Was diese Woche wichtig war

Afghanistan gehört wieder den Taliban, Tausende Tote bei Erdbeben auf Haiti und der Amok­lauf eines Frauenhassers

Woche 33/2021 – das Nachrichten­briefing aus der Republik-Redaktion.

Von Reto Aschwanden, Theresa Hein, Marie-José Kolly und Marguerite Meyer, 20.08.2021

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Panik in Kabul: Taliban übernehmen die Macht

Darum geht es: Am Sonntag fiel die afghanische Hauptstadt Kabul an die Taliban – die somit nun praktisch das ganze Land unter ihrer Kontrolle haben. Zuvor hatte die radikal­islamische Bewegung eine Provinz­hauptstadt nach der anderen eingenommen. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani setzte sich in die Vereinigten Arabischen Emirate ab, als sich der Ring der Taliban um die Stadt schloss. In Kabul brach daraufhin Panik aus: Tausende Menschen stürmten den Flughafen, um auf dem Luftweg aus dem Land zu fliehen. Insbesondere lokale Mitarbeitende von westlichen Botschaften, von internationalen Truppen oder Nichtregierungs­organisationen fürchten, von den Taliban als Kollaborateure und Verräterinnen getötet zu werden. Die meisten von ihnen sitzen fest: Viele westliche Staaten haben bürokratische Hindernisse für Notfall-Visa – und die Taliban lassen Afghanen teilweise gar nicht erst zum Flughafen durch. Die Verzweiflung ist so gross, dass sich manche an startende Flugzeuge klammerten – die furchtbaren Bilder von Menschen, die vom Himmel fielen, gingen um die Welt.

Bern hat bisher einige Schweizer Angestellte vor Ort ausfliegen lassen. Für die lokalen Mitarbeitenden und ihre Familien wurden humanitäre Visa ausgestellt, aber zu spät – sie sitzen derzeit fest. Mehr über den Schweizer Umgang mit dem Machtwechsel in Afghanistan: im Briefing aus Bern.

Proteste in Kabul: Obwohl die Taliban Präsenz markieren, demonstrierten Einwohner am Donnerstag mit der Nationalflagge. Marcus Yam/Los Angeles Time/Getty Image

Warum das wichtig ist: Die Eroberung Kabuls durch die Taliban erfolgte viel rascher, als es Expertinnen vorher­gesagt hatten. Sie fällt zeitlich zusammen mit dem Abzug der internationalen Truppen (USA und Nato), der auf einem Deal des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump mit den Taliban basiert. Die afghanische Regierung unter Präsident Ghani – eigentlich von den USA gestützt – wurde nicht in diese Gespräche mit einbezogen. US-Präsident Joe Biden sagte in einer Rede diese Woche, er übernehme für die Situation in Afghanistan die Verantwortung – aber die Entscheidung für die Umsetzung der Rückzugs­pläne sei richtig gewesen.

Die Invasion der USA in Afghanistan fand 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York statt. Die Taliban regierten damals Afghanistan und schützten die Terror­gruppe al-Qaida um Osama Bin Laden, der für die Anschläge verantwortlich war. Seit dem Einmarsch gab es 240’000 Tote, 5,5 Millionen Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen.

Von aussen scheinen die Taliban das ganze Land im Eiltempo zurück­erobert zu haben. Doch über die vergangenen Jahre, Monate, Wochen hatten sie immer neue Gegenden und strategische Orte wie Grenz­posten unter ihre Kontrolle gebracht; teils mit Waffen­gewalt, teils durch Verhandlungen mit lokalen Macht­habern oder mit Taktiken wie Drohungen und Erpressungen.

Was bedeutet das für die afghanische Bevölkerung? Die Taliban sind eine mehrheitlich paschtunische Bewegung, die sich in den 90er-Jahren formte. Die Basis ihrer Bewegung: Sie sind Anhänger der deobandistisch-islamischen Theologie und legen ihre Religion äusserst streng aus. Während ihrer ersten Herrschaft in Afghanistan (1996–2001) gewannen sie Unterstützer, weil sie Korruption bekämpften und relative wirtschaftliche Sicherheit bieten konnten. Auf der anderen Seite: Strenge Körper­strafen für Diebe und Ehe­brecherinnen, strenge Kleider­vorschriften, ein Verbot von Musik und Kinos, Frauen durften oft nicht arbeiten, Mädchen nicht zur Schule. Heute fürchten sich viele Afghaninnen vor erneuten Menschenrechts­verletzungen. Bereits kam es zu ersten gezielten Tötungen durch die Taliban.

Was als Nächstes geschieht: Dass Afghanistan wieder unter der Kontrolle der Taliban ist, verändert auch die geopolitischen Kräfte­verhältnisse – insbesondere für die Nachbar­länder Pakistan, Indien, China und Iran. Bisher geben sich die neuen Machthaber moderat (warum das eine geschickte PR-Kampagne ist, erfahren Sie morgen Samstag in der Republik). In mehreren Städten und Regionen protestieren Afghanen gegen die Taliban, es formiert sich auch militärischer Widerstand. Der ehemalige Präsident Hamid Karzai hat sich zu Gesprächen mit Taliban-Vertretern getroffen. Ob es innerhalb des Landes zu kriegerischen Konflikten kommt oder ob eine Vereinbarung getroffen wird, ist unklar. Klar ist: Viele Afghaninnen versuchen zu flüchten. Der Bundesrat will im Gegensatz zu anderen Staaten nicht mehr Geflüchtete aufnehmen, mehrere Schweizer Städte wären jedoch zur Aufnahme bereit.

Auf Erdbeben folgt Tropen­sturm: Tausende Tote in Haiti

Darum geht es: Am Samstag wurde Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,2 erschüttert. Die Behörden meldeten bis Donnerstag­abend über 2200 Tote und Tausende Verletzte. Besonders betroffen ist die südliche Halbinsel mit den Städten Les Cayes und Jérémie. Unicef, das Uno-Kinder­hilfs­werk, geht davon aus, dass insgesamt 1,2 Millionen Menschen unter den Folgen leiden, darunter mehr als eine halbe Million Kinder. Sie haben nur beschränkt oder überhaupt keinen Zugang zu sicheren Unterkünften und sauberem Wasser.

Über 2000 Tote, unzählige Verletzte und Vermisste, über eine Million Obdachlose: Erdbeben­katastrophe in Haiti. David de la Paz/Xinhua/keystone

Warum das wichtig ist: Haiti gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und hat sich bis heute nicht vom Erdbeben von 2010 erholt. Damals starben 280’000 Menschen, über eine Million wurde obdachlos. 2016 und 2017 brachten Tropen­stürme Tod und Zerstörung. Politisch befindet sich das Land in einer Dauerkrise, Anfang Juli wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet. Wichtige Verbindungs­strassen werden von Kriminellen kontrolliert, was nun die humanitäre Hilfe erschwert. Zusätzliches Leid brachte am Dienstag ein Tropen­sturm, der Zelte zerstörte, die als Notunter­künfte dienten. Über­schwemmungen und Erdrutsche machten Strassen ins Katastrophen­gebiet unpassierbar. In den betroffenen Regionen fehlt es an Trinkwasser, Essen und medizinischer Versorgung.

Was als Nächstes geschieht: Verschiedene Staaten haben Unterstützung zugesichert. Die EU hat 3,2 Millionen Franken versprochen, die Schweiz sprach eine halbe Million als Sofort­hilfe. Die Glücks­kette hat ein Spenden­konto eröffnet.

Weitere Explosion: Libanon versinkt in Dunkelheit

Darum geht es: Am Sonntag explodierten im Akkar-Distrikt im Norden von Libanon Tanks mit Zehn­tausenden Litern Treibstoff. Die libanesische Armee war gerade dabei, den Treibstoff, den sie von Schmugglern beschlag­nahmt hatte, an die Bevölkerung zu verteilen. Mehr als 30 Menschen starben, rund 80 wurden verletzt.

Nach der Explosion im Dorf al-Talil: Erzürnte Bewohner haben das Haus des Mannes angezündet, dessen Benzintanks explodiert sind. picture alliance/dpa/Stringer

Warum das wichtig ist: Ein Jahr nach der Hafenexplosion in Beirut trifft das Unglück ein Land, das ohnehin schon am Abgrund steht. Die Spitäler sind überfordert, ihnen fehlt es an allem. Das Land ist auf Importe angewiesen, doch Produkte wie Medikamente und Benzin gibt es nur gegen US-Dollar. Diese sind seit zwei Jahren immer schwieriger zu erhalten, denn das libanesische Pfund verliert rapide an Wert. Gehälter und Pensionen haben sich wegen der Hyper­inflation in nichts aufgelöst, gut ausgebildete Arbeits­kräfte verlassen das Land. Hinzu kommen die Pandemie und die Folgen einer korrupten politischen Elite. Die Hälfte der Haushalte sind unter die Armuts­grenze gerutscht. Die Zentral­bank hat die Subventionen für den Treibstoff­import ausgesetzt, welche bisher den Preis fixierten. Das System der Zentral­bank, bei dem neues Geld aufgenommen wurde, um existierende Kreditoren zu bezahlen, ist zusammen­gekracht. Der Weltbank zufolge gehört die libanesische Wirtschafts­krise zu den schlimmsten der letzten 150 Jahre.

Was als Nächstes geschieht: Die politische Elite schafft es nicht, Reformen umzusetzen. Auch die jüngste Regierungs­bildung wird blockiert, wodurch auch die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungs­fonds für Wirtschafts­hilfen ausgesetzt sind. Libanon schlittert weiter in Richtung failed state – ein Staat, der die wichtigsten Grund­bedürfnisse seiner Bewohnerinnen nicht decken kann.

Amoklauf: Sechs Tote in England

Darum geht es: Am Donnerstag letzter Woche tötete ein 22-Jähriger im südwest­englischen Ort Plymouth fünf Menschen. Der Mann hatte zunächst seine Mutter erschossen. Danach tötete er vier weitere Menschen in der Nachbarschaft, darunter ein dreijähriges Mädchen und dessen Vater. Zwei weitere Menschen verletzte er schwer. Bevor ihn die Polizei stellen konnte, erschoss sich der Täter. Es ist der tödlichste Amok­lauf mit Schuss­waffen in Gross­britannien seit über zehn Jahren.

Warum das wichtig ist: Die Tat wird mit der sogenannten Incel-Bewegung (involuntary celibates oder unfreiwillig Enthaltsame) in Verbindung gebracht, für die der Täter in sozialen Netzwerken Sympathien zeigte. Incels haben das Gefühl, zurück­gewiesen zu werden, und kultivieren einen Hass auf Frauen und Männer, die im Gegensatz zu ihnen sexuell aktiv sind. Häufig breiten sie ihre Gewalt­fantasien in Internet­foren aus. 2018 tötete ein selbst­erklärter Incel in Kanada zehn Menschen mit seinem Van, darunter acht Frauen. Auch in den Terror­manifesten der Attentäter von Utøya und Christchurch spielte Frauen­hass eine grosse Rolle. Zudem stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Schuss­waffen: Der Täter hatte erst im Juli seine Waffen­lizenz wieder erhalten, nachdem sie ihm im Dezember 2020 wegen versuchter Körper­verletzung entzogen worden war.

Was als Nächstes geschieht: In Gross­britannien wird nun diskutiert, ob die misogyne Incel-Bewegung als Terror­gefahr eingestuft werden könnte. Ein Staats­anwalt forderte die Polizei auf, durch Misogynie ausgelöste Gewalt in Zukunft schärfer zu beobachten. Das «Radicalisation Awareness Network» der Europäischen Union gab diese Empfehlung schon im Februar 2021 ab. Eine unabhängige Untersuchungs­kommission soll ausserdem klären, wie es passieren konnte, dass der Täter so rasch wieder in den Besitz einer Schuss­waffe kommen konnte. Britische Politikerinnen wollen die Vergabe von Waffen­lizenzen jetzt erschweren, dabei sollen auch die Social-Media-Accounts von Antrag­stellern überprüft werden.

Zum Schluss: Corona – bad news

Ein paar Monate lang sah es richtig gut aus mit diesem Virus: Das ist jetzt vorbei. Trotz Sommer und trotz Impf­kampagne. Zunächst stiegen sie sachte, die Fallzahlen, Anfang Juli konnte man mit etwas gutem Willen und einer guten Portion Glas-halb-voll noch hoffen, dass schon nichts schiefgehen wird. Aber seit Anfang August zeigt die Kurve wieder steil nach oben, die Schweiz zählt an die 3000 tägliche Neuinfektionen. Das allein wäre nicht gerade erfreulich, aber gut verkraftbar – wenn die schweren Fälle nicht zunähmen. Aber auch die Zahl der Spital­eintritte steigt. Die für heute schlechteste Nachricht: Die Zahl der «kritisch kranken Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf den Intensiv­stationen der Schweiz» habe «sehr stark» zugenommen, schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Intensiv­medizin am Donnerstag in einer Stellung­nahme. In ersten Kantonen droht bereits eine neue Überlastung. Und es seien immer jüngere Patienten, die intensiv­medizinisch behandelt werden müssten. Die allermeisten seien nicht gegen das Virus geimpft. Für das Republik-Nachrichten­briefing heisst das: Ab kommendem Freitag führen wir den «Corona-Lagebericht» wieder ein.

Was sonst noch wichtig war

  • Litauen: Die Grenzwache berichtet, Polizisten aus Belarus hätten Migrantinnen ins Land gedrängt und dabei selber litauischen Boden betreten. Schon länger wirft Litauen seinem Nachbar­staat vor, als Rache für die EU-Sanktionen Migranten aus dem mittleren Osten nach Belarus zu fliegen, um sie anschliessend ins EU-Land Litauen zu schaffen.

Die Top-Storys

Schlaglicht auf Bomben­geschäfte Vor einem Jahr stellte die WOZ ihren Rüstungs­report ins Netz: eine einzig­artige Übersicht zu den Unternehmen, die Kriegs­material aus der Schweiz exportieren. Und weil das Thema von anhaltender Aktualität ist – letztes Jahr stiegen die Waffen­exporte von 730 auf 900 Millionen Franken – hat die WOZ den Rüstungs­report zu einem Recherche­portal für die Öffentlichkeit umgebaut.

Die Madonna mit dem langen Hals Früher haben die Künstler noch ordentlich gemalt. Nicht so durch­geknalltes Zeug, bei dem weder Perspektiven noch Proportionen stimmen. Könnte man meinen, stimmt aber nicht: Schon die alten Meister nahmen sich Freiheiten in der Darstellung. Wie sie das taten, zeigt die «New York Times» in einem Beitrag über Parmigianinos «Madonna dal collo lungo». Und demonstriert dabei, wie sich die Möglichkeiten des «Scrollytelling» formvollendet einsetzen lassen.

Selbstbedienungs­laden FC Basel Lange Zeit war der FCB sportlich und wirtschaftlich der Platz­hirsch im Schweizer Fussball. Dann der Fall: In vier Jahren verbrannte der Club 77 Millionen Franken. Nun räumt ein Zürcher auf. Dani Büchi entlässt Leute, kürzt Löhne und spricht in einem Interview mit der «Basler Zeitung» ungewohnten Klartext: «Der FC Basel war in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht ein Selbst­bedienungsladen

Illustration: Till Lauer

Was diese Woche wichtig war

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