Kein Zutritt für die Polizei
Dürfen Polizistinnen eine Redaktion stürmen, weil sie eine Mitarbeiterin für verdächtig halten? Nein, die Polizei darf sogar aktiv daran gehindert werden. Ein neues Urteil stärkt die Medienfreiheit in der Schweiz.
Von Brigitte Hürlimann, 20.07.2021
Kürzlich standen eine Polizistin und ein Polizist in Vollmontur vor dem Innenhof jenes Gebäudes, in dem sich die Redaktion der Republik befindet. Sie kamen ins Gespräch mit einem Redaktionsmitarbeiter, der draussen rauchte. Man stellte sich gegenseitig höflich vor, und der Republik-Kollege erklärte den Uniformierten, dass dies kein Hotel mehr sei (was die beiden nicht wussten), sondern auf zwei Stockwerken eine Redaktion. Und nein, Probleme mit dem Quartier gebe es keine. Die beiden Gäste durften auf Einladung hin das Foyer im Erdgeschoss und den Pausenraum besichtigen, danach gingen alle wieder ihrer Wege.
Ziemlich genau zwei Jahre früher hatte eine andere Redaktion ebenfalls Besuch von der Polizei, der jedoch deutlich unangenehmer ausfiel – und am Schluss vor dem Strafrichter landete.
Betroffen war Radio Lora, dessen Redaktion ebenfalls im Zürcher Langstrassenviertel untergebracht ist, nur wenige Meter von der Republik entfernt. Das Quartier gilt bei der Polizei als Problemzone, als Hotspot und übermässig arbeitsträchtiger Einsatzort. Die Dichte an Überwachungskameras ist enorm. 2018 war auch der Eingang zur Republik wochenlang heimlich gefilmt worden – ohne genügende Rechtsgrundlage.
Es vergeht fast keine Stunde, in der von den Redaktionsfenstern der Republik aus nicht ein Polizeieinsatz, vorbeifahrende oder vorbeispazierende Patrouillen beobachtet werden können.
Den Zutritt verweigert
Ende Juni 2019 war eine Lora-Moderatorin mit Verspätung zur Arbeit unterwegs und musste deshalb die letzten paar Meter bis zur Redaktion rennen. Sie fiel einer Polizeipatrouille auf, die im Auto unterwegs war. Für die zwei Polizisten und die Polizistin war der Fall klar: Die Frau rennt vor ihnen davon, hat etwas zu verbergen und benimmt sich verdächtig.
Schliesslich ist das Quartier ja eine Problemzone. Und die junge, rennende Frau hat keine weisse Haut.
Die drei Uniformierten stiegen also aus, gingen der Frau nach und gelangten vor die Redaktionsräume des Radios, den Arbeitsplatz der Rennenden. Ein Mitarbeiter, der draussen stand, stellte sich ihnen entgegen. Er klärte die Polizisten darüber auf, dass dies eine Redaktion sei, die sie nicht einfach so betreten dürften. Es gelte das Redaktionsgeheimnis. Ob sie einen Durchsuchungsbefehl vorweisen könnten?
Das konnten sie nicht. Die drei wollten eine Frau kontrollieren, es war eine ungeplante, sozusagen spontane Aktion. Die Polizisten fühlten sich vom Radiomitarbeiter gestört, weil er sie nicht ins Haus liess. Die Begegnung endete damit, dass der Mann an die Wand gedrückt wurde, mit nach hinten fixierten Armen. Escort-Griff nennt man das. Die Polizisten interessierten sich nun nicht mehr für die rennende Frau, sondern konzentrierten sich auf den Radiomitarbeiter.
Dieser wurde auf die Wache gebracht und wegen Hinderung einer Amtshandlung angezeigt. Der Staatsanwalt forderte eine bedingte Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 80 Franken.
Ein schneller Freispruch
Der Strafprozess gegen den Lora-Mitarbeiter fand Mitte Juli am Bezirksgericht Zürich statt – mit einem Polizeiaufgebot, als stünde ein gewalttätiger Schwerverbrecher vor Gericht. Einzelrichter David Egger sprach den Beschuldigten noch gleichentags frei. Er sei zwar den beiden Polizisten und der Polizistin tatsächlich in den Weg gestanden, habe sie aber nicht in ihrer Amtshandlung hindern wollen.
Damit folgt der Richter den Beteuerungen des Radiomitarbeiters, der stets ausgesagt hat, er habe es als seine Pflicht als Arbeitnehmer erachtet, das Eindringen der Polizei zu verhindern, damit das Redaktionsgeheimnis gewahrt bleibe.
«Der Medienraum muss respektiert werden», sagte der Lora-Angestellte am Prozess. Das Radio habe vom Bund den Programmauftrag bekommen, Anliegen von Minderheiten und von Menschen mit Migrationshintergrund aufzunehmen: «In unserer Redaktion halten sich oft geflüchtete und traumatisierte Menschen auf. Sie wären vom Aufmarsch der Polizisten schockiert gewesen, davor musste ich sie schützen.»
Der Schutz der Redaktionen wird auf Verfassungsebene geregelt, er ist Teil der Medienfreiheit. Die Polizei darf ein Medienhaus nicht ohne Anlass, ohne triftige Gründe betreten. Auch wenn sie dafür einen Hausdurchsuchungsbefehl vorweisen kann, gilt die polizeiliche oder staatsanwaltliche Intervention bei Medien als höchst problematisch – und kommt hierzulande glücklicherweise selten vor.
Carla Del Pontes Aktion
Zu einer spektakulären Aktion war es im Dezember 1994 gekommen, als die Bundesanwaltschaft unter der Leitung von Carla Del Ponte die Zürcher Redaktionsräume der «SonntagsZeitung» sowie die Wohnungen von zwei Journalisten durchsuchte. Unterstützt von der Kantonspolizei beschlagnahmten die Strafverfolger Dokumente, Disketten und ein Notebook.
Grund für den Einsatz: Die Journalisten hatten sich geweigert, ihre Quellen offenzulegen und Unterlagen herauszugeben. Die Zeitung hatte über die Tätigkeit der «Islamischen Heilsfront» berichtet – und die Bundesanwaltschaft fühlte sich dadurch in ihren laufenden Untersuchungen gestört.
Das Vorgehen der Strafverfolger führte zu harscher Kritik. Die Journalistenorganisationen und der Verlegerverband sprachen von «Einschüchterungsversuchen». Der Presserat befand, die Hausdurchsuchung sei «in keiner Art und Weise» gerechtfertigt gewesen.
War die Kontrolle notwendig?
Das jüngste Urteil aus dem Bezirksgericht Zürich kann als Stärkung der Redaktionsfreiheit verstanden werden – und damit der Medienfreiheit insgesamt. Der Lora-Mitarbeiter durfte die Polizisten an der Tür aufhalten, er hat damit nichts Strafbares getan. Denn was in den Medienhäusern an Informationen herumliegt oder wer sich dort aufhält, das alles geht die Strafverfolger prinzipiell nichts an. Und schon gar nicht dürfen sie ohne Anlass und ohne Einladung in die Redaktionen eindringen.
Auf diesen zweiten Punkt – den Anlass der Polizeiaktion im Radio Lora – ging der Einzelrichter allerdings nicht ein. Verteidiger Marcel Bosonnet hatte in seinem Plädoyer ausführlich dargelegt, dass es nur einen Grund dafür gebe, warum die Dreierpatrouille der Radiomoderatorin nachgerannt sei: Racial Profiling.
Die Frau, so Bosonnet, habe nichts anderes gemacht, als an ihren Arbeitsplatz zu eilen. Für eine Kontrolle habe es keinen Anlass gegeben. Und anlasslose Personenkontrollen oder Identitätsabklärungen seien schlicht unzulässig: «Es braucht spezifische Verdachtsmomente. Und die lagen bei der Radiomoderatorin nicht vor. Die Kontrolle war nicht notwendig.»
Für Bosonnet liegt eine rechtswidrige polizeiliche Massnahme vor, die gar nicht zur «Hinderung einer Amtshandlung» führen kann.
Dieses Terrain mochte der Strafrichter nicht betreten. Er glaubte den Polizisten, dass die davonrennende Frau verdächtig gewirkt habe. Es gebe für ihn keinen Anlass, so David Egger, von Racial Profiling auszugehen. Und überhaupt sei an diesem Prozess das Verhalten des Radiomitarbeiters das Thema und nicht das Verhalten der Frau.
Der Radiomitarbeiter wird freigesprochen und für seine Umtriebe entschädigt. Was nach diesem Prozess jedoch offenbleibt: Wie sehr ist es mit einem Risiko verbunden, wenn man durchs Langstrassenquartier rennt? Und wie stark erhöht sich dieses Risiko für People of Color?