren in meinen eigenen vier Wänden wohnen kann. Vorher lebte ich bei anderen und musste dauernd umziehen. Es machte mich depressiv, wenn ich schon wieder den Koffer packen und eine neue Bleibe suchen musste.

Bea Schwager leitet die Zürcher Anlauf­­stelle für Sans-Papiers (Spaz), die diesen Sommer den jährlich vergebenen städtischen Gleichstellungs­­preis entgegen­nehmen konnte – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei den Papier­losen mehrheitlich um Frauen handelt.

«Es ist ein Kampf, seit es uns gibt, also seit 16 Jahren», sagt Schwager, «wir beissen auf Granit. Die Sans-Papiers leben in absoluter Prekarität, die ständige Angst macht sie krank. Auch die wenigen Rechte, die sie haben, werden ihnen oft verwehrt. Die meisten Kranken­kassen stellen sich quer, eine Anmeldung klappt nur, wenn wir uns einschalten. Dass ihre Kinder die Grund­schule besuchen dürfen, ist eigentlich unbestritten – doch einzelne Gemeinden oder Lehrer weigern sich, Sans-Papiers-Kinder zu unterrichten. Es ist auch schon zu Denunziationen durch die Schule gekommen.»

Nach der obligatorischen Schulzeit sieht es für die papierlosen Kinder erst recht düster aus. Manche von ihnen können keine Lehre beginnen, keine Praktika absolvieren – weil sie in einen Bereich gelangen, in dem es Arbeits­verträge und damit eine Aufenthalts- und Arbeits­bewilligung braucht. Nur wenn sie eine Reihe von Voraus­setzungen erfüllen, werden sie trotz fehlender Papiere für die Berufs­bildung zugelassen. Sie müssen etwa nachweisen, dass sie fünf Jahre lang ohne den kleinsten Unter­bruch die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben. Dann erhalten sie eine Härtefall­­bewilligung für eine berufliche Grund­­bildung. Für alle anderen bleibt Schwarz­arbeit die einzige Option – das gilt auch für in der Schweiz geborene Kinder von Sans-Papiers-Eltern.

«Diese Ausgangs­lage war für mich ein wichtiger Grund dafür, meine Tochter nicht in die Schweiz zu holen», sagt Allison. «Sie soll eine gute Ausbildung bekommen. Und ich wollte auch nicht, dass sie mit all meinen Problemen und meiner Traurigkeit konfrontiert wird.»

Stell ja kein Härtefall­gesuch

Eine ihrer ersten Klientinnen, sagt Bea Schwager von der Spaz, sei heute 76 Jahre alt. Die Frau wohne in einem Fabrik­areal, allein und mit dürftiger Infra­struktur. Sie habe über 40 Jahre in der Schweiz gearbeitet und tue dies bis heute, da sie keine Alters­rente beziehen könne. «Inzwischen hat sie aber nur noch wenige Jobs und kommt kaum über die Runden. Solche Fälle nehmen zu.»

Aber warum bloss ist der Status dieser 76-jährigen Frau nicht längst durch eine Härtefall­­bewilligung legalisiert worden? Nach 40 Jahren in der Schweiz? In denen die Frau nie Sozial­hilfe bezog, weil sie dazu nicht berechtigt war?

Bea Schwager seufzt. Weder kann ihre Klientin Deutsch noch beherrscht sie eine andere Landes­sprache. Das sei ein Klassiker, sagt Schwager, da viele Sans-Papiers hart arbeiteten, und zwar in einem Umfeld, wo ihre Mutter­sprache gesprochen wird. Oder wo es keine Landes­sprachen­kenntnisse braucht. Dazu komme die ständige Unsicherheit, ausgeschafft zu werden – alles zusammen führe dazu, dass die Papier­losen weder Zeit, Kraft, Energie noch die Motivation für Deutsch­kurse fänden.

Doch wer keine Landessprache beherrscht, erfüllt eine der Voraussetzungen für den Härte­fall nicht. Damit ist ein Gesuch chancenlos – und gefährlich. «Wir müssen unseren Klientinnen oft davon abraten, Härtefall­gesuche einzureichen», sagt Schwager. «Sie müssen im Verfahren alles offenlegen, Kontakte, Adressen, Arbeit­geber, sie müssen jedes Jahr ihres Daseins belegen und sich als Sans-Papiers outen. Wird ihr Gesuch abgewiesen, droht ihnen die Ausweisung.»

Einen Hoffnungs­schimmer für minimale Verbesserung gibt es allerdings: in der Stadt Zürich wie auch in anderen Städten der Schweiz, etwa Bern, Freiburg, Lausanne, La Chaux-de-Fonds, Genf, St. Gallen, Baden, Uster oder Luzern.

Der Hoffnungs­schimmer heisst: City-Card.

Eine städtische Identitäts­karte

In Zürich läuft das Projekt unter dem Namen «Züri City-Card», erste politische Hürden wurden bereits überwunden. Mittels dringlicher Motion hat das Stadt­parlament 2018 die Stadt­regierung damit beauftragt, eine Vorlage zur Einführung einer «städtischen Identitäts­karte für alle Stadt­bewohnerinnen und Stadt­bewohner» vorzulegen.

Die Exekutive hat diesen Auftrag erledigt und zwei Jahre später in einem ausführlichen Positions­­papier aufgezeigt, wie eine Züri City-Card ausgestaltet werden könnte; was die Möglichkeiten und was die Grenzen sind – und vor allem: dass sie rechtens ist. Eine Stadt­behörde ist befugt, für ihre Stadt­bewohnerinnen eine Karte auszustellen, die zweierlei festhält: wer der Karten­inhaber ist (seine Identität) und dass er in der Stadt Zürich wohnt. Angaben zur Nationalität oder zum Aufenthalts­status werden keine gemacht.

An einem allfällig illegalen Aufenthalt oder einer fehlenden Arbeits­bewilligung ändert sich nichts, beides liegt in der Kompetenz von Bund und Kantonen.

Soll eine City-Card funktionieren, für Leute mit oder ohne Papiere, sind drei Voraus­setzungen zentral:

  1. Die Karte wird von möglichst vielen Menschen, also auch solchen mit legalem Status, benützt. Das Vorzeigen der City-Card soll nicht den Anschein eines illegalen Aufenthalts erwecken – sonst würde sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie soll: Stabilität und Inklusion.

  2. Die Karte muss für alle einen Nutzen bringen. Idealer­weise ersetzt sie bestehende städtische Karten wie etwa die Badi-Saison­karte, Museums- und Bibliotheks­karten sowie den digitalen Zugang zur Stadt­verwaltung und zur Schule. Die City-Card könnte all diese Nutzungen vereinen und Ermässigungen oder Rabatte gewähren.

  3. Die Karte muss von den städtischen Behörden und von privaten Anbietern (die freiwillig mitmachen) in jenen Bereichen als Identifizierung der Inhaberin anerkannt werden, in denen kein Pass und kein Ausländer­ausweis nötig ist und wo es auch nicht darum geht, den Aufenthalts­status zu kennen. Bea Schwager von der Anlauf­stelle Spaz nennt als Beispiele: Covid-Impfungen oder -Tests, Vaterschafts­anerkennung, Heirat, die Registrierung einer Geburt oder das Eröffnen eines Bank­kontos. Auch bei Polizei­kontrollen sollte die City-Card genügen – wenn es keinen Anfangs­verdacht dafür gibt, die Person könnte sich illegal in der Schweiz aufhalten.

«Die City-Card», sagt der Zürcher Rechts­anwalt Peter Nideröst, «ist kein utopisches, sondern ein sehr pragmatisches Projekt. Es anerkennt die Sans-Papiers als eine faktische Grösse, als Teil der städtischen Bevölkerung.» Nideröst ist Vorstands­mitglied des Vereins Züri City Card, der das Anliegen seit 2015 voran­treibt – geduldig, hartnäckig und mit einer immer breiteren Unter­stützung aus der Zivil­gesellschaft und der Privatwirtschaft.

Für Allison ist die City-Card ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung:

Aber die City-Card gibt uns noch keine Sicherheit, wir bleiben weiterhin in der Illegalität. Ich lebe im Schatten, in einer ständigen Lüge. Wenn ich gefragt werde, wie ich hierhergekommen sei und was ich hier tue, dann lüge ich. Doch ich mache es für meine Tochter, die ich seit 8 Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie hat inzwischen ein Informatik­studium aufgenommen, ich bin sehr stolz auf sie. Wegen ihres Studiums muss ich noch mehr Geld nach Hause schicken. Doch meine Tochter wird in unserer Familie den Unterschied machen. Meine Grossmutter hat in fremden Haus­halten geputzt, meine Mutter putzt, und ich putze in der Schweiz. Ich schäme mich nicht dafür, denn meine Tochter wird die Erste sein, die einen Beruf ihrer Wahl ergreifen kann. Sie soll ein selbst­ständiges Leben führen können, auch nicht von einem Mann abhängig sein.

Hinter der City-Card, diesem kleinen Schritt mit begrenzten Möglichkeiten, steckt ein grosser Gedanke. Es ist die Idee von solidarischen Städten mit einer offenen Gesellschaft, an der alle teilhaben können. Die Anfänge machten einzelne Kommunen in den USA und in Kanada; dorthin flohen in den 1980er-Jahren zu Hundert­tausenden Menschen aus latein­amerikanischen Kriegs­gebieten – und die sanctuary cities unternahmen alles, damit die Geflüchteten nicht wieder ausgeschafft wurden. Auch wenn dies gegen die Intention der nationalen Politik verstiess – bis heute.

Stadtluft macht frei

Deutlich weiter zurück – ins Mittel­alter – datiert das Konzept der «freien Städte» oder, anders ausgedrückt, der Rechts­grundsatz «Stadtluft macht frei». Er bedeutete, vereinfacht gesagt, dass jene Leib­eigenen, die sich vom Gutsherrn lossagten und in die Städte flüchteten, nach einem Jahr und einem Tag den Status als Unfreie verloren. Sie durften ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von den Herrschaften als ihr Eigentum zurück­gefordert werden. Wurden sie aber vor Jahres­frist aufgegriffen, erlangten sie die Freiheit nicht. (Und weiss Gott, was nach der misslungenen Flucht mit ihnen geschah.)

Apropos freie und solidarische Städte: Der Schweizerische Städte­­verband gehört zu den Befür­wortern von City-Cards. Der Winterthurer Exekutiv­politiker Nicolas Galladé hat im Juli die Position des Verbands vor National­räten vertreten. Nichts zu tun, erklärt SP-Mitglied Galladé, sei keine Option, weil der vollständige Ausschluss aus der Gesellschaft hohe Folge­kosten verursache. Sans-Papiers seien eine Realität. Die Städte müssten einen Umgang damit finden, dazu bräuchten sie Spielraum und dürften von Bund und Kantonen nicht im Stich gelassen werden.

Die Vertreterinnen von SP, Grünen und der Alternativen Liste, die mit ihrer Motion im Zürcher Gemeinde­rat die Idee einer Züri City-Card voran­getrieben haben, orientieren sich am Stadt­ausweis von New York. Eingeführt wurde die ID NYC 2015 unter der Ägide von Bürger­meister Bill de Blasio – sie zählt heute über 3 Millionen Nutzer. Tendenz steigend.

New York kann allerdings nur bedingt zum Vorbild für Zürich genommen werden, denn die Millionen­stadt am Hudson River versteht sich als eine sanctuary city. Will heissen: Sie weigert sich, mit den nationalen Immigrations­behörden zu kooperieren, diese bei ihren Aufgaben zu unter­stützen. Das ist ihr gemäss US-amerikanischem Recht erlaubt, und New York City ist nicht die einzige Kommune, die davon Gebrauch macht.

Die städtischen Behörden einer sanctuary city sind nicht verpflichtet, illegal Anwesende den über­geordneten Instanzen zu melden. Schulen, Kranken­häuser, die Polizei und andere Behörden fragen nicht nach dem Aufenthalts­status (don’t ask). Und falls sie von Irregularitäten erfahren sollten, berichten sie es nicht weiter (don’t tell).

Diese Ausgangs­lage gibt es in der Schweiz nicht.

Hier sind die Städte und Gemeinden verpflichtet, das Ausländer- und Migrations­recht zu vollziehen, das von Bund und Kantonen vorgegeben wird. Es gilt die Beamten­pflicht, Informationen weiter­zuleiten. Weder die Stadt Zürich noch die Stadt Bern oder La Chaux-de-Fonds dürfen sagen: Interessiert uns nicht, was die bundes­rechtlichen Vorgaben sind, wir haben andere Auffassungen vom Zusammen­leben.

«Es gibt dennoch Spiel­raum für die Städte», wirft Anwalt Peter Nideröst ein.

So verfüge Zürich über eine Stadt­polizei, «und diese kann verpflichtet werden, eine City-Card zur Identifizierung einer Person zu akzeptieren. Und zwar dann, wenn der Aufenthalts­status bei der Kontrolle keine Rolle spielt, was häufig der Fall sein dürfte. Anlasslose Personen­kontrollen sind verboten. Eine ausländisch wirkende Person nur wegen ihres Aussehens zu kontrollieren, ist racial profiling. Liegt hingegen der Verdacht auf einen illegalen Aufenthalt vor, nützt die City-Card bei einer Kontrolle nichts. Dann ist die Situation die gleiche wie ohne Karte. Aber eben: Nach dem Ausländer­ausweis darf nur gefragt werden, wenn es einen Grund dafür gibt.»

Doch längst nicht alle Städte leisten sich eine Stadt­polizei – und die Kantons­polizei kann von der Stadt­regierung nicht dazu verpflichtet werden, eine City-Card anzuerkennen. Ausser natürlich der Kanton macht mit.

«Das ist ein Nachteil für Bern», sagt die Soziologin Sarah Schilliger, die an einer Vorstudie zu einer Berner City-Card mitgearbeitet hat: «Hier wurde die Stadt­polizei schon vor vielen Jahren aufgelöst. Dafür haben wir im Gegen­satz zu den meisten anderen Städten ein städtisches Migrations­amt – das der Idee einer City-Card aufgeschlossen gegenüber­steht. Dies übrigens nicht zuletzt aus sicherheits­politischen Über­legungen. So zeigt das Beispiel New York, dass sich die öffentliche Sicherheit für alle erhöht, wenn Sans-Papiers Verbrechen oder Ausbeutung angstfrei melden und als Zeugen aussagen können.»

«Wir alle sind Bern»

Auch in der Stadt Bern stellt man sich eine digitale Karte vor, die allen einen Nutzen bringen und von möglichst vielen angewendet werden soll. Das Vorhaben, sagt Schilliger, sei von Anfang an von einer breiten Koalition unterstützt worden und in der Stadt­regierung auf offene Ohren gestossen. Zivil­gesellschaftliche Kreise und kirchliche Netz­werke stehen hinter der City-Card und treiben das Projekt seit 2016 voran – unter dem Slogan «Wir alle sind Bern».

Die Stadtberner Regierung zieht mit und erwähnt die Einführung einer City-Card im integrations­­politischen Schwerpunkte­­­plan für die Jahre 2018 bis 2021: «Die Stadt beteiligt sich an der Debatte um das Konzept von ‹Urban Citizenship› und ist bestrebt, eine City-Card einzuführen, um damit die Teilhabe aller Bewohnerinnen und Bewohner Berns unabhängig von ihrem Aufenthalts­status zu fördern.»

Und was ist bisher passiert in der Bundesstadt?

«Wir haben rasch realisiert, dass es eine Vorstudie braucht, um der Stadt­regierung eine konkrete Umsetzung vorschlagen zu können», sagt Susanne Rebsamen, Leiterin der Berner Fach­stelle für Migrations- und Rassismus­fragen: «Weil Bern einem strengen Spar­programm unterliegt, wird das nicht einfach sein. Ideal wäre es, wenn wir die City-Card mit bestehenden Angeboten verknüpfen könnten.» Das Projekt befindet sich für diese Abklärungen noch in der Verwaltung, und die Vorstudie liegt inzwischen vor. Zu den Autorinnen gehören neben der Soziologin Schilliger auch ein Jurist und eine Juristin. Ihre Unter­suchung soll demnächst veröffentlicht werden.

Rebsamen und Schilliger sind zuversichtlich, dass eine City-Card von der Politik unterstützt wird. Was allerdings nicht bedeutet, dass es keinen Wider­stand gibt, ob in Bern oder anderswo.

Vor allem an der Limmat ertönt der Protest immer lauter – und das hat einen Grund. Am 1. September wird das Zürcher Stadt­parlament über einen Kredit von 3,2 Millionen Franken abstimmen; über die finanziellen Mittel, die für die Vorbereitungs­arbeiten der Züri City-Card kalkuliert wurden. Die bürgerlichen Parteien, allen voran SVP und FDP, stellen sich landauf, landab gegen die Idee. Auch in La Chaux-de-Fonds, wo die Stadt­regierung auf einen entsprechenden Vorstoss hin ebenfalls eine Vorlage ausarbeiten will.

Die Hauptargumente der Kritikerinnen lauten: Eine städtische City-Card verstosse gegen über­geordnetes Recht. Die Kommunen hätten keine Kompetenz und keinen Spiel­raum für einen städtischen Identitäts­ausweis. Das Ausländer­recht werde umgangen, indem den Sans-Papiers der Aufenthalt in der Schweiz erleichtert werde; das fördere einen jahre­langen Aufenthalt und führe so zur Erfüllung einer wichtigen Voraus­setzung für die Härtefall­bewilligung.

City-Cards, so die Skeptiker weiter, hätten eine Sogwirkung zur Folge und gaukelten eine falsche Sicherheit vor. Die NZZ schreibt in einem Kommentar zur Züri City-Card: Das «Einschwenken» der Stadt­regierung zeige, «wie radikale und rechtlich fragwürdige Positionen in der Stadt Zürich mittler­weile salon­fähig geworden sind».

Support erhalten die bürgerlichen Kritikerinnen vom Bundesrat, der in seinem Bericht über die Sans-Papiers die Idee der City-Card zwar nur oberflächlich streift – aber eindeutig nichts davon hält. Die Landes­regierung schreibt: Die City-Card erwecke den Anschein einer rechts­konformen Situation. Und weiter: «Eine von einer Stadt ausgestellte Karte, die ein faktisches Aufenthalts­recht auf dem Stadt­gebiet anerkennt, würde gegen Bundes­recht verstossen.»

Wie ein Taxi­ausweis, ein Jagd­pass oder die Schüler­karte

Die Stadt Bern sieht das anders. Sie hat im Rahmen ihrer Vorstudie abgeklärt, ob eine City-Card rechtlich zulässig wäre. Die Studien­autoren, sagt Susanne Rebsamen, hätten die Frage mit Ja beantwortet: «Bern darf ein städtisches Identifikations­papier ausstellen.»

Das ist kein überraschendes Resultat, denn ein Zürcher Gutachten mit der gleichen Frage­stellung liegt schon seit Monaten vor. Die beiden Expertinnen Regina Kiener (Professorin für Staats- und Verwaltungs­recht an der Uni Zürich) und Danielle Breiten­bücher (Rechts­anwältin) kommen ebenfalls zum Schluss, eine City-Card verstosse nicht gegen über­geordnetes Recht.

Die beiden Gutachterinnen halten fest:

  • Die City-Card macht keine Aussagen zur Nationalität oder zum ausländer­rechtlichen Aufenthalts­status, sondern legt amtlich fest, wer der Karten­inhaber ist – und dass er in der Stadt Zürich wohnt.

  • Die Städte sind befugt, solche kommunalen Ausweise auszustellen, das wird durch die Bundes­kompetenz nicht ausgeschlossen.

  • Ähnliche Ausweise gibt es heute schon: Taxi­ausweise, Jagd­pässe, Legitimations­karten an Unis und Hoch­schulen, Schüler­karten, Badikarten, Ermässigungs­karten für Orts­ansässige in den Skigebieten etc.

  • Die City-Card beeinflusst den Aufenthalts­status der Inhaberin nicht, sie erleichtert ihr aber den Zugang zu den Behörden sowie die Geltend­machung jener Rechte, die allen Menschen zustehen, ungeachtet ihres Aufenthalts­rechts: der Grund- und Menschen­rechte.

  • Die City-Card hat kein ausländer­rechtliches Regelungs­ziel; weder anerkennt sie einen illegalen Aufenthalt noch fördert sie diesen.

Bei der City-Card, sagt die Soziologin Sarah Schilliger, gehe es um eine Humanisierung des Alltags von Sans-Papiers. Und darum, dass die ausländische Stadt­bevölkerung nicht mehr ständig ihren Aufenthalts­status oder ihre Nationalität kundtun müsse. Oder auch darum, dass trans- und inter­geschlechtliche Menschen die Möglichkeit bekämen, einen offiziellen Geschlechter­eintrag zu erhalten, der ihre Identität widerspiegelt.

Oder, um Hannah Arendt zu zitieren: um das grund­legendste Recht überhaupt – das Recht auf Rechte.

Was die Karte hingegen nicht einlösen kann, ist der Zugang zur Justiz. Wer ein Gericht anrufen will, ein Verfahren in Gang setzt, muss mit einem Outing als Sans-Papiers rechnen. Und damit mit der Ausweisung. Dieser Mangel wird von der Zürcher Stadt­regierung als «die grösste Lücke» bezeichnet.

Allison wäre trotzdem froh, wenn sie bald eine City-Card hätte:

Als ich kürzlich im Tram sass und ein Mann kontrolliert wurde, bin ich fast gestorben vor Angst. Ich gab mir grosse Mühe, dass man mir meine Panik nicht ansieht. Auch wenn mir auf der Strasse eine Polizei­patrouille entgegen­kommt, muss ich mich zusammen­reissen und ruhig bleiben, obwohl ich am liebsten wegrennen würde. Das sind stressige Situationen. Ich wünsche nichts mehr, als dass ich meinen Aufenthalt in der Schweiz legalisieren könnte. Ich habe deshalb auch begonnen, Deutsch zu lernen, obwohl das schwierig ist neben meiner Arbeit. Doch ich möchte endlich wieder ein normales Leben führen können. Und meine Tochter in die Schweiz einladen. Schade, dass es in Zürich keine «Operation Papyrus» gibt.

Operation Papyrus?

Die gab es tatsächlich, in Genf, und das Pilot­projekt hatte nichts mit einer City-Card zu tun. Während einer begrenzten Periode, von Februar 2017 bis Dezember 2018, unterstützte eine Vielzahl von Organisationen die Genfer Sans-Papiers darin, ein Härtefall­gesuch einzureichen. Sinn und Zweck der «Operation Papyrus» war der Kampf gegen Schwarz­arbeit und Lohn­dumping.

Das Staats­sekretariat für Migration (SEM) war von Anfang an mit im Boot. Denn es ist das SEM, das auf ein entsprechendes Gesuch des Kantons hin dem Härtefall­gesuch zustimmt – oder es ablehnt, was von den Betroffenen vor dem Bundes­verwaltungs­gericht angefochten werden kann.

Auch während der «Operation Papyrus» wurde jeder Einzel­fall geprüft und mussten sämtliche Voraussetzungen für eine Härtefall­bewilligung vorliegen. Es handelte sich nicht um eine pauschale Legalisierung oder gar um eine Amnestie, wie das oft kolportiert wird. Der Unter­schied zum herkömmlichen Vorgehen war: Die Sans-Papiers wurden aktiv aufgefordert, Härtefall­gesuche einzureichen, und sie wurden dabei von einer breiten Allianz unterstützt.

Aussergewöhnlich war zudem, dass sie während der Aktion Anspruch auf eine Bewilligung hatten, wenn die Kriterien erfüllt waren – dies im Unter­schied zu den normalen Härtefall­verfahren, bei denen gemäss Gesetzes­wortlaut eine Bewilligung erteilt werden kann, aber nicht muss.

In seinem Bericht über die Situation der Sans-Papiers geht der Bundesrat detailliert auf die «Operation Papyrus» ein. 3450 Personen hätten in der besagten Periode bei den Migrations­behörden des Kantons Genf ein Gesuch eingereicht, davon seien 97 Gesuche abgelehnt worden. Die Aktion habe weder zu einer Sogwirkung noch dazu geführt, dass die Neu-Legalisierten vermehrt staatliche Hilfe in Anspruch genommen hätten.

Der Bundesrat schreibt: «Nur zwei Personen, deren Aufenthalt im Rahmen der Operation Papyrus geregelt wurde, mussten Sozial­hilfe beantragen. Der Grund dafür war, dass sie wegen Gesundheits­problemen ihre Arbeit vorüber­gehend aufgeben mussten.»

Es geht auch um Würde

Trotzdem hat das Genfer Pilot­projekt bisher keine Nachahmer gefunden. Der Regierungs­rat des Kantons Zürich beispiels­weise hat sich zweimal dagegen ausgesprochen – positives Fazit hin oder her.

Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss war an der «Operation Papyrus» aktiv beteiligt – und hielt diesen Sommer die Laudatio, als die Zürcher Anlauf­stelle für Sans-Papiers (Spaz) ausgezeichnet wurde.

«Es braucht Spatzen, die es von den Dächern pfeifen», sagte Dreifuss im ehrwürdigen Stadt­haus an der Limmat. «Denn es verstösst gegen die Menschen­rechte, die Arbeit der Menschen anzunehmen und sie rechtlos zu belassen. Wir bieten ihnen den Weg für eine illegale Einwanderung, für niedrig eingestufte Jobs, für Jahre der Einsamkeit und des Schuftens, in der ständigen Angst vor einer Ausweisung. Doch es geht nicht nur darum, den Sans-Papiers Rechte zuzubilligen – es geht auch um Würde.»

Allison verabschiedet sich nach einem langen Gespräch auf der Redaktion, das sie sichtlich aufgewühlt hat. Wenn sie von ihrer Tochter erzählt, ein Bild von ihr auf dem Handy zeigt, kommen ihr die Tränen. Es ist Abend geworden, und gemeinsam gehen wir zur nächsten Bushalte­stelle, schauen beide nach links und rechts, ob auch keine Polizei­patrouille im Anmarsch ist. Ob die Stadtluft rein ist. Rein und frei.

Ein letztes Winken, dann fährt sie davon.