«Das grosse Problem ist weniger, dass Putins Hände voller Geld sind. Sondern voller Blut»
Der russische Autor Sergei Lebedew schreibt brisante politische Geschichten, inspiriert von der Wirklichkeit. Ein Gespräch über Giftanschläge auf Oppositionelle, Russlands Verhältnis zum Westen, über Verdrängung und die blinden Flecken der russischen Literatur.
Von Simone Brunner (Text) und Kristin Bethge (Bilder), 30.06.2021
Im Rückblick hat es etwas Prophetisches, dass der russische Schriftsteller Sergei Lebedew bereits vor drei Jahren mit der Arbeit an seinem aktuellen Roman begann. «Das perfekte Gift» ist ein politischer Thriller über geheime Chemielabore, Agenten und Giftanschläge. 2020 erschien der Roman in Russland, ausgerechnet im Jahr, in dem der Kremlkritiker Alexei Nawalny in der sibirischen Stadt Tomsk mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Heute erscheint das Buch auf Deutsch.
Lebedew lebt derzeit in Deutschland. Das Gespräch findet über Video statt.
Herr Lebedew, Sie haben sich bisher mit den Abgründen der russischen Vergangenheit beschäftigt. Ihr neues Buch dreht sich um ein Phänomen der russischen Gegenwart: Gift als Waffe. Warum?
Ich wollte schon länger über etwas Aktuelles schreiben, habe immer wieder verschiedene Themen in Betracht gezogen und dann wieder verworfen. Dann kam das Jahr 2018 und die Nachrichten rund um den Anschlag in Salisbury …
… jener englischen Stadt, in der der russische Agent Sergei Skripal und seine Tochter Julia mit Nowitschok vergiftet wurden.
Da ist der Groschen für mich gefallen. Das lag vor allem an einem Detail: Wie damals bekannt wurde, war das Gift Nowitschok in einer kleinen russischen Militärstadt entwickelt worden, etwa 800 Kilometer südöstlich von Moskau: Schichany. Das hatte wohl für niemanden eine besonders grosse Bedeutung, aber bei mir schlug diese Information ein wie eine Bombe.
Warum?
Für mein letztes Buch «Kronos’ Kinder» habe ich mich intensiv mit den Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion auseinandergesetzt. Mit dem Friedensvertrag von Versailles 1919 war es Deutschland untersagt, gewisse Waffen herzustellen, zum Beispiel Panzer, aber auch chemische Kampfstoffe. Das führte zu einer geheimen Militärkooperation mit den Sowjets, 1927 wurde etwa ein streng geheimes deutsch-sowjetisches Chemiewaffen-Labor gegründet. Und wo? In Schichany! Die Rote Armee wollte Technologie und Know-how, die Deutschen ihre chemischen Kampfstoffe weiterentwickeln. Eine wirklich seltsame Freundschaft, die bis 1933 anhielt. Die sowjetische Chemiewaffenproduktion nimmt dort ihren Anfang. Das heisst, das Nervengift Nowitschok kommt nicht aus dem Nirgendwo, sondern hat diese besondere Abstammung, diesen Schatten der Vergangenheit.
Sergei Lebedew, 1981 in Moskau geboren, ist ein russischer Schriftsteller und Journalist. Er stammt aus einer sowjetischen Geologen-Familie und nahm selbst an geologischen Expeditionen teil, bei denen er auf Reste ehemaliger Gulag-Lager stiess. In seinen autobiografisch geprägten Romanen setzt er sich mit der russischen Geschichte auseinander. Sein fünfter und jüngster Roman: «Das perfekte Gift». Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 256 Seiten, ca. 32 Franken.
Die Hauptfigur Ihres neuen Romans ist der Chemiker Kalitin, der dieses Gift für das Militär entwickelt hat. Mit dem Zerfall der Sowjetunion setzt er sich in den Westen ab, wo er später selbst zum Gejagten wird. Was hat Sie an der Person des Wissenschaftlers interessiert?
Ich wollte beschreiben, wie so ein Held in seiner abgeschotteten Welt funktioniert. Mit seiner geheimen Mission in einem geheimen Chemielabor in einer geheimen Stadt. Wie in einer russischen Puppe, einer Matroschka. Die Geschichte hat aber auch autobiografische Züge: Als ich ein Kind war, haben wir ab und zu einen entfernten Verwandten in seiner riesigen Wohnung besucht, voll mit Büchern und Möbeln, und wir haben zusammen Ostern gefeiert. Dieser Mann hat mich unglaublich fasziniert und war die unsowjetischste Person, die ich kannte.
Dieser Verwandte kehrt auch in Ihrem Roman wieder, oder? Als Onkel Igor, der für den Helden Kalitin das grosse Vorbild seiner Kindheit war.
Genau. Erst viel später, in den Neunzigerjahren, habe ich erfahren, dass mein Verwandter sowjetische Biowaffen entwickelt hat! Er hat einfach so seine Identität abgestreift, als ginge er von einem Raum in den nächsten. Diese alte, persönliche Geschichte hat sich beim Schreiben einfach aufgedrängt. Es ist eine moderne Geschichte zwischen Faust und Frankensteins Monster, mit dem Unterschied, dass das Böse in diesem Roman kein Unfall ist, sondern gewollt. Es geht um die dunkle Romanze von Wissenschaft und totalitärer Macht – und die Verantwortung, die ein Wissenschaftler für seine Erfindung trägt.
Ihr Buch enthält viele direkte Bezüge zum Nowitschok-Programm. Warum war Ihnen der realistische Zugang so wichtig?
Ich habe in den KGB-Archiven in der Ukraine und in Litauen recherchiert. Ich verwende das Material für meine Zwecke, aber es beruht auf recherchierten Fakten. Ich wollte nicht übertreiben, diese Agenten nicht besser, klüger oder stärker machen, als sie sind. Ich wollte keinen James-Bond-Thriller schreiben, sondern der Realität so nahe kommen wie nur möglich.
Es wirkt fast unheimlich, wie nahe Sie der Realität gekommen sind. Sie hatten Ihr Buch schon fertig geschrieben, als im August 2020 der Kremlkritiker Alexei Nawalny mit Nowitschok vergiftet wurde.
Mit meinem Roman wurde ich zu einer Art Prophet. Aber es ist eine bittere Prophetie, weil ich dadurch niemanden beschützen konnte. In intellektuellen und oppositionellen Kreisen haben sich nach Salisbury alle nur über die zwei Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU lustig gemacht. Diese zwei dummen, lustigen und unprofessionellen Typen, die nicht mal in der Lage sind, ihr Zielobjekt zu töten! Das hat mich ziemlich irritiert. Ich wollte allen zuflüstern: Leute, es ist ernst! Das ist es auch, was ich mit meinem Buch ausdrücken wollte: Vielleicht sind diese Agenten keine Super-Bösewichte, aber sie sind in der Lage, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Auch Nawalny, dem es später sogar gelang, einen seiner mutmasslichen Attentäter anzurufen, machte sich über die mangelnde Professionalität der Agenten lustig. Es passt zu seiner Erzählung vom korrupten und dysfunktionalen Putin-Staat. Ist da nicht etwas dran?
Dass Nawalny diese Strategie wählt, kann ich verstehen. Es ist vielleicht ein Weg, um mit dieser ganzen Geschichte fertig zu werden. Von Experten und Intellektuellen erwarte ich mehr. Aber ich glaube, es geht dabei auch um Selbstschutz. Denn wenn du es ernst nimmst, dass dein Staat einfach so Giftanschläge gegen Personen im Inland und Ausland organisiert, müsstest du dann nicht etwas dagegen tun? Aber weil du nun mal nichts dagegen tun kannst, leugnest oder verdrängst du es lieber. Niemand glaubt ernsthaft an eine ehrliche Untersuchung, zugleich ist auch niemand selbst bereit, politische Verantwortung übernehmen. Diese russischen Spezialoperationen im Ausland und im Inland sind ein schweres Verbrechen, und indem man sich über ihre «Unprofessionalität» lustig macht, verlieren sie ihren moralischen Schrecken.
Was macht Nowitschok mit der russischen Gesellschaft?
Dieses Gift wirkt doppelt. Zunächst ist es das Gift, das sich im Körper des Opfers ausbreitet und kaum Spuren hinterlässt. Im Gegensatz dazu hinterlassen Attentäter in unserer heutigen, digitalen und transparenten Welt überall Spuren, sei es nun auf Überwachungskameras oder sonst wo. So wird, zweitens, der Anschlag zum Propagandamittel. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, heisst es dann: Vielleicht waren wir es, vielleicht aber auch nicht? Das Verständnis von Realität, Fakten und Gerechtigkeit wird auf den Kopf gestellt, wieder und wieder. Es ist diese Vergiftung der politischen und medialen Sphäre, die noch gefährlicher ist als das eigentliche Gift: Es unterwandert die öffentliche Moral auf sehr komplexe und nachhaltige Art und Weise.
Ist ein Buch über russisches Gift zugleich ein Buch über Putins Russland?
Nicht nur, es geht auch um seine Ursprünge. Putin ist nicht einfach Putin, er steht für die alten Kreise, die Verkörperung einer älteren, sowjetischen Russland-Elite, die wieder an die Macht gekommen ist. Nicht umsonst spielt auch der Tschetschenien-Krieg eine zentrale Rolle im Buch. Einer der beiden Salisbury-Attentäter, Anatoli Tschepiga, kämpfte mit einer Spezialeinheit im zweiten Tschetschenien-Krieg. Das habe ich für einen meiner Romanhelden übernommen. Tschetschenien ist das schwarze Loch, das Russland verschlingt. Die Verachtung für das Gesetz, die Vorstellung von Stärke, das kommt alles von diesem Krieg im Kaukasus. Ich finde es irritierend, dass sich Kremlgegner auf Putins Korruption einschiessen. Das grosse Problem ist ja weniger, dass Putins Hände voller Geld sind. Sondern voller Blut.
Vielleicht liegt es auch daran, dass es viel unpopulärer und gefährlicher ist, über die Kriege zu sprechen als über Korruption?
Ich sage zu meinen Kollegen immer: Es gibt so viele Romane über die Stalin-Zeit. Aber über die Ukraine, Georgien, Tschetschenien? Was mir heute fehlt, ist dieser Bezug zur Wirklichkeit. Das hat die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eigentlich immer ausgemacht. Wo ist das hin? Ich kann es mir nur damit erklären, dass diese Themen verdrängt werden. Nicht etwa, weil es heute gefährlich ist, darüber zu schreiben. Das ist nicht der Punkt. Bei Tschetschenien oder dem russischen Krieg in der Ukraine geht es noch um etwas anderes als die Kriegsgräuel. Es geht um die Frage: Was ist Russland? Die Russische Föderation? Sind wir nun ein Imperium oder nicht? Wie sollen wir damit umgehen? Es wirft so viele komplexe und schmerzhafte Fragen auf, dass viele es vorziehen, über etwas anderes zu schreiben.
Ein Land, das eng mit Russland verbunden ist und derzeit in einer politischen und humanitären Krise versinkt, ist Belarus. Während der Diktator Alexander Lukaschenko die Protestbewegung niederknüppeln lässt, hält ihm Wladimir Putin finanziell und politisch den Rücken frei. Strahlen die Ereignisse von Belarus auch nach Russland aus?
Natürlich, die Ereignisse sind zweifellos eng verwoben. Es ist klar, dass Putin Lukaschenko nicht fallen lassen wird. Mehr noch: Lukaschenko wird seine Methoden, Proteste zu unterdrücken, nach Russland exportieren. Die Folter, die Massenverhaftungen, die Repressionen. Das heisst: Wenn du die Ausdauer und die Polizeikräfte hast, wirst du die Oberhand gewinnen – egal, wie viele Menschen gegen dich auf die Strasse gehen. Unter dem Eindruck der Belarus-Repressionen gärt eine noch aggressivere, noch gefährlichere, noch repressivere Version des Putin-Russlands heran. Belarus ist für uns Russen eine sehr sichtbare Verkörperung der eigenen Zukunft.
Das klingt sehr düster – und nach turbulenten Zeiten östlich der EU-Aussengrenzen.
Es ist der langfristige Kollaps der Sowjetunion, der noch nicht vollendet ist. Im Zentrum steht ein im Geiste noch sowjetisches Führungspersonal, das sich in einer postsowjetischen Welt weiter an die Macht klammert. Es gibt zwar keine sowjetische Ideologie mehr, aber die Ideologie der Macht ist noch da, die fixe Idee von Unbesiegbarkeit, dem Einsatz von Waffen und Soldaten gegen die eigene Bevölkerung und einem quasi übernatürlichen Anspruch auf die Macht. Es hat nun mal nicht gereicht, die formalen Strukturen der Sowjetunion zu zerschlagen. Das Bewusste und Unbewusste ist noch immer da.
In Genf traf der russische Präsident Wladimir Putin zuletzt den neuen US-Präsidenten Joe Biden. Wohl kein Neustart, aber zumindest ein Zeichen der Entspannung? Wie sahen Sie diese Begegnung?
Ich war selbst zwei Monate zuvor in Genf und erinnere mich noch gut an diese reiche, leere, freie Stadt. Aber als Putin dort ankam, brachte er all seinen Stacheldraht, seine Garde, seine Spezialeinheiten mit. Einen Mini-Gulag, mitten in Europa. Das war ziemlich dick aufgetragen, selbst für Putins Verhältnisse. Ich sehe darin aber auch eine Projektion seiner eigenen Ängste. Er hat Angst vor dieser Welt, Angst davor, getötet zu werden. Das ist doch der beste Beweis dafür, dass er selber diese Befehle gibt, Menschen zu töten. Das war für mich die wichtigste Erkenntnis dieses Treffens – dass Putin es gar nicht mehr versucht, zu überspielen, wozu er das neue Russland im Kern gemacht hat: zu einer verstärkten Festung.
Simone Brunner lebt als freie Journalistin in Wien. Osteuropa und namentlich Russland zählen zu ihren Spezialgebieten. Für die Republik sprach sie zuletzt mit dem belarussischen Schriftsteller Viktor Martinowitsch.