Demonstrierende bringen sich am 11. Oktober 2020 in Minsk vor Wasserwerfern der Polizei in Sicherheit. An diesem Tag wurden rund 460 Personen verhaftet, darunter 40 Journalistinnen und Fotografen. Andrei Liankevich

«Sobald ihr aufhört, Fragen zu stellen, wird hier das Töten wieder anfangen»

Der Belarusse Viktor Martinowitsch hat soeben seinen Roman «Revolution» veröffentlicht. Das Timing sei Zufall, sagt der Schriftsteller im Gespräch über die Zähigkeit der Diktatur, seine traumatisierten Landsleute und seinen Appell an Europa.

Von Simone Brunner, 25.01.2021

Der Schriftsteller Viktor Martinowitsch pendelt eigentlich zwischen Minsk und Vilnius, wo er an der belarussischen Exil-Uni, der Europäischen Humanistischen Universität, unterrichtet. Doch das war vor Covid-19 – und bevor im August die Protest­bewegung gegen die gefälschte Wiederwahl des Machthabers Alexander Lukaschenko das Land zu erfassen begann. Nun finden die Vorlesungen online statt, seit Dezember dürfen Belarussen nur noch in Ausnahme­fällen ausreisen. Martinowitsch hat das Land seit knapp einem Jahr nicht mehr verlassen.

Im Oktober kam sein neuer Roman «Revolution» heraus, soeben ist auch die deutsche Ausgabe erschienen. Doch als ein Online-Dienst vor wenigen Tagen einige Original­ausgaben über die Grenze ins Ausland verschicken wollte – vermutlich hatten Exil-Belarussen den Roman über den belarussischen Onlinedienst bestellt – wurden die Exemplare an der Grenze konfisziert. «Ich verstehe das nicht», sagt Martinowitsch, und es ist einer der wenigen Momente, in denen er im Gespräch lacht: «Das bedeutet ja, dass mehr ‹Revolution›-Ausgaben in Belarus verbleiben.» Über die Chatfunktion im Videocall, über den wir unser Interview führen, schickt er einen Link zu einem Bericht über die konfiszierten Bücher. «Das müsste der Artikel sein, den ich meine», sagt er, «ich sehe nur den Titel im Browser, die Nachrichten­seite ist in Belarus blockiert.»

Als wir mit dem eigentlichen Interview beginnen, springt eine schwarze Katze auf seinen Schoss.

Herr Martinowitsch, in Belarus herrscht seit Monaten Ausnahme­zustand. Viele sagen, das Land werde nie mehr zum alten Status quo zurückkehren. Haben sie recht?
Wir wussten schon immer, dass wir in einer unfreien Gesellschaft leben. Aber nie zuvor waren wir solchen Repressionen ausgesetzt. Zugleich haben noch nie zuvor so viele Belarussen die Repressionen des Regimes über die Telegram-Kanäle verfolgt. Meine grösste Befürchtung ist jedoch, dass politisch alles so bleibt, wie es ist. Lukaschenko wird nicht gehen. Er weiss, was er tun muss, um alle zum Schweigen zu bringen.

Das klingt sehr pessimistisch.
Wenn man über die politische Zukunft in Belarus spricht, muss man leider vom Schlimmsten ausgehen. So war es immer. Und ich befürchte, so wird es auch diesmal sein. Ich glaube einfach nicht, dass Lukaschenko bereit ist, seine Macht zu teilen. Die Strassen­proteste allein können das nicht ändern.

Zugleich ist eine neue Solidarität und Kreativität in der belarussischen Gesellschaft erwacht, die Proteste halten bis heute an. Sehen Sie wirklich keine Chance auf Veränderung?
Die zweite Protestwelle wird nicht mehr so gross sein. Das liegt einerseits an Covid-19, andererseits daran, dass die Repressionen so brutal sind. Mehr als 30’000 Menschen sind in den vergangenen Monaten festgenommen worden. Die Menschen wurden geschlagen. Es stimmt, wir waren mutig, haben das Richtige getan und gesagt. Aber Lukaschenko ist immer noch an der Macht. Es gibt nichts, worauf wir stolz sein können. Leider. Vielleicht wird ihn die wirtschaftliche Lage unter Druck setzen, aber ich befürchte, dass wir Monate oder Jahre unter diesen Bedingungen leben müssen. Wir Belarussen haben uns verändert, natürlich. Aber gegen die Gewalt des Regimes können wir nichts ausrichten.

Zu Beginn der Proteste war die Atmosphäre noch sehr optimistisch.
Im Sommer waren wir glücklich, es war wie ein Karneval. Aber ich war skeptisch. Damals gab ich ein Interview. Die Journalisten fragten mich: Wann wird Lukaschenko fallen? Und ich sagte: Er wird wohl bleiben, seid vorsichtig. Die Ironie ist, dass man das Interview nicht mehr lesen kann, denn das Medium, dem ich das Interview gab, existiert heute nicht mehr. Der Eigentümer sitzt im KGB-Gefängnis.

Zur Person

Christian Beutler/Keystone

Viktor Martinowitsch, geboren 1977, studierte in Minsk Journalismus und promovierte später in Kunst­geschichte. Seit 2005 unterrichtet er Politik­wissenschaften an der Freien Humanistischen Universität in Vilnius, einer belarussischen Exil-Uni, die aus dem Land gedrängt wurde. Martinowitsch gehört zu den wichtigsten Stimmen der jungen belarussischen Literatur. Von Dezember 2016 bis Mai 2017 war er Gast des Literatur­hauses Zürich.

Im August schrieben Sie für die «Zeit», dass es eine Revolution gegen die Angst sei. Ist die Angst zurück?
Ja, sie ist wieder da. Und grösser als je zuvor. Vor den Ereignissen im August waren sich viele Menschen der Situation nicht so bewusst. Sie lebten ihr Leben, zogen ihr Gemüse auf der Datscha und sparten ihr Geld für die Sommer­ferien in der Türkei. Sie haben der Situation, in der sie leben, nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt sind sie wieder zurück in ihrer Küche, gemeinsam mit ihrer Angst, die ständig wächst und wächst.

Wie geht es Ihnen persönlich?
Ich kann nicht schlafen, kann keine Bücher lesen, keine Texte schreiben. Ich bin ziemlich fertig. Vermutlich brauche ich psychologische Hilfe. Was meine persönliche Teilnahme an den Protesten betrifft, kann ich nicht in die Details gehen. Jedes öffentliche Statement kann der Grund für eine Vorladung sein. Nur so viel: Ich war mittendrin. Ich habe viel gesehen. Wie jeder, der in Minsk lebt. Diese Gewalt müssen wir erst einmal verarbeiten. Das ist ein Trauma, das uns über die nächsten Generationen begleiten wird. Wir müssen uns darüber klar werden, wie wir unter diesen Umständen in diesem Land weiterleben können.

Gab es auch Festnahmen in Ihrem Umfeld?
Natürlich, erst kürzlich ist eine Freundin von mir, Julia Sluzkaja, am Flughafen verhaftet worden. Gestern wurde mein Verleger für einige Stunden festgenommen, man hat ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Heute wurde auch mein wichtigster Buchhändler festgenommen, Ales Jaudacha von knihi.by. Die Details des Verfahrens sind vertraulich, aber mein Verleger und der Buchhändler wurden von der Finanz­polizei und der Abteilung für Wirtschafts­verbrechen verhört. Es wird also versucht, ihnen ein steuerliches oder wirtschaftliches Vergehen anzuhängen. Das ist offensichtlich politisch motiviert.

Gehen die Behörden jetzt gezielt gegen die Literatur­szene vor?
Ja, sie haben es wohl auf private Verlage und Buchverkäufer abgesehen. Wer wird die Nächste sein? Lyrikerinnen? Schriftsteller? Es ist ein bisschen so wie mit den Proskriptionslisten im antiken Rom mit den Namen der Menschen, die eingesperrt oder getötet werden sollten. Wir fühlen uns, als stünden wir auf dieser Warteliste, bis eines Tages unangenehme Personen auftauchen und uns verhören. Es kann dir aber auch passieren, dass man dich einfach beim Brotkaufen festnimmt. Viele meiner Freunde haben das Land verlassen, und die, die geblieben sind, sind zu paranoiden, traumatisierten Pessimisten geworden. Oder sitzen selbst im Gefängnis.

Ist es die Unvorhersehbarkeit, die die Lage so bedrückend macht?
Es gibt kein Gesetz mehr. Alles ist nur noch eine Frage von Glück oder Pech. Ich selbst habe nie ein Geheimnis aus meiner politischen Einstellung gemacht. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auf mich aufmerksam werden. So zu leben, ist eine verstörende Erfahrung. Kennen Sie das grossartige Buch von Julian Barnes über den russischen Komponisten Dmitri Schostako­witsch, «Der Lärm der Zeit»? In Erwartung seiner Festnahme hatte er immer seine Tasche gepackt, über Jahre hinweg. Dieser Zustand ist eine menschliche Zumutung. Und so lebt hier ein ganzes Land.

Inmitten dieser Atmosphäre haben Sie Ihren Roman «Revolution» veröffentlicht.
Meinen grössten Schreckmoment hatte ich drei Wochen vor dem Erscheinungs­termin. Ich bin davon ausgegangen, dass sie mich allein für den Titel festnehmen werden, für einen Roman namens «Revolution», hier, im revolutionären Minsk. Dabei geht es im Buch gar nicht um Belarus, der Roman spielt in Moskau. Meine Kollegen wollten mich auch überreden, nach Vilnius auszureisen. Aber dann kam das Buch heraus, und es passierte – nichts. Wobei, ganz stimmt das auch nicht, meine Lesungen wurden alle abgesagt.

Schon einmal wurde ein Buch von Ihnen de facto verboten. 2009 verschwand der Roman «Paranoia» aus den Buch­handlungen. Ist das diesmal auch so?
Mein Buch kann man in den Läden kaufen, aber meine Lesungen wurden eine nach der anderen abgesagt. Offizieller Grund: Covid-19. Eine schwache Ausrede, in Belarus haben wir nicht einmal einen Lockdown oder Quarantäne­massnahmen. Also habe ich selbst über die sozialen Netzwerke eine Signier­stunde organisiert, mitten in Minsk, viele Leute sind gekommen. Zeitgleich fanden auch Proteste statt. Ich signiere also die Bücher, und draussen, durch das Fenster, sah ich, wie Hunderte, Tausende Leute mit ihren weiss-rot-weissen Fahnen vorbeiziehen, wie sie von der Polizei geschlagen und in Gefangenen­transporter gezerrt werden. Das ganze Programm. Und ich sitze drinnen und signiere ein Buch, das «Revolution» heisst. Eine total surreale Erfahrung. Für die Veranstaltung habe ich mich warm angezogen. Das Wichtigste im Gefängnis sind nämlich dicke Socken und eine warme Wolljacke.

Sie dachten, Sie würden bei Ihrer eigenen Buch­präsentation festgenommen?
Genau. Was zum Glück aber nicht geschah. Das war die grösste Mutprobe für mich, inmitten einer Revolution eine Signier­stunde für ein Buch mit dem Titel «Revolution» zu organisieren. Es gab einen weiteren Angst­moment, als sich Studenten mit meinem Buch in der Hand bei Protesten fotografieren liessen und das dann auf Instagram hochluden. Das Bild wurde in den grossen Medien des Landes gezeigt. So wurde das Buch zu einem Protest­symbol, ohne dass ich etwas dafür getan hätte.

Haben Sie überlegt, den Roman aus Sicherheits­gründen einfach anders zu nennen?
Mein Verleger hat es mir vorgeschlagen. Ich habe aber schon im Dezember 2019 angekündigt, dass mein neues Buch «Revolution» heissen wird. Ich bin für meine Worte verantwortlich. Worte, die einmal niedergeschrieben wurden, sollten nicht geändert werden. Schon gar nicht aus politischen Gründen. Es wäre ein Zeichen meiner Feigheit gewesen.

Ganz ohne Belarus-Bezüge ist Ihr Buch aber auch wieder nicht. Es geht um Unterwerfung, Manipulation und Macht. Was hat Sie daran interessiert?
Schon vor zwölf Jahren habe ich begonnen, diesen Roman zu schreiben. Als ich die Probleme mit dem Roman «Paranoia» hatte. Unbekannte Männer ohne Hoheits­abzeichen sind damals zu den Buchhändlern gekommen und haben sie gebeten, mein Buch aus den Regalen zu nehmen. Ich bin zu diesen Buchhändlern hin und habe gefragt: Was ist passiert? Die konnten mir nicht in die Augen sehen, sondern fingen an, Bullshit zu reden. Wer hat ihnen das befohlen? Ich habe nie eine Antwort bekommen. Da habe ich angefangen, über politische Macht und Angst nachzudenken. Ich wollte zeigen, was Macht aus einem good guy machen kann, wie ein normaler Mensch jede Menschlichkeit und Liebe verlieren kann.

Die deutsche Ausgabe erscheint nur wenige Wochen nach der belarussischen. Das ging sehr schnell.
Wir haben schon vor einem Jahr mit dem Übersetzen begonnen. Der Plan war ganz bewusst, gleichzeitig in Belarus, Russland und Deutschland zu publizieren. Die Überlegung dahinter: Wenn mein Buch in Deutschland rauskommt, wird meine Festnahme nur noch mehr das Interesse am Buch wecken. Eine Sicherheits­massnahme.

Das Buch spielt in Moskau. Warum?
Für den Plot brauchte ich eine Umgebung, in der sich der Protagonist bereichern kann: tolle Autos, tolle Wohnungen. In Belarus ist alle Macht in den Händen einer Person, deswegen musste ich nach Moskau ausweichen. Ausserdem hat Moskau für Belarussen eine besondere Bedeutung: Es heisst, eine erfolgreiche Karriere in Belarus kannst du nur machen, wenn du auch in Moskau warst. Darüber wollte ich mich auch ein wenig lustig machen.

Wladimir Putin ist der einzige Verbündete Lukaschenkos. Es gibt Signale, dass auch Putin auf Veränderungen in Belarus pocht. Ihre Einschätzung?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Putin mit Lukaschenko unglücklich ist. Aber Putin hat auch nur beschränkten Einfluss. Einerseits ist er unzufrieden mit Lukaschenko. Aber was kann er schon tun? Alle Möglichkeiten, etwa das Entziehen der wirtschaftlichen Unterstützung, sind schon ausgeschöpft. Andererseits, wenn es hier wirklich zu einem Umsturz kommt, werden sich die Russen vielleicht sagen: Was die können, können wir doch auch. Keine leichte Situation für Putin.

Wie sehen Sie die Rolle des Westens?
Der Grund, warum die Polizei nicht mehr auf Protestierende schiesst, ist die internationale Aufmerksamkeit. Du willst kein Publikum, wenn du jemanden in einer dunklen Häuserecke verprügelst. Langsam taucht Belarus auf der europäischen Landkarte auf. Das Beste, was der Westen oder die EU tun kann, ist, uns nicht aus den Augen zu verlieren. Lest unsere Bücher, sprecht mit uns. Fragt uns, was hier vor sich geht. Sobald ihr aufhört, Fragen zu stellen, wird das Töten wieder anfangen.

In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass mehr als 30’000 Menschen verhaftet wurden. Richtig muss es heissen, sie wurden «festgenommen». Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Zur Autorin

Simone Brunner lebt als freie Journalistin in Wien. Osteuropa und insbesondere Russland und Belarus zählen zu ihren Spezial­gebieten.