Über dem Gesetz

Ein internes Dokument zeigt: Die Zürcher Polizei filmte wochenlang heimlich und mit ungenügender Rechts­grundlage die Öffentlichkeit. Dabei umging sie die Regeln für Videoüberwachungen.

Von Carlos Hanimann und Daniel Ryser, 26.03.2019

Kürzlich berichtete die Republik, dass die Langstrasse im Zürcher Kreis 4 komplett überwacht sei. Private Video­kameras erfassen fast jeden, der sich im Viertel bewegt. Rechtlich ist das eine heikle Angelegenheit, denn das Filmen des öffentlichen Raums durch Private ist streng reglementiert und nur eingeschränkt möglich.

Nicht nur Private müssen sich an Vorschriften halten, wenn sie den öffentlichen Raum überwachen wollen – sondern vor allem auch die Polizei. Recherchen der Republik zeigen nun, dass die Hüter des Gesetzes es manchmal selbst nicht so genau nehmen mit dem Recht.

Ein kaputter Rückspiegel als Anlass

Zürich, Sonntag, 16. September 2018, 4.30 Uhr, eine laue Spätsommer­nacht: An der Ecke Langstrasse-Sihlhallen­strasse will die Polizei eine Person kontrollieren, direkt vor dem ehemaligen Hotel Rothaus, in dem eine Bar, ein Imbiss und die Republik-Redaktion eingemietet sind. Die Polizisten werden von mehreren Personen bedrängt, rufen einen Streifen­wagen zur Verstärkung, setzen «Reizstoff» ein, wie sie später festhalten. Bei der Aktion geht der Rückspiegel eines Polizei­wagens kaputt.

Sachbeschädigung, Hinderung an einer Amts­handlung – juristisch bewertet sind das Vergehen. Doch die Polizei nimmt den Vorfall zum Anlass, fortan das Rothaus und den angrenzenden öffentlichen Raum während Wochen per Video zu überwachen.

Hunderte von Passantinnen und Bargästen wurden dabei heimlich gefilmt – wie sie auf den Bus warten, sich mit Freunden unterhalten, ein Bier trinken. Vermutlich geraten in dieser Zeit auch die Journalisten der Republik und ihre Quellen in den Fokus der Polizei. So genau weiss man das nicht.

Auf Anfrage bestätigt die Polizei, dass eine Observation stattgefunden hat. Details will sie allerdings nicht bekannt geben. Polizei­sprecher Marco Cortesi bestreitet, dass die Polizei das verfassungsmässig geschützte Redaktionsgeheimnis verletzt habe, «da sich die Überwachung weder gegen die Redaktion der Republik noch auf den entsprechenden Personen­verkehr richtete». Dann behauptet Cortesi, die Überwachung habe «weder die Liegenschaft noch die im Hotel Rothaus beherbergten Unternehmungen» betroffen. Doch Marco Cortesi lügt. Das zeigt ein Dokument, das der Republik vorliegt.

Die Polizei erdichtet sich eine No-go-Area

Das Dokument trägt den Titel «Antrag Observation mittels technischer Überwachungs­geräte». Es zeigt, wie die Polizei unzulässig die vorgesehenen Auflagen einer Video­überwachung umging, indem sie auf einen allgemein gehaltenen Paragrafen über polizeiliche Observationen auswich. Und wie sie selbst die dort festgehaltenen Regeln missachtete, als sie die erlaubte Maximal­dauer von dreissig Tagen für eine Observation deutlich überschritt.

Am 18. September 2018 schreibt ein Beamter der Sicherheits­abteilung der Stadt­polizei dem Kommandanten Daniel Blumer, dass der «Bereich Lang-/Sihlhallenstrasse» observiert werden müsse. Der Grund: Die Kreuzung und das Hotel Rothaus hätten sich «zu einem festen Treffpunkt militanter Anhänger des FC Zürich etabliert».

An Wochenenden seien bis zu fünfzig Personen vor Ort. Es hätten sich mehrere Schlägereien ergeben. Über den Vorfall mit dem Rück­spiegel schreibt der Beamte: Unter anderem sei zwei Tage zuvor auch eine Polizei­patrouille in den frühen Morgen­stunden bedrängt worden. Er «vermutet» eine «Verbindung» zwischen den Fussball­fans und dem Imbiss im Rothaus.

Weiter rechtfertigt die Polizei die Video­überwachung mit der Aussage, sie könne an diesem Ort «nur noch mittels eines Zusammen­zugs von mehreren Einsatz­kräften» arbeiten. «Zur Gefahren­abwehr und zur Erkennung möglicher Straf­taten und Straf­täter» müsse die Kreuzung deshalb technisch überwacht werden.

Die Ecke der Stadt, an der sich Polizei­streifen an Wochen­enden gegenseitig den Weg versperren und an der sie so viele Personen kontrollieren wie nirgends sonst, die Ecke, an der Tausende Party­touristen feiern und die im Eiltempo gentrifiziert wird, die Ecke, an der Journalistinnen der Republik arbeiten und Quellen treffen – ausgerechnet diese Ecke erklärt die Polizei zu einer No-go-Area, was übersetzt heissen soll: Ein Ausnahme­zustand erfordert besondere Massnahmen. Ein Steilpass, um es mit den gesetzlichen Vorgaben nicht so genau nehmen zu müssen.

Kommandant Daniel Blumer zögert nicht. Am nächsten Tag, dem 19. September, unterschreibt er den Antrag: «Anordnung polizeiliche Observation gem. § 32 Abs. 1 und 2 PolG». Befristet bis: 31. Oktober 2018.

Kurz darauf lässt die Stadtpolizei in einem benachbarten Haus eine Kamera anbringen. Video­sequenzen, die die Republik einsehen konnte, zeigen, gestochen scharf, den Eingang zum Rothaus. Sie zeigen, dass Gäste der Bar beim Betreten und Verlassen gefilmt wurden, man sieht, wie sie auf der Strasse stehen, reden, trinken, rauchen, auf den Bus warten.

Sechs Wochen verdeckte Video­überwachung: Man kennt das sonst nur aus dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen – und selbst dort müssen sich die Überwachungs­aktionen gegen klar definierte Ziel­personen richten. Das Vorgehen ist ein massiver Eingriff in die Grund­rechte der Bürgerinnen und Bürger. Es lässt den Verdacht aufkommen, dass die Polizei aufgrund des politischen und massiven medialen Drucks zum Thema Fussball­fans den Grundsatz der Verhältnis­mässigkeit über den Haufen geworfen hat und sich damit rechtswidrig verhält.

Wie die Polizei die Politik umgeht

Bereits im Juni 2018 hatten Polizei­kommandant Daniel Blumer und der damalige Sicherheits­direktor Richard Wolff (den mittlerweile die Grüne Karin Rykart ersetzt hat) angekündigt, neue Wege gehen zu wollen, um gewalttätige Auseinander­setzungen zwischen Fussball­fans zu bekämpfen.

Der Plan: An «Brenn­punkten» sollen temporär Kameras aufgestellt werden.

Die Ankündigung sorgte für Aufregung und Fragen: Ist es rechtens, wenn die Polizei präventiv den öffentlichen Raum überwacht, in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmal eine Straftat filmt? Wann und wo sollen temporäre Kameras aufgestellt werden? Und was heisst das überhaupt: «temporär»?

Die Gemeinderäte Luca Maggi (Grüne) und Christina Schiller (AL) verlangten Klärung vom Stadtrat. Worauf dieser dann erklärte, dass verdeckte polizeiliche Observationen «grundsätzlich höchstens einen Monat» dauern dürften. Eine Verlängerung sei möglich, allerdings nur mit Zustimmung des Kommandanten.

Doch im vorliegenden Fall ging es nicht um eine Verlängerung. «Es ist nicht rechtens, dass der Kommandant von Beginn an eine Überwachung anordnet, die die dreissig Tage überschreitet», sagt Christina Schiller.

Schiller beobachtet schon seit Jahren, dass der Kommandant der Stadt­polizei mehr Kameras aufstellen will, um den öffentlichen Raum zu überwachen – Grund­rechte hin oder her. «Er ist mit diesem Wunsch immer an der Politik gescheitert», sagt die Politikerin. «Nun scheint er sich ein vermeintliches Schlupf­loch im Gesetz gesucht zu haben, um seinen Willen doch noch durchzusetzen. Die Polizei arbeitet mit Überwachungen, die politisch nicht legitimiert sind.»

Es sei ärgerlich, wie intransparent Polizei und Sicherheits­departement auf politische Fragen reagierten, sagt Luca Maggi. Auf einen detaillierten Fragen­katalog hätten er und Schiller letzten Sommer nur eine Antwort­palette erhalten, nicht aber konkrete Antworten, worauf derartige Überwachungen gründen. «Uns wurde Sand in die Augen gestreut, und es wurden absichtlich keine konkreten Antworten geliefert. Das macht den Anschein, dass man etwas unter den Teppich kehren will.»

Anwalt: Überwachung war rechtswidrig

Viktor Györffy, Rechtsanwalt und Präsident des Vereins Grundrechte.ch, kritisiert das Vorgehen der Polizei ebenfalls. Sie stütze sich bei der Überwachung des Rothauses auf Paragraf 32 des Polizeigesetzes, einen allgemein gehaltenen Artikel zur verdeckten Observation. Eine äusserst wacklige Grundlage.

Zur Verhinderung und Erkennung von Verbrechen und Vergehen oder zur Gefahren­abwehr kann die Polizei Personen und Sachen ausserhalb des Geheim- oder Privat­bereichs im Sinne von Art. 179quater StGB offen oder verdeckt beobachten.

Der allgemein gehaltene Paragraf 32 aus dem Zürcher Polizeigesetz.

Der Artikel dient eigentlich der Observation von einzelnen konkret anvisierten Personen oder Vorgängen. Wird aber eine breite Öffentlichkeit überwacht, gelten andere, wesentlich präzisere Regeln: Das Gesetz sieht beispielsweise vor, dass die Öffentlichkeit auf Video­überwachung hingewiesen werden muss und die direkt betroffenen Personen informiert werden müssen. Beides ist in diesem Fall nicht geschehen.

Der Datenschutz­beauftragte Bruno Baeriswyl, dem die Republik die Verfügung vorgelegt hat, kommt zum Schluss, dass es sich in diesem Fall nicht um eine Observation handle, wie das die Polizei schreibe. Nach seiner Einschätzung handelt es sich vielmehr um die im Gesetz strenger geregelte Video­überwachung des öffentlichen Raums. «Demnach sind auch Transparenz­anforderungen zu erfüllen», sagt Baeriswyl. Konkret: Die Öffentlichkeit hätte mit Hinweis­tafeln oder Ähnlichem darauf aufmerksam gemacht werden müssen, dass sie gefilmt wird.

Die Öffentlichkeit ist durch Hinweis­tafeln, Anzeigen auf Bild­schirmen oder in anderer geeigneter Weise auf den Einsatz der Audio- und Video­geräte aufmerksam zu machen.

Strengere Vorgaben zur verdeckten Video­überwachung in Paragraf 32b des Zürcher Polizeigesetzes.

Auch Grundrechts­experte Györffy sagt: «In der Regel heisst Observation, dass ein Polizist verdeckt filmt», sagt Györffy. «Es kann nicht sein, dass die Polizei eine Kamera aufstellt und das dann einfach als Observation deklariert.»

Der Anwalt ist überzeugt, dass die verdeckte Video­überwachung des Rothauses rechtswidrig war. «Die Polizei darf eine Video­überwachung nicht einfach als Observation deklarieren, um sich dann auf einen lascheren Gesetzes­artikel berufen zu können. Das ist eine unzulässige Umgehung der Vorschriften zur Videoüberwachung.»