Die Steuervermeidungsindustrie
Seit 30 Jahren sinken die Unternehmenssteuern immer noch tiefer. Kaum jemand rechnete damit, dass sich das bald ändern würde. Bis zu diesem Sommer. «Die Weltrevolution», Teil 1.
Von Constantin Seibt (Text) und Erli Grünzweil (Bild), 19.08.2021
Wanderer, es gibt keinen Weg,
der Weg entsteht durchs Gehen.
Was bleibt von diesem verregneten Sommer? Ausser dem Regen? Vielleicht wirklich die globale Mindestunternehmenssteuer.
Doch wahrscheinlich wird nichts Entscheidendes daraus. Und Sie verschwenden mit diesem Beitrag (und den nächsten zwei) Ihre Zeit.
Schon, weil Sie nicht in der Position sind, dass es sich für Sie lohnt, über solche Sachen Bescheid zu wissen. Internationales Steuerrecht ist nichts für Leute wie Sie: Es ist furchterregend komplex – und dazu noch quälend langweilig.
Ausserdem wird Ihnen egal welches Wissen dazu nicht den kleinsten Nutzen bringen. Ausser Sie sind Konzernchefin oder Milliardär – beziehungsweise deren Treuhänder oder Anwältin.
Dann allerdings gibt es wenig, was lukrativer ist. Denn nichts schlägt auf Gewinn und Vermögen so direkt durch wie Kompetenz in Sachen Steuern. Bei allen anderen Geschäften braucht man Aufwand – und läuft ein Risiko. Doch jeder nicht gezahlte Franken Steuern ist ein Franken auf dem Konto.
Kurz: Internationales Steuerrecht ist klassisches Herrschaftswissen. Komplex. Teuer. Exklusiv – weil Interesse und Interessen hier vollkommen deckungsgleich sind. Kenntnisse sind völlig unnütz, falls Sie nicht zum Club gehören.
Kein Wunder, haben Sie keine Ahnung. Denn es ist vollkommen egal, ob Sie eine haben.
Das gilt übrigens auch für Sie als Stimmbürgerin. Denn die Schweizer Gesetzgebung ist hier längst nicht mehr Sache der Schweiz.
Was heisst: Das einzig Neue, was im Steuerrecht zu erwarten ist, sind neue Schlupflöcher.
Nur ist vielleicht diesen Sommer doch etwas Neues passiert …
Multinationale Konzerne haben über die Jahre Billionen von Franken an Steuern vermieden. Jetzt wollen über 130 Staaten das System fundamental umkrempeln. Hat der Plan für eine globale Mindeststeuer eine Chance? Würde die Welt damit gerechter? Und was würde dann aus dem Steuerparadies Schweiz? Zur Übersicht.
Sie lesen: Teil 1
Die Steuervermeidungsindustrie
Teil 3
Steuern, Demokratie, Faschismus
Immerhin sprach der deutsche Finanzminister Olaf Scholz von einer «Revolution», der britische Finanzminister Rishie Sunak von einer «historischen Vereinbarung», und die amerikanische Finanzministerin Janet Yellen sagte: «Wir haben jetzt den Hebel, das Rennen Richtung null zu beenden.»
Die globale Mindestunternehmenssteuer wurde gleich dreimal beschlossen. Anfang Juni am G-7-Gipfel in London. Anfang Juli von 130 Staaten bei der OECD-Konferenz in Paris. Und kurz danach durch die Finanzministerinnen der G-20 in Venedig.
Nach der Einigung in Venedig applaudierten die versammelten Minister.
Nur einer nicht: der Schweizer Bundesrat Ueli Maurer. Er war zwar nur als Beobachter eingeladen, also nicht stimmberechtigt, legte aber danach Wert darauf, mitzuteilen, er habe «nicht applaudiert».
Was beschlossen wurde, waren zwei Dinge:
Eine globale Mindeststeuer von «mindestens 15 Prozent», gültig für Konzerne mit mehr als 750 Millionen Euro Umsatz.
Die Klausel, dass grosse, profitable internationale Konzerne in Zukunft nicht nur in Ländern Steuern zahlen, in denen sie Firmensitze haben, sondern auch dort, wo sie nur ihre Produkte verkaufen.
Bei der Beurteilung dieser Vereinbarung waren sich die Akteurinnen nicht besonders einig. Der US-Präsident Joe Biden sprach von einem grossen Sieg für «die Arbeiter und Mittelklassefamilien auf der ganzen Welt»; als eine Vorlage für den Club der reichsten Länder beurteilte dagegen das auf Steuergerechtigkeit spezialisierte NGO Tax Justice Network die Vereinbarung.
Bundesrat Ueli Maurer wiederum gab bekannt, dass eigentlich so gut wie nichts passiert sei: «Die Medien haben erstaunlich hektisch reagiert. (…) Ich habe bereits 2019 eine Arbeitsgruppe eingesetzt.» Während die Steuerspezialisten des Beratungsunternehmens KPMG von einer «bedeutenden Veränderung» schrieben: der erste Systemwechsel im internationalen Steuerrecht in hundert Jahren.
Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz sagte: «Ich bin sehr, sehr glücklich!» Worauf die NZZ schrieb: «Wenn der deutsche Finanzminister Olaf Scholz ‹sehr, sehr glücklich› ist, dann ist das für die Steuerzahler nicht unbedingt ein gutes Omen.»
Wer hat recht?
Sehr wahrscheinlich: alle.
Das System
Wo die Steuerspezialistinnen der KPMG mit Sicherheit recht hatten: Die Mindeststeuer ist die grösste Neuheit im internationalen Steuerrecht seit hundert Jahren.
Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, einigten sich die grössten Handelsnationen darauf, Doppelbesteuerung möglichst zu vermeiden, um den Handel nicht abzuwürgen. Und sie legten fest, dass Gewinne in erster Linie am Ort ihrer Erwirtschaftung versteuert werden sollten. Und in zweiter Linie am Ort des Hauptsitzes.
Nur geschah das noch in einer Welt der rauchenden Kamine. Exportgüter waren meist entweder Rohstoffe oder dann massive Dinge, nicht selten aus Stahl. Für alltägliche Waren war der Transport zu teuer, zu langsam, oder die Zollgebühren waren zu brutal. Dazu lag der nächste Weltkrieg nicht fern.
Falls ein Konzern sich also ins Ausland wagte, dann fast immer mit dem Bau einer Filiale oder Fabrik. Die über die Grenze verschobenen Gelder waren tatsächlich Investitionen, ein organisatorischer Kraftakt und kein geringes Risiko. Das fesselte auch mächtige Konzerne an das Land, in dem sie gross geworden waren.
Was den Regierungen die Macht gab, die Firmensteuern festzulegen. In den wildesten Zeiten des Nachkriegsbooms lagen sie weltweit stets über 50 Prozent, noch Anfang der 1980er-Jahre im Schnitt bei 40 Prozent.
Doch das ist tiefe Vergangenheit.
Heute liegen sie im Schnitt bei 24 Prozent. Doch kein ernst zu nehmendes Unternehmen zahlt auch nur annähernd so viel. Die Faustregel: Je grösser, mächtiger und profitabler ein Konzern ist, desto weniger Steuern zahlt er. In den USA zahlten letztes Jahr von den 200 grössten Konzernen 55 keinen einzigen Dollar an Gewinnsteuern.
Man könnte es auch das Leona-Helmsley-Prinzip nennen: Nur kleine Firmen zahlen Steuern.
Als die Milliardärin Leona Helmsley 1989 wegen Steuerhinterziehung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, soll dies nicht zuletzt wegen eines stolzen Satzes geschehen sein: «Nur kleine Leute zahlen Steuern.»
Helmsley bestritt, das je gesagt zu haben. Doch niemand glaubte ihr. Die Immobilienkönigin war berüchtigt für ihren Geiz, ihre Boshaftigkeit, ihre 21-Zimmer-Villa. Da sie aber die Handwerker nicht zahlte, lieferten diese ihre Schattenbuchhaltung an die Behörden.
Helmsley starb 2007. Zwei ihrer Enkel hatte sie enterbt. Der Rest bekam nur Peanuts. Ihrem Schosshund Trouble, ein Tier, das regelmässig Angestellte biss, vermachte sie 12 Millionen Dollar, was ein Gericht dann auf 2 Millionen herunterstutzte.
Von A nach B und zurück
Der Grund, warum man Profis an die Steuern lassen sollte: um nicht wie Frau Helmsley zu enden. Sondern seine Steuern völlig legal zu vermeiden.
Wobei illegale und legale Steuerminimierung eines gemeinsam haben. Der wichtigste Trick ist der Aufbau von Komplexität. Beim Verstecken von Schwarzgeld läuft das vergleichsweise einfach: Man hat die Tarnfirma im einen Land, deren Strohmänner im zweiten, und das Geld liegt im dritten.
Für legale Steuervermeidung nutzt man am elegantesten die bereits natürlich vorhandene Komplexität als Konzern.
Sagen wir: Sie haben eine höchst profitable Tochterfirma im Land A. Und eine andere Niederlassung im Steuerparadies B. Wie schaffen Sie es, dass Sie in A keine Steuern zahlen müssen? Und stattdessen alles in B deklarieren können, wo Sie vergleichsweise nichts zahlen?
Die eigene Lieferkette liefert bereits beste Möglichkeiten. So kann etwa Ihre Firma in B der Schwester in A alles Mögliche liefern – zum Beispiel Rohstoffe oder Ersatzteile, zu möglichst hohen Preisen. Oder ihr superbillig die Produkte abkaufen.
Dabei müssen die Produkte das Steuerparadies B nie gesehen haben. So ist das bei weitem bedeutendste landwirtschaftliche Exportprodukt der Schweiz: Rohkaffee. Das Städtchen Zug ist das Welthandelszentrum für Kaffee: Rund drei Viertel der weltweiten Ernte laufen hier durch. Und werden irgendwie besteuert beziehungsweise nicht besteuert. (Ebenso ist die Schweiz die weltgrösste Importeurin und Exporteurin von Eisenerz, Kupfer, Aluminium und Gold.)
Fast völlig frei sind Sie, falls Sie per Schiff transportieren. Auf hoher See können Sie für Ihre Fracht Land und Währung fast beliebig zuordnen.
Sie lassen Ihre Firma in A bei Ihrer Firma in B einen Kredit aufnehmen. Worauf A Jahr für Jahr einen hohen Zins nach B überweist.
Noch einfacher: Sie überweisen Management- oder Beratungsgebühren für A nach B. (So etwa beriet der Biermulti SAB Miller seine Brauerei in Ghana von Zug aus – durch eine konzerneigene Consultingfirma ohne einen einzigen Berater.)
Sie können aber auch in A in der Buchhaltung kreativ werden: Facebook etwa deklarierte Aktienoptionen für Mitarbeiterinnen als Lohnbestandteil und konnte sich allein dadurch für fast 5 Jahre von der Gewinnsteuer befreien.
Doch die wichtigsten Instrumente sind: die Patent- sowie die Lizenzbox. Sie richten in einem Tiefsteuerland eine solche ein – und verlangen danach von allen Konzerntöchtern Jahr für Jahr happige Lizenzabgaben für die Verwendung der eigenen Maschinen und Methoden beziehungsweise der eigenen Marke. (Auf die dort parkierten Gelder zahlen sie dann nur noch einen kleinen Teil der bereits tiefen Gewinnsteuer – etwa in Irland 6,25 Prozent statt 12,5 Prozent.)
Natürlich können Sie auch – wie vor einigen Jahren die grossen Internetkonzerne Apple, Google, Facebook, Paypal – kombinieren. Diese gründeten in der Karibik zwei Tochterfirmen in Irland, zwischen die wiederum eine Patentbox in den Niederlanden geschaltet wurden. (Das nennt sich dann «Double Irish with a Dutch Sandwich»).
Was heisst:
Kein multinationales Unternehmen versteuert seinen Gewinn hauptsächlich in den Ländern, in denen er erarbeitet wurde.
Kein multinationales Unternehmen zahlt den offiziellen Satz. Nicht in Hochsteuerländern, aber auch nicht in Steueroasen. (Irland verlangt 12,5 Prozent Gewinnsteuer, Zug 11,9 Prozent – aber in der Realität zahlen viele Konzerne nur einstellige Beträge.)
Kein multinationales Unternehmen gründet irgendwo noch einfach aus unternehmerischen Gründen Filialen oder Fabriken – ohne sich vorher Sonderkonditionen in Sachen Steuern, Infrastruktur oder auch Arbeits- und Umweltgesetzen auszuhandeln.
Die von den Firmen eingesparten Summen sind längst derart massiv, dass Steuervermeidung heute zu den Kernkompetenzen eines multinationalen Unternehmens gehört. Also in der Praxis ein Teil des Kerngeschäfts ist.
Kein Wunder, werden die Konzerne immer kompetenter darin.
Wow!
Perfekt angepasst waren die im 21. Jahrhundert gegründeten Tech-Giganten: Facebook, Amazon und Co. Sie waren nicht nur geschäftlich Weltspitze, sondern auch die führenden Spezialisten in Sachen Steuervermeidung – schon dadurch, dass sie für den weltweiten Verkauf keine physische Präsenz brauchten. Und deshalb die Steuersituation fast beliebig optimieren konnten. (Das «Double Irish with a Dutch Sandwich» etwa sparte Google allein 2011 rund 2 Milliarden Dollar Steuern.)
Aber auch die weniger mobile Konkurrenz lernte. Und zwar immer schneller.
Hier nur ein paar Zahlen und Fakten:
Im Jahr 2000 machte die Unternehmenssteuer in den USA noch rund 10 Prozent der Steuereinnahmen aus. Heute sind es gerade noch 6 Prozent.
Im Jahr 2000 schätzte die OECD den Anteil der Unternehmensgewinne, die amerikanische Firmen in Steueroasen verschoben, auf 30 Prozent. Heute auf 60 Prozent.
Wie bereits gesagt: 55 der 200 grössten US-Konzerne zahlten 2020 keinen Dollar Gewinnsteuer. Diese 55 Konzerne verzeichneten einen Vorsteuergewinn von 40,5 Milliarden Dollar. Die theoretisch dafür fällige US-Unternehmenssteuer (mit einem Satz von 21 Prozent) beträgt 8,5 Milliarden Dollar. Die Konzerne erhielten 2020 stattdessen Steuerrabatte von 3,5 Milliarden Dollar.
Laut IMF wurde 2019 ein Zehntel der weltweiten Unternehmensinvestitionen in Luxemburg getätigt: 4000 Milliarden Dollar.
Seit der Jahrtausendwende senkten 76 Staaten zum Teil aggressiv ihre Unternehmenssteuern.
Doch die bei weitem eindrücklichste Zahl zeigt, wie zentral das Geschäft der Steuervermeidung in den Organisationen selbst geworden ist: Im Jahr 1985 schätzte man, dass im Welthandel etwa 5 Prozent aller Transaktionen nicht zwischen Käufern und Verkäuferinnen stattfanden, sondern innerhalb desselben Konzerns.
Im Jahr 2000 schätzte man 40 Prozent.
2010 waren es 60 Prozent.
2017 schätzte die internationale Steuerberatungsfirma Deloitte, dass 80 Prozent des Welthandels innerhalb von Konzernen stattfanden. Und nicht zwischen ihnen.
Was heisst: 80 Prozent aller Handelstätigkeit dienen zu einem substanziellen Teil der Steuervermeidung.
Danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben! Falls Sie weiterhin Ihre Zeit verschwenden möchten, lesen Sie in Teil 2: +++ Wie man Steueroasen trockenlegt +++ Die Wiederkehr des tausendarmigen Teufels der Komplexität +++ Eine Sensation: Die Schweiz hat gelernt +++ Unsere Wirtschaftskriege: Wenn sich dein Gegner nicht einmal an dich erinnert +++