Die Zerstörungsmaschine
Der grösste Medienkonzern der Schweiz geht gegen Ex-Politikerin und Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin vor, sie wird mit allen Mitteln diskreditiert. Was sagt das über den Zustand des Schweizer Journalismus?
Von Daniel Ryser, 06.08.2021
Dieser Beitrag handelt von einer Kampagne der TX Group, des grössten privaten Medienkonzerns der Schweiz. Die Gruppe besitzt neben «20 Minuten» sämtliche Titel der Tamedia und kontrolliert ein Redaktionsnetzwerk mit einer täglichen Auflage von über einer Million.
Ziel der Kampagne mit Artikeln im «Tages-Anzeiger», in «20 Minuten», «Berner Zeitung», «Basler Zeitung» und «SonntagsZeitung»: die Zuger Ex-Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin. Der Konzern, beziehungsweise die für ihn tätige Journalistin Michèle Binswanger, befindet sich in einem Rechtsstreit mit der heutigen Netzaktivistin, die sich mit ihrem Verein Netzcourage gegen Hatespeech engagiert.
Auf Spiess-Hegglin wurde in den letzten Wochen in Titeln der TX Group extremer medialer Druck aufgebaut, und SVP-Nationalrat Andreas Glarner kündigte in der Folge an, er werde im Parlament die Forderung stellen, dem Verein Netzcourage die staatlichen Teilsubventionen zu streichen.
Jolanda Spiess-Hegglin wurde vor fast sieben Jahren zum Opfer einer Medienkampagne, die das zweitgrösste private Medienhaus der Schweiz, der Ringier-Konzern, gegen sie lanciert hatte. Ringier wurde dafür wegen «schwerer Persönlichkeitsverletzung» verurteilt, musste Genugtuung bezahlen und hat sich öffentlich entschuldigt. Auch Philipp Gut, der frühere Vize-Chefredaktor der «Weltwoche», wurde in der gleichen Sache wegen «übler Nachrede» verurteilt. Dass sich Schweizer Medien in schwerwiegender Weise an Persönlichkeitsrechten von Jolanda Spiess-Hegglin vergangen haben, ist inzwischen durch zahlreiche juristische Verfahren immer wieder bestätigt worden.
Und jetzt die neue Kampagne: Innerhalb von gut drei Wochen sind nicht weniger als acht Artikel gegen Spiess-Hegglin erschienen. Woher kommt der unbedingte Wille, die Ex-Politikerin erneut an den medialen Pranger zu stellen? Was soll diese aggressive Artikelserie rechtfertigen? Und was bedeutet es für den öffentlichen Diskurs in der Schweiz, wenn die TX Group ihre erdrückende Meinungsmacht dazu einsetzt, die Interessen des Konzerns oder Interessen einzelner Konzern-Journalistinnen zu vertreten?
Diese Geschichte muss präzis erzählt werden, aus Fairness gegenüber Spiess-Hegglin, aber auch weil ihre Bedeutung weit über diesen Fall hinausgeht.
Die Kampagne der TX Group macht offensichtlich, wie stark die heutige Medienkonzentration den öffentlichen Diskurs in der Schweiz verändert hat. Am deutlichsten war dies zu erkennen, als der Konzern während ebendieser Kampagne plötzlich begann, in zwei Artikeln den Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried anzugreifen. Die Botschaft: Legst du dich mit uns an, schlägst du dich auf die falsche Seite – dann greifen wir dich an.
Dieselben, die ständig und laut die «Cancel-Culture» denunzieren, die sich über «Mobs» in sozialen Netzwerken ereifern, weil dort missliebige Meinungen attackiert werden, «canceln» selbst mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht. Und diese Macht besteht in ihrem Fall nicht bloss aus ein paar Twitter-Accounts, sondern aus grossen Zeitungen und Onlineportalen in Bern, Basel, Zürich und anderen Städten der Schweiz.
Ein weiteres, sehr grundsätzliches Problem: Immer noch arbeiten viele vernünftige Stimmen des Schweizer Journalismus bei Tamedia, aber während der ganzen neuen Spiess-Hegglin-Kampagne, die von Verzerrungen, Falschbehauptungen und Unterschlagungen geprägt war, wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber geklagt, dass man das Vorgehen der eigenen Redaktionsleitung unverhältnismässig oder falsch finde. Die ansonsten so wortmächtigen und kritischen Journalisten verstummen auf allen Kanälen, wenn es ans Eingemachte der TX-Konzerninteressen geht.
Gefühlt bedeutete dies: alle gegen eine.
Es ist ein neuer Tiefpunkt für dieses Metier. Für die Schweizer Medienbranche. Für Tamedia.
Doch beginnen wir von vorn.
Das Raunen von «virtuellen Scheiterhaufen» und «medialen Hinrichtungen»
Am 3. September 2020 bestätigte das Zuger Kantonsgericht eine superprovisorische Verfügung, die es der «Tages-Anzeiger»-Journalistin Michèle Binswanger untersagte, ein Buch zu schreiben über die Vorkommnisse an der Zuger Landammannfeier im Jahr 2014.
Bei einer weiteren Durchleuchtung dieser Angelegenheit, an der kein öffentliches Interesse bestehe und in deren Rahmen es bereits zu schweren Persönlichkeitsverletzungen gekommen sei, so urteilte das Gericht, müsse davon ausgegangen werden, dass die Persönlichkeitsrechte von Jolanda Spiess-Hegglin im geplanten Buch erneut verletzt würden.
Während der Auseinandersetzung um diese superprovisorische Verfügung hatte die Autorin des geplanten Buchs im Mai 2020 Spiess-Hegglin auf ihrem privaten Twitter-Kanal vorgeworfen, diese bezichtige seit fünfeinhalb Jahren einen Unschuldigen der Vergewaltigung. Wofür gegen Binswanger gerade jetzt, Ende Juli 2021, während der laufenden Kampagne, ein Strafbefehl erlassen worden war, weil sie nach Auffassung der Basler Staatsanwaltschaft Jolanda Spiess-Hegglin verleumdet hat.
Tamedia zieht die Sache weiter und hat Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben, und weil der Rechtsstreit längst auch eine Angelegenheit von weit rechts gegen links ist, bewertete SVP-Nationalrat Andreas Glarner den Strafbefehl gegen Binswanger auf Twitter als rein politisch, weil aus dem «links durchseuchten Basel» stammend.
Michèle Binswanger, ein Detail, das wesentlich dafür steht, wie diese ganze Kampagne zustande kam, nannte sich nach dem Urteil des Zuger Kantonsgerichts, das ihr verbot, ein Buch über die Vorgänge an der Zuger Landammannfeier zu schreiben, ab September 2020 auf Twitter fortan (und bis vor zwei Wochen) «Jeanne d’Arc der Pressefreiheit».
Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, wurde 1431 wegen der «Verbreitung von Irrlehren» auf dem Marktplatz von Rouen nach einem Urteil von Inquisitoren lebendig verbrannt.
Es ist dieses Selbstverständnis, das auch Tamedia in den letzten Wochen kultiviert hat und das sich wie ein roter Faden durch diesen Medienskandal zieht: Journalistinnen, die sehr viel Macht und einen Konzern mit einer Gesamtauflage im Millionenbereich im Rücken haben, sind es gewohnt, das Wort zu führen und gehört zu werden. Vom grossen Durcheinanderreden in den sozialen Medien fühlen sie sich offenbar am eigenen Leib bedroht.
Michèle Binswanger bezeichnete etwa die Twitter-Angriffe und Drohungen gegen die Schriftstellerin J. K. Rowling (es ging um ihre Haltung gegenüber Transmenschen) als einen Mob, der «die Autorin auf dem virtuellen Scheiterhaufen brennen sehen» wolle. An anderer Stelle hatte Binswanger bereits einmal geschrieben, wenn man etwas Falsches sage, sei das wie eine «mediale Hinrichtung».
Ein weiteres Kapitel der Verfestigung dieser Weltsicht: Michèle Binswanger und der «SonntagsZeitung» unterlief ein peinlicher handwerklicher Fehler: ungenügende Quellenprüfung. Das kann vorkommen; aber auch das gehört zu dieser Geschichte, um ihre weitere Eskalation nachvollziehen zu können.
Anfang Mai publizierte Binswanger eine Reportage über eine Flugbegleiterin, die wegen ihrer Arbeit so viele Covid-19-Tests habe machen müssen, dass ihre Nasengänge jetzt geschädigt seien und sie nun nicht mehr arbeiten könne. Sie habe Panik vor den Tests, und sie werde überall angegriffen, weil sie auch keine Maske mehr tragen könne. Zum Beleg legte die Flugbegleiterin der Journalistin ärztliche Atteste vor.
Die Geschichte ging selbstverständlich viral. Was für eine arme Frau! Für Massnahmenskeptikerinnen war diese Story ein wahres Freudenfest. Doch leider war sie ein journalistischer GAU: «Megafon», die Zeitung der Berner Reitschule, machte auf Twitter publik, man habe sich das Facebook-Profil der Flugbegleiterin angeschaut, das voller Hetze und Verschwörungstheorien der fanatischen QAnon-Sekte sei, jener Sekte, deren Anhänger glauben, die Pandemie sei eine Erfindung, um unsere Kinder zu versklaven. Und unter anderem deren Anhänger am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmen wollten, um Politikerinnen zu erhängen.
Die ganze Geschichte brach in sich zusammen, und das Internet zerriss sich das Maul über die unbedarfte «SonntagsZeitung». Der Tamedia-Goliath lächerlich gemacht vom David «Megafon» – und das mit einer banalen Schnellrecherche.
Bei Tamedia aber wurde das nicht sportlich genommen. Statt den Fehler professionell einzugestehen und sich zu entschuldigen, antwortete man mit Ausflüchten, der Chefredaktor schwieg eisern – offenbar hielt man sich für das Opfer einer Verschwörung von linksradikalen Feministinnen, die es mit allen Mitteln auf Michèle Binswanger abgesehen hätten.
Der tief verwurzelte Glaube, «Cancel-Culture» werde zu einer existenziellen Bedrohung, gipfelte diesen Juli dann im Satz: «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil bedeuten.» Es war ein Gedanke, den Michèle Binswanger im Gespräch mit dem deutschen Publizisten Stefan Aust formulierte. Aust nahm das dankend auf und sprach in Bezug auf die Klimabewegung von «heiliger Selbstverwirklichung». Auch Aust sieht sich offenbar von der «Cancel-Culture» bedroht, obwohl er ein mächtiger und wortmächtiger Mann ist, dem unzählige Kanäle offen stehen, um sich zu äussern. Als einstiger «Spiegel»-Chefredaktor war er zeitweise der mächtigste Journalist im deutschsprachigen Raum. Aust sagte im Interview: «Es gab gerade eine Umfrage, die zeigte, dass die Hälfte der Bevölkerung der Meinung ist, sie könne ihre Meinung nicht mehr frei äussern.»
Wer reisst wann was aus dem Kontext?
Mal abgesehen davon, ob diese Beschreibung des öffentlichen Diskurses ihre Berechtigung hat oder überzogen ist (das soll hier nicht verhandelt werden): Wesentlich für die Geschichte sind die Sprachbilder von Hinrichtungen, Todesurteilen und Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen.
Der Satz, der Vorwurf, rechts zu sein, könne ein gesellschaftliches Todesurteil bedeuten, rief wieder die Macher des «Megafons» auf den Plan. Sie bastelten ein Twitter-Meme, um sich über die überdrehte Rhetorik lustig zu machen.
Ein Meme, das in seinem ursprünglichen Kontext harmlos war. Das aber in Zeiten, in denen in den sozialen Netzwerken alles sofort überschäumt und sich zudem ein Mediengrosskonzern angesichts der «Mobs» auf diesen Kanälen im Netz wie ein angeschossenes Reh fühlt, nur falsch verstanden beziehungsweise maximal einseitig ausgelegt werden konnte.
Das Meme bestand aus zwei Bildern. Auf dem linken Bild hatten die «Megafon»-Macher einen Text eingefügt: «Was der Rest der Welt sieht», und dann die Zeile: «He Michèle das stimmt gar nicht», um die Meinung darzustellen, dass rechts zu sein kein gesellschaftliches Todesurteil sei. Auf dem zweiten, dem rechten Bild fügten sie eine Fotomontage ein, um darzustellen, wie Michèle Binswanger die Welt sehe. Die Montage zeigte die Guillotinierung von Ludwig dem Sechzehnten während der Französischen Revolution – mit Binswangers Kopf anstelle jenes des Königs.
Es ging im Meme also offensichtlich nicht um einen Aufruf zur Gewalt gegen eine Journalistin, sondern um die satirische Darstellung des Selbstbildes einer Journalistin, die sich auf dem Scheiterhaufen sieht, während sie gleichzeitig eine sehr wortmächtige Stimme in der Medienlandschaft ist.
Das ist es. Mehr nicht. Das ist der Tweet, der die Artikelserie auslöste.
Eine Aufregung, die nur entstehen konnte, weil Jolanda Spiess-Hegglin diesen Tweet likte und die TX Group – sekundiert von der «Weltwoche» – nun exakt das tat, wovor sie angeblich warnte: Sie entriss das Guillotinen-Bild dem Kontext.
Während die betroffene Autorin selbst in ihrer ersten Reaktion auf den Tweet verlauten liess, sie habe erst ein paar Anläufe gebraucht, um ihn zu verstehen, und es dann nicht mehr so schlimm gefunden, lag genau darin dann aber das tatsächliche Problem des «Megafon»-Tweets: Man musste ihn viermal lesen, um zu realisieren, dass es sich hier nicht um einen Gewaltaufruf gegen eine Frau und Journalistin handelte, sondern um eine Satire. Und deshalb hagelte es in den sozialen Netzwerken von links bis rechts und auch aus dem Umfeld von Spiess-Hegglin bald heftige Kritik am Meme.
Nach 24 Stunden löschte «Megafon» den Tweet und entschuldigte sich dafür, namentlich auch bei Michèle Binswanger. Und auch Jolanda Spiess-Hegglin entschuldigte sich: dafür, als Geschäftsführerin von Netzcourage, einem Projekt gegen Hass im Netz, das Meme gelikt zu haben. Sie sei sich der Wirkung des Bildes nicht bewusst gewesen, der Like deshalb ein Fehler.
Damit hätte die Geschichte erledigt sein können.
Dann ging die Kampagne los.
Der Vergleich mit den Nazis
Zuerst warf die TX Group die eigene Journalistin mit clickbait der Meute zum Frass vor. Das ist das jämmerlichste Kapitel von allem, was noch folgen sollte.
Viele Journalistinnen waren froh, dass diese Fotomontage gelöscht war, weil kein Journalist ein solches Bild von sich im Netz sehen will. Doch nun publizierte «20 Minuten» als Teil der TX Group, die sich später, angeblich, um sich vor die eigene Journalistin zu stellen, sehr über dieses Bild enervieren sollte, einen Beitrag – und tat genau das, was eigentlich niemand wollte: Man trennte das Bild aus dem Meme-Kontext und publizierte frei stehend die Darstellung der geköpften Journalistin. Damit sorgte «20 Minuten» für maximale Verbreitung, inklusive der Behauptung, es sei zur Gewalt aufgerufen worden. Titel: «Michèle Binswanger. Berner Reitschule ‹köpft› Tagesanzeiger-Journalistin in Meme».
Der implizierte Gewaltaufruf, den man also angeblich habe verhindern wollen und weswegen man einen Tag später eine Strafanzeige gegen «Megafon» einreichte – man produzierte ihn für die Klickzahlen selbst.
Nun kam die Geschichte zum Laufen.
Auch «Weltwoche»-Redaktor Alex Baur griff sie auf und schrieb von «köpfen» und «Taliban». Baur, ansonsten ein grosser Freund von extremer Satire und radikalen Meinungen im Namen der Meinungsfreiheit, wollte hier von Satire und Meinungsfreiheit nichts wissen. Die «Weltwoche» schreibt seither konsequent von den «Taliban» der Reitschule, die zur «Köpfung» einer Journalistin aufgerufen hätten: eine Verdrehung, die keiner juristischen Prüfung standhalten dürfte.
Arthur Rutishauser, der Chefredaktor von Tamedia und «SonntagsZeitung», verfasste einen Kommentar mit dem Titel: «Das ist eine Grenzüberschreitung». Darin verglich er das Twitter-Meme mit dem Vorgehen der Nazis. Ebenso verglich er die missglückte Satire mit den Terroranschlägen auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo», weswegen man, quasi im Namen der Satire- und Meinungsfreiheit, Strafanzeige gegen die Satiriker des «Megafons» einreiche.
Es wird deutlich: Man musste alles so verdrehen und aufblasen und die schlimmsten Vergleiche beiziehen, IS-Terroristen, die Satiriker ermorden, die Taliban, die Nazis, damit da überhaupt eine Geschichte war.
Ein Teil der Linken sei so intolerant, dass er auf jeglichen Anstand verzichte und Volksverhetzung betreibe, wie man sie von Rechtsextremen erwarte, kommentierte Rutishauser – und «wie wir sie eigentlich seit 1945 bei uns überwunden glaubten». Den Vergleich mit dem Nationalsozialismus liess der «Tages-Anzeiger» löschen, ohne sich zu entschuldigen, ohne es überhaupt kenntlich zu machen. Wider alle journalistischen Standards.
Längst war das eigentliche Ziel markiert und worum es hier wirklich ging: «Dass sich Jolanda Spiess-Hegglin, ehemalige Politikerin, Journalistin und selbst ernannte Kämpferin gegen Hass im Netz, nicht zu schade war, den Tweet auch noch zu liken, ist beschämend.» Und weiter: «Fragwürdig ist es vor allem auch deshalb, weil die sogenannte #Netzambulanz des Vereins Netzcourage die nächsten zwei Jahre zur Hälfte vom Bund finanziert wird.»
Jolanda Spiess-Hegglin, deren Vergehen es war, einen Tweet gelikt zu haben, engagiert sich mit dem Verein gegen Hass im Netz, der sich in erster Linie gegen Frauen richtet, links wie rechts, die in der Öffentlichkeit stehen. Ein Projekt, die sogenannte Netzambulanz, die Opfern von Onlinehass quasi Schnellhilfe bietet, wird dabei zur Hälfte vom Bund unterstützt.
Christoph Mörgeli forderte in der «Weltwoche» umgehend: «Spiess-Hegglins Netzcourage soll die bezogenen 50’000 Steuerfranken zurückzahlen.»
Es hört nie auf
Auch das ist ein Teil der Story: Alex Baur, der konsequent von «Hetzcourage» schreibt, «SonntagsZeitungs»-Redaktionsleiter Andreas Kunz (enger Freund von Alex Baur und langjähriger Wohnungsmieter in dessen Haus), NZZ-Medienredaktor Lucien Scherrer – all jene, die nun aus verschiedenen Ecken feuerten, haben alle dieselbe Journalistenschule durchlaufen, wo die Abneigung gegen Jolanda Spiess-Hegglin seit Jahren offen gepflegt wird: die «Weltwoche». Scherrer etwa schrieb in der NZZ wegen des innerhalb von 24 Stunden gelöschten Twitter-Memes von einer «Hasskampagne». Andreas Kunz publizierte in der «SonntagsZeitung» einen Text, der Falschbehauptungen enthielt, wie sich im Nachgang zeigen sollte: Eine Woche später musste die «SonntagsZeitung» eine Gegendarstellung abdrucken.
Tamedia feuerte weiter aus allen Rohren.
Über die Steuergeldfrage berichtete bald mit einem halbseitigen Text auch die «Basler Zeitung» (ebenfalls Tamedia), und der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried bekam vom Tamedia-Produkt «Berner Zeitung» eine Breitseite ab, weil er es gewagt hatte, die «Megafon»-Stellungnahme in der Sache – die Erklärung, warum der Tweet gelöscht wurde – auf Twitter wie folgt zu kommentieren: «1:0 in glasklarer Analyse fürs Megafon gegen Rutishauser».
Die «Berner Zeitung» widmete dem Berner Stadtpräsidenten zwei Artikel: «Kontroverse um Megafon-Bildmontage: Von Graffenried setzt umstrittenen Tweet ab». Titel des Kommentars: «Erst denken, dann twittern». Von Graffenried, so der Tamedia-Lokalchefredaktor Simon Bärtschi in der «Berner Zeitung», legitimiere auf Twitter «eine üble Grenzüberschreitung».
In keinem einzigen der acht Artikel, die in den fünf Zeitungen der TX Group gegen Jolanda Spiess-Hegglin erschienen, war auch nur klein erwähnt, dass man sich als Konzern mit der Frau wegen des Binswanger-Buchprojekts in einer juristischen Auseinandersetzung befindet. In keinem einzigen. (Dass es eine juristische Auseinandersetzung gebe zwischen Binswanger und Spiess-Hegglin, erwähnte der Chefredaktor in seinem Kommentar, von Tamedia oder der TX Group war aber auch da nicht die Rede.)
Die Geschichte, auch der Angriff auf Alec von Graffenried, offenbart ein demokratiepolitisches Problem: Wer sich mit der TX Group anlegt, wird angegriffen. Ein Politiker, der für das «Spiess-Hegglin-Lager» Partei ergreift, muss dafür einen Preis bezahlen. Jolanda Spiess-Hegglin, die es gewagt hatte, juristisch gegen den Verlag vorzugehen, soll isoliert werden. Man will sie vermutlich toxisch machen.
Betreibt Arthur Rutishauser noch Journalismus, oder ist das blosse Konzern-PR angesichts eines laufenden Rechtsstreits? Ist ein Mann, der scheinbar so liederlich mit journalistischen Grundsätzen umgeht, noch tragbar als wichtigster und mächtigster Chefredaktor der Schweiz?
Das Vergehen von Jolanda Spiess-Hegglin war ein Like, für den sie sich entschuldigte. Bei den juristischen Auseinandersetzungen aber sieht es gut für sie aus: Gegen Binswanger wurde ein Strafbefehl wegen Verleumdung erlassen – den Tamedia anficht –, und das Buchprojekt ist durch das Urteil des Zuger Kantonsgerichts vorerst gestoppt.
«Seit bekannt ist, dass der Bund ein Projekt von Netzcourage zur Hälfte mitfinanziert, ist die Aufmerksamkeit immer grösser geworden», sagt Grünen-Nationalrätin Greta Gysin, Co-Präsidentin von Netzcourage. «Man hat offensichtlich nur auf einen kleinen Fehler von Jolanda Spiess-Hegglin gewartet, den man aufblasen kann: Man kramt alte Geschichten hervor, reisst sie aus dem Kontext, verdreht sie, verbreitet in der ‹SonntagsZeitung› nachweislich Falschinformationen, erhebt Beschuldigungen, ohne Belege zu liefern. Man kann darüber streiten, ob ihre Kommunikation wahnsinnig gut ist. Aber sie ist offensichtlich ein Feindbild für viele, vor allem für rechte Männer. Die ‹SonntagsZeitung› behauptete beispielsweise einfach, wer Spiess-Hegglin kritisiere, auf den würden Hacker angesetzt. Was für ein bizarrer Vorwurf. Es wird nicht wahrheitsgetreu berichtet. Jolanda hat deswegen auch immer wieder vor Gericht gewonnen.»
Sie fühle sich regelrecht ohnmächtig, sagt Nationalrätin Greta Gysin: «Tamedia weist in der gesamten Kampagne den laufenden Rechtsstreit nicht aus. Wir stehen in der Dauerkritik eines riesigen Konzerns, der überall Zeitungen besitzt und überall gegen uns schiesst, während wir uns eigentlich für die Opfer von Onlinegewalt einsetzen wollen. Diese Angriffe rauben uns sehr viel Energie.»
Vergangene Woche erschien in der «Aargauer Zeitung» ein Text, der darlegte, was in der «SonntagsZeitung» bis dato alles falsch war. Ein paar Tage später in der «SonntagsZeitung» die Gegendarstellung. Tamedia informierte gleichzeitig, dass man den Strafbefehl wegen Verleumdung anfechten werde, so wie man auch die Publikation des Buches zur Zuger Landammannfeier in einem Berufungsverfahren erkämpfen will.
Es wurde in diesen Tagen offenbar, dass es für Jolanda Spiess-Hegglin nie aufhört. Nachdem die Frau vor einem Jahr gegen den Ringier-Konzern vor Gericht wegen Persönlichkeitsverletzung gewonnen hat, nach all den Jahren des Irrsinns, die wohl auch dazu beitragen, dass Spiess-Hegglin, die selbst im Netz zum Teil heftig angefeindet und bedroht wird, heute in den Augen von vielen kommunikativ über das Ziel hinausschiesst – führt nun der zweite Schweizer Verlag eine Kampagne gegen diese Frau und wird damit nicht aufhören. Flankiert, aus politischen Motiven, von der «Weltwoche».
Bis eigentlich was passiert? Und warum?