Die helvetischen Wirtschaftskriege
Bei der Entscheidung für die globale Mindeststeuer hatte die Schweiz nichts zu sagen. Warum bleibt es politisch trotzdem so verblüffend ruhig? Serie «Die Weltrevolution», Teil 2.
Von Constantin Seibt (Text) und Erli Grünzweil (Bild), 20.08.2021
Etwa 80 Prozent des Welthandels bestehen aus konzerninternen Transaktionen. Was heisst, so der Steuer- und Buchhaltungskonzern Deloitte, dass ein multinationales Unternehmen nicht selten mehr als 10-mal so viele Geschäfte mit sich selbst macht wie mit der Aussenwelt.
Das nicht zuletzt wegen der Steuern. Doch es hat einen Preis, wenn Steuervermeidung zum Kerngeschäft wird. Der Aufbau von Komplexität, der zum Verschieben von Geldern notwendig ist, prägt auch die Struktur des Unternehmens. Und seine Mentalität.
Nie, so Deloitte, waren internationale Konzerne annähernd so komplex wie heute. Dies auch, weil mit schnellerer Informatik die Lieferketten immer länger wurden. Dazu wachsen Multis ab einer gewissen Grösse physisch wie intellektuell meist dadurch, dass sie kleinere, wendigere Firmen schlucken – was nach einer Zeit zu einer spaghettitopfartigen Struktur von Dutzenden von inkompatiblen Zahlungssystemen führt.
Inzwischen sieht Deloitte, ein Gigant im Steueroptimierungsbusiness, als eins der grössten Risiken für Konzerne: Verwirrung.
Multinationale Konzerne haben über die Jahre Billionen von Franken an Steuern vermieden. Jetzt wollen über 130 Staaten das System fundamental umkrempeln. Hat der Plan für eine globale Mindeststeuer eine Chance? Würde die Welt damit gerechter? Und was würde dann aus dem Steuerparadies Schweiz? Zur Übersicht.
Sie lesen: Teil 2
Helvetische Wirtschaftskriege
Teil 3
Steuern, Demokratie, Faschismus
Solch ein hochkomplexes Unternehmen hat im Fall einer Krise nur noch nebelhaft Ahnung davon, wo es finanziell steht, wo die Profite und Verluste wirklich gemacht werden oder welche Gelder wo versteuert wurden.
Die perfekte Voraussetzung für Fehlentscheide, Skandale oder auch nur schlechte Geschäfte. Ausserdem hat man viel zu viele Leute an Bord, deren Job es ist, Bullshit zu produzieren.
Kein Wunder, bietet Deloitte ein komplettes Servicepaket an – unter der Devise: «Die Sauerei unter dem Bett aufräumen».
Zur Rückvereinfachung.
Ein Albtraum an Komplexität
Paradoxerweise befeuerten ausgerechnet die Leute die Komplexität des Steuerwettbewerbs, die sie stoppen wollten.
Die ersten Gegenmassnahmen kamen ziemlich spät. Zunächst, im Boom, hatten Reformer keine Chance. (Was keine grosse Überraschung war: Wer ein Steuersystem verschärfen will, braucht eine möglichst verheerende Krise.)
Nach dem Bankencrash 2008 nutzten die Steuerpolitikerinnen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre Chance. Und starteten einen neuen Anlauf, um die Steuervermeidung in den Griff zu kriegen. Die Verhandlungen dauerten Jahre. Und brachten 2015 ein furchterregend komplexes Regelwerk hervor: BEPS (2019 ergänzt durch das Update, BEPS 2.0).
Der Grund für die Komplexität war nicht zuletzt die gewählte Strategie: Im Prinzip versuchten die BEPS-Regelungen das wichtigste Instrument zur Steuervermeidung zu regulieren: die Transferpreise – also das, was sich die einzelnen Tochterfirmen in einem Konzern intern für Lieferungen, Lizenzen und anderes verrechneten. Und man versuchte, sie für alle möglichen Eventualitäten in allen möglichen Unternehmen festzulegen.
Das sichtbarste Resultat war: Einige der einfachsten Steuervermeidungskonstrukte (etwa der «Double Irish with a Dutch Sandwich» oder auch das Schweizer Holdingprivileg) wurden unterbunden. Viele Konzerne mussten auf ihre effizientesten Schlupflöcher verzichten.
Doch dann schlugen sie mit den Mitteln der Regulierer zurück. Die BEPS-Regelungen brachten einen enormen Papierkrieg, die Steuerstrateginnen der Unternehmen antworteten mit noch mehr Papierkrieg: einer weiteren Eskalation der Komplexität.
Wie in jedem Krieg brauchten die Konzerne eine Armee. Bei einer Suche auf Linkedin fand das Magazin «Economist» diesen Frühling 333’000 Mitglieder mit der Berufsangabe: «Transfer Pricing».
Eine elegante Lösung …
BEPS war der Versuch, Löcher zu stopfen. Die beiden diesen Sommer beschlossenen Massnahmen dagegen sind ganz anders designt: Sie sollen die Spielregeln ändern.
Die globale Mindestunternehmenssteuer versucht den Steuerwettbewerb nicht zu unterbinden, sondern ihm eine klare Grenze zu setzen. Das Clevere an der Mindeststeuer ist, dass sie auch dann funktioniert, wenn die Steueroasen nicht mitmachen.
Der Grund ist, dass die betreffenden Konzerne im neuen System den Gewinn von Land zu Land offenlegen müssen. Und wenn sie in einem davon weniger als 15 Prozent Steuern gezahlt haben, zahlen sie die Differenz am Standort ihres Hauptsitzes nach.
(Falls eine Firma auf die Idee kommen sollte, den Hauptsitz in ein Land zu verlegen, welches bei der Mindeststeuer nicht dabei ist, können die Länder, in denen die Tochterfirmen stehen, die Differenz kassieren.)
Was dazu führt, dass es für kein Land auf dem Planeten mehr Sinn ergibt, weniger als 15 Prozent Unternehmenssteuer zu verlangen. Weil der Konzern trotzdem zahlt. Nur an ein anderes Land.
Was eine wirklich elegante Lösung ist.
Der zweite Beschluss ist ebenfalls eine Weltneuheit. Zum ersten Mal spielt es für die Steuern nicht nur eine Rolle, wo ein Unternehmen seine Produkte produziert oder verwaltet, sondern auch, wo es sie verkauft.
Die neue Regel gilt nur für sehr grosse, sehr profitable Firmen. Macht ein Konzern mehr als 20 Milliarden Euro Umsatz und eine Ertragsmarge von mehr als 10 Prozent, werden 20 bis 30 Prozent der Steuereinnahmen an die Länder verteilt, in denen der Konzern seine Gewinne gemacht hat.
Diese Regel wurde auf die grossen US-Digitalkonzerne massgeschneidert. Schon weil sich die Regierungen weltweit zumindest in einem einig sind: dass nun verdammt noch mal Zeit ist, dass Big Tech bei ihnen Steuern zahlt.
Denn bisher lief das Spiel so: Apple, Google und Amazon revolutionierten in Dutzenden Ländern ganze Branchen (etwa den Detailhandel) bis hin zur fast vollständigen Übernahme (etwa die Musik-, die Medien- oder die Werbeindustrie), ohne dass das betreffende Land je einen Dollar Steuern sieht.
Das, weil der neue dominierende Detailhändler, Musikverkäufer, Werbebroker, Medienbesitzer des Landes dort keine rechtliche Vertretung, oft nicht einmal Angestellte hat – und auf ein E-Mail der Steuerbehörde (oder auch der Regierung) nach Cupertino, San José, Seattle oder Los Angeles nicht einmal zurückschreibt.
Kein Wunder, sind weltweit fast sämtliche Regierungen sauer auf Big Tech.
Die beiden neuen Regeln sollen ab 2023 gelten. Aber nur für wirklich grosse Firmen. Die Mindeststeuer betrifft nur Konzerne mit mehr als 750 Millionen Euro Umsatz.
Und die neue Verteilregelung für Firmen mit über 20 Milliarden Euro Umsatz und über 10 Prozent Profit betrifft nur etwas über hundert Monsterkonzerne. (In der Schweiz sind das wohl nur drei: Novartis, Roche, Nestlé.)
Die jährlichen Mehreinnahmen durch eine Mindeststeuer von 15 Prozent werden von der OECD auf etwa 150 Milliarden Dollar geschätzt.
Das sind – zugegeben – eher bescheidene Summen.
Aber dafür wird ein neues Denken zur Praxis – die Finanzpolitik ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen.
… gnusöL etnagele eniE
Das Elegante an der Mindeststeuer ist ihre Einfachheit. Eine Zahl genügt, um die Verhältnisse auf die Reihe zu bringen – könnte man meinen. Doch wir befinden uns noch immer in der Hölle. Auch im neuen System regiert der tausendarmige Satan der Komplexität.
In der Tat hat die Mindeststeuer ein Nacktbad in mindestens drei Haifischbecken vor sich.
1. Baderunde: 15 Prozent, aber von was?
Mit «15 Prozent Mindeststeuer» ist noch gar nichts gesagt. Denn die entscheidende Frage ist: 15 Prozent wovon?
Die Antwort darauf klingt sehr einfach: 15 Prozent auf den Gewinn. Nicht nur auf dem Papier. Sondern effektiv. Also keine Abzüge mehr, keine sonstigen Scherze.
Nur bleibt das Problem: Was heisst Gewinn? Was verrechnet man wo und wie im Fall von Abschreibungen, Investitionen, Löhnen, Schulden, Krediten, Aktiengewinnen, Mitarbeiteroptionen, Rückstellungen, Dividenden oder Derivaten – den Werkzeugen der kreativen Buchhaltung?
Die neue Steuer nur schon auf dem Papier halbwegs wasserdicht zu konzipieren, wäre Aufgabe genug. Doch es sitzen über 130 Länder am Tisch. Mit mehr als 130 teils sehr verschieden konstruierten Steuersystemen, mit denen die Steuer kompatibel sein sollte. (Die Steuerexpertinnen von Deloitte warnen etwa, dass auch Schweizer Kantone, die bereits eine Unternehmenssteuer von mehr als 15 Prozent verlangen, betroffen sein werden, weil die Berechnungsgrundlage für den Unternehmensgewinn in der Schweiz viel legerer ist als anderswo.)
Dazu kommt, dass an der Wiege der neuen Steuer nicht nur freundliche Leute stehen. Sondern auch Politiker wie Ueli Maurer. Deren einziges Interesse ist, das Baby zu verkrüppeln.
In der Tat wurden bereits am G-7-Gipfel dem eigenen Kind erste Zähnchen herausgerissen: Nicht betroffen von der Verteilklausel sind auf dringenden Wunsch Grossbritanniens neben den Rohstoffhändlern auch die Finanzbranche und die Schifffahrt. (Die City of London!)
Später, in der OECD, kamen noch die Wünsche Chinas und Indiens auf die Liste: Investitionen in neue Fabriken sollen sich grosszügig abschreiben lassen.
Um den Charakter der jungen Steuer zu kennen, wird man das Kleingedruckte lesen und verstehen müssen. Doch das folgt erst Ende Jahr. Bis dahin werden über 130 Länder verhandeln. Die alle Spezialregeln fordern.
Sind auch nur wenige erfolgreich, wird aus dem Systemwechsel ein Sieb.
2. Baderunde: Mehr als 130 Parlamente
Steht das Kleingedruckte, folgt das politische Nacktbad. Bis Ende 2022 müssen über 130 Parlamente die Mindeststeuer zum nationalen Gesetz erklären. In der Schweiz müssen das gleich 26 Kantone tun – weil die Steuerhoheit bei ihnen liegt.
Am heikelsten wird die Abstimmung zur Mindeststeuer ausgerechnet bei ihren entschlossensten Befürwortern: den USA und der EU. Denn in der EU finden sich gleich drei Gegner des neuen Systems: Irland, Estland und Ungarn. Das Problem dabei ist, dass die EU ein neues Steuerrecht nur einstimmig installieren kann.
Dazu ist es ausgerechnet in den USA, die der Motor der Reform sind, völlig unklar, ob die Mindeststeuer je zum Gesetz wird. Im Senat bräuchte Präsident Biden republikanische Hilfe. Doch die ersten Statements von republikanischen Senatoren zur neuen Steuer waren: «Ein mieser Deal», «Anti-Wettbewerb, Anti-Amerika, schlecht fürs Wachstum» und «Dafür werden sie nie unsere Stimmen bekommen!».
Möglich, dass es läuft wie 1920 mit dem Völkerbund: Die USA waren die treibende Kraft hinter seiner Gründung, wurden aber nie Mitglied.
3. Baderunde: Trans-nationale-parenz
Tritt das neue System am 1. Januar 2023 in Kraft, wird eine neue Komplexitätsstufe gezündet. Die grössten Konzerne der Welt müssen nun Land für Land Gewinne, Steuerzahlungen und Umsatz rapportieren – und die zuständigen nationalen Steuerverwaltungen das alles überprüfen.
Kurz, eine ungeheure Datenflut wird sich über die Geschäfts- und die Beamtenwelt wälzen – mit endlosem Potenzial für Streit. Hat Konzern A im Land B wirklich über 15 Prozent Steuern gezahlt? Hat Konzern C mehr oder weniger als 10 Prozent Gewinn gemacht? Und muss folglich das Steueramt im Land D den Ländern E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S und T die 20 bis 30 Prozent der Gewinnsteuern ausliefern – verteilt nach genau welchen Zahlen? Und hat das Land D in diesem Fall nicht dasselbe Interesse wie der Konzern C, den Gewinn buchhalterisch unter 10 Prozent zu drücken?
Dazu: Was tut man mit Multis wie Amazon, deren Gewinn chronisch unter 10 Prozent liegt? Und zwar nicht aus Bescheidenheit. Sondern weil das Geschäftsmodell darin besteht, mit extrem kleinen Margen zu arbeiten, um die lokale Konkurrenz in einem endlosen Preiskampf zu eliminieren.
Und falls es Ärger gibt: Wer entscheidet in Streitfällen?
Bonus: Ist das Projekt schon tot?
Fragt man Alex Cobham, den Chef des Tax Justice Network, ist die Mindeststeuer eine hervorragende Idee. Aber bereits schon bei ihrem Start erledigt. Nüchterner gesagt: eine verpasste Jahrhundertchance, das Leben von Milliarden Menschen auf einen Streich zu verbessern.
Cobhams Begründung:
15 Prozent sind viel zu wenig – im Prinzip der Steuersatz der Steueroasen. Alles unter 25 Prozent Mindeststeuer hat keine Chance, das Rennen Richtung null bei den Unternehmenssteuern zu beenden.
Die Wirkung ist zu klein. Laut Cobhams Netzwerk kommen mit 15 Prozent rund 270 Milliarden Dollar Mehreinnahmen zusammen, bei 25 Prozent hingegen rund 780 Milliarden. (Was den betroffenen Konzernen immer noch drei Viertel ihrer Gewinne liesse.)
Von den Mehreinnahmen kassieren die reichsten Länder den Löwenanteil. Schon deshalb, weil dort die Hauptsitze der Konzerne stehen. Am meisten profitieren die G-7-Länder: Von den geschätzt 270 Milliarden Dollar zusätzlichen Einnahmen kassieren sie 170.
Die Dramaturgie bei der Einführung der Mindeststeuer war übrigens typisch. Wie das letzte Mal im Jahr 1925 sassen auch hundert Jahre später die grossen Länder zuerst am Tisch. Sie nutzten damit den klassischen Vorreiter-Vorteil: Sie einigten sich auf die grossen Linien. Allen später Kommenden blieben im besten Fall ein paar Korrekturen im Kleingedruckten.
Kein Wunder, ist das heutige Steuersystem gnadenlos zugunsten der reichen Länder geeicht: erstens dadurch, dass die Standardmodelle der OECD zur Festlegung von Transferpreisen derart komplex sind, dass Entwicklungsländer mit wenig Ressourcen gegen die finanziellen Möglichkeiten multinationaler Firmen keinen Stich haben.
Zweitens durch brutale Unterschiede im Know-how. Nicht selten treffen lokale Anwältinnen auf erfahrene Top-Profis aus den USA oder der EU, die auf nichts als Steuern und Verhandlungen spezialisiert sind. Vietnam zum Beispiel unterschrieb in den 1990ern, schlecht vorbereitet, ein ganzes Bündel von verheerenden Doppelbesteuerungsabkommen – seitdem hat es kaum mehr Chancen gegen ausländische Konzerne.
Drittens glauben, so der Steuerwissenschaftler Martin Hearson, zu viele Politiker in armen Ländern an den «Steuervertrags-Mythos»: dass nur Kapital ins Land kommt, wenn man ein OECD-Abkommen unterschrieben hat. Dabei gibt es für diesen Mythos keinen Beweis. Für das Gegenteil dafür aber viele: Fast alle Doppelbesteuerungsabkommen zwischen reichen und ärmeren Staaten enden für Letztere übel.
Wobei sich die Gewichte in den letzten Jahren verschoben haben. Insofern ist die globale Mindeststeuer ein Fortschritt. Oder genauer: eine Angleichung an den neuen Status der aufstrebenden Schwellenländer. Diese profitieren im neuen System – zwar nicht im gleichen Mass wie die ehemaligen Kolonialmächte, aber immerhin.
Auf der Strecke bleiben dieses Mal vor allem die Steuerparadiese – vor allem die mit den Palmen, die kein anderes Geschäftsmodell haben.
Und die Schweiz?
Die Schweiz, nüchtern
Christoph Blocher sagte, es sei besser für die Schweiz, aus der OECD auszutreten, Roger Köppel beschimpfte Bundesrat Maurer wegen mangelnden Kampfgeists als «halben Bundesrat», und die NZZ schrieb, dass angesichts der Heuchelei der Hochsteuerländer die Schweiz «fast schon über ein Veto nachdenken müsste».
Das wars.
Das wars tatsächlich.
Eine sensationelle Stille. Kein Pathos. Kein Jammern. Kein Winkelried. Kein Reduit. Kein Aufruf zum Freiheitskampf.
In einem internen Papier empfahl das Finanzdepartement bereits im Mai ein Ja mit Blankoscheck: Für die Schweiz sei es vorteilhafter, die Einigung auf OECD-Ebene mitzutragen, schreibt das Departement in einem internen Papier, das der Republik vorliegt. Das gelte letztlich unabhängig davon, wie die konkreten Eckwerte der Begründung dereinst aussehen würden.
Und so stimmte Bundesrat Maurer ein paar Wochen später auch ab.
Seitdem ist das erklärte Ziel der Schweizer OECD-Verhandler, in das Kleingedruckte «moderate und einheitliche Regelungen» einzubringen, wie es im selben Papier aus dem Finanzdepartement heisst.
Der einzige öffentliche Vorschlag von Finanzminister Maurer war allerdings eine Sonderregel – mehr Abzüge für Konzerne aus der Ersten Welt. Maurers Argument: Je technologisch fortgeschrittener ein Land ist, desto schneller müssen Dinge ersetzt werden. Was heisst: Die Konzerne in fortschrittlichen Ländern sollen Investitionen schneller abschreiben können.
Dazu rapportierte Maurer die Zahlen: In der Schweiz rechnet der Bundesrat damit, dass die Mindeststeuer rund 200 Schweizer Firmen treffen wird – und mehrere tausend ausländische Tochtergesellschaften. Ihnen allen droht ab 2023 eine mehr oder weniger schmerzhafte Steuererhöhung.
Je besser der Deal zuvor, desto schmerzhafter.
Nur, was passiert dann? Bleiben die Firmen im Land? Und wenn ja – unter welchen Bedingungen?
Hier antwortete Maurer: «Ein Zauberer in einem Zirkus verrät seine Tricks dem Publikum auch nicht. Ich habe deshalb keine Lust, alle möglichen Kompensationsmassnahmen hier auszubreiten.»
Warum diese irritierende Nüchternheit? Bei einem Systemwechsel? Einem neuen Steuerregime? Auferzwungen von fremden Staaten?
Weil die Schweiz etwas gelernt hat.
Allein gegen Amerika
Dass niemand, auch nicht die SVP, einen Wirtschaftskrieg forderte, hatte den Grund, dass man diesen schon zweimal geführt hatte.
Das erste Mal in den 1990er-Jahren, wegen der nachrichtenlosen Vermögen. Damals gings gegen mehrere jüdische Organisationen in den USA. Der damalige Bundesrat Delamuraz sprach von «Erpressung» und der Zerstörung des Finanzplatzes, FDP und SVP protestierten gegen den «Imperialismus», der UBS-Chef Robert Studer sprach von «Peanuts» – während sein Vorgänger Robert Holzach die Lage wie folgt skizziert haben soll: «Eine jüdische Verschwörung, um die führenden Finanzplätze der Welt zu übernehmen.» (Holzach selber bestritt damals, das so gesagt zu haben.)
Am Ende hatten sich Bundesrat und Banken derart im Bunker verirrt, dass der ehemalige Bankchef Rainer E. Gut notfallmässig in die USA fliegen musste, um einen Deal zu machen.
Dieser wurde teuer. Die Banken zahlten in einem Vergleich 1,25 Milliarden Dollar zugunsten von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen. Und da ihnen in den USA niemand mehr traute, musste die verwickelte Aktenlage zu den nachrichtenlosen Konten von einem Heer unabhängiger Spezialistinnen aufgearbeitet werden. Was weitere 800 Millionen kostete.
Schnitt.
Flughafen Miami, rund zehn Jahre später. Bei einem Zwischenstopp wurde ein hochrangiger Kundenberater der Bank Wegelin festgenommen. Und einige Wochen lang verhört. Danach klagte die Staatsanwaltschaft in New York die Bank Wegelin wegen des Bruchs amerikanischer Gesetze ein.
Deren Chef Konrad Hummler war der leidenschaftlichste Verteidiger des Bankgeheimnisses – er betrachtete Steuervermeidung als Menschenrecht. Und er war überzeugt, dass die USA keine Rechtsgrundlage hatten, die Bank wegen ihrer anonymen US-Kundinnen anzuklagen, weil Wegelin in den USA keine Geschäfte machte.
Nach der Anklage in New York rief die «Weltwoche» im Sommer 2012 den Freiheitskrieg aus; sie beschrieb die Bank als «Kraftort des Widerstands, einen Bunker, ein Reduit». Und sie feierte deren Chef Hummler als «General», der den «Kampf um Recht und Ehre» aufgenommen habe «gegen die grösste Macht der Welt», die USA.
Ein halbes Jahr später flog Hummlers Partner nach New York und unterschrieb die Kapitulationsurkunde. Darin stand, die Bank Wegelin anerkenne, «Falsches getan» zu haben. Und das wider besseres Wissen. Und dann folgte der Satz: «Dieses Verhalten war unter Schweizer Banken üblich.»
Damit hatte Wegelin einen Präzedenzfall ermöglicht. Sie war die erste Bank ohne offizielles Geschäft in den USA, die sich bei der dortigen Justiz für schuldig erklärte. Und den ganzen Bankenplatz Schweiz dazu.
Das Resultat von Hummlers «Kampf um Recht und Ehre» war: ein Meilenstein für alle Kämpferinnen gegen das Bankgeheimnis.
Das war schon peinlich genug. Aber noch peinlicher war, warum die beiden Schweizer Wirtschaftskriege begannen – und wie sie endeten.
Mehr als vier Jahrzehnte waren die nachrichtenlosen Konten kein Problem. Meldeten sich Angehörige von Ermordeten in deutschen Konzentrationslagern, verlangte die jeweilige Bank von ihnen eine Untersuchungsgebühr (anfangs 100, später 1000 Franken) – und dann erhielten sie ein Standardformular, dass nur Konten bis 10 Jahre zurück berücksichtigt würden. Ende der Geschichte.
Die Affäre kam erst ins Rollen, als die amerikanische Presse aufdeckte, dass der New Yorker Senator Alfonse D’Amato zahlreiche Kontakte zur Mafia pflegte. D’Amato fürchtete um die Wiederwahl, suchte ein populäres Thema, stiess auf die Holocaust-Gelder, streute ein paar Artikel zum Thema – und berief im Kongress ein Hearing ein.
Der Untergang der Bank Wegelin begann damit, dass auch der für Manhattan und die Bronx zuständige Staatsanwalt Preet Bharara ein Problem hatte: Man hielt ihn für zu weich gegenüber der Wall Street. So nutzte Bharara die Gelegenheit, gegenüber einer Bank seine Härte zu zeigen. Und fand wie nebenbei den Weg, das über Jahrzehnte unknackbare Schweizer Bankgeheimnis zu knacken.
Man kann ohne viel Übertreibung sagen, dass grosse Teile der Schweizer Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte eine Fussnote der New Yorker Lokalpolitik waren.
Oder nicht einmal das. In der Wikipedia-Biografie von Senator D’Amato findet sich zu den nachrichtenlosen Konten nur ein einziger Satz. Und in Preet Bhararas Wikipedia-Eintrag findet sich eine lange, detaillierte Liste seiner wichtigsten Fälle. Zur Bank Wegelin steht kein Wort.
Hier also die Bilanz der helvetischen Wirtschaftskriege: Du ziehst Jahre in die Schlacht, verlierst auf ganzer Linie, zahlst viel Geld – und dein Gegner erinnert sich nicht einmal an dich.
Bei allem Patriotismus: Kann man noch demütigender verlieren?
Respekt, dass Sie schon wieder unten angekommen sind. Falls Sie Ihre Geduld auf eine dritte und letzte Probe stellen wollen, lesen Sie in Teil 3: +++ Der grösste Steuerbetrug der Schweizer Geschichte +++ Warum Sie als Stimmbürgerin nur dann etwas zu sagen haben, wenn Sie das Richtige stimmen +++ Wer uns die letzten 30 Jahre regiert hat: die Spargelder unserer Eltern +++ Nun folgt vielleicht etwas Neues: Big Government oder der Faschismus +++