Kein Täschchen zu klein, eine Wucht zu sein
Wie bringt man eine Suppe dazu, sich in einer geschlossenen Teigtasche breit zu machen? Mit Geschick, Geduld und einem besonderen Trick. «Geschmacksache», Folge 21.
Von Michael Rüegg (Text) und Reinhard Hunger (Bild), 19.06.2021
Ich hatte einen Traum.
Von einem Ort, wo man bequem an Tischen sitzt oder auf Sofas fläzt. Gedämpftes Licht, fast intime Stimmung. Als ob Opiumrauch in der Luft läge.
Aus den Lautsprechern dringt Shanghai-Jazz der Zwanzigerjahre. Ich mustere die Gäste, während die Kellnerin ihren Wagen durch den Raum schiebt. Darauf dampfen viele übereinander geschichtete Bamboo-Steamer, diese runden Bambuskörbe mit Deckel. Wann immer der Appetit sich meldet, lässt man sich einen Korb reichen, greift nach den Essstäbchen schnappt sich damit einen Dumpling.
Meine Dim-Sum-Lounge. Ich hätte sie so gern in Zürich eröffnet. Aber mit null Gastronomieerfahrung und einem Investitionskapital in lediglich vierstelliger Höhe blieb ich Schuster dann doch bei meinen Leisten.
Zu Dumplings fand ich, als ich vor vielen Jahren durch Singapurs Chinatown irrte. Ich fürchtete mich etwas vor chinesischem Essen. Erinnerte mich an eine Zeile aus der TV-Serie «Absolutely Fabulous», in der Patsy im Fond eines chauffierten Jaguars zu ihrer Freundin Edina sagt: «Anything with a pulse is lunch.» Alles, was einen Puls hat, ist Mittagessen. Heute fällt einem dazu wohl der Fischmarkt von Wuhan ein.
Ein kleiner Laden an einer Ecke sah einigermassen vertrauenserweckend aus. Der Besitzer servierte Dumplings, in dünnen Teig verpacktes Irgendwas, das meist gedämpft, manchmal auch gebraten wird. Ich bestellte mir eine Portion. Die Dumplings waren mittelgross, rund und etwas wabbelig. Ich tauchte sie, wie mir geheissen, in etwas, das wie Sojasauce aussah, mit fein geschnittenem Ingwer. Die vermeintliche Sojasauce war säuerlich, ein Essig, wie ich bemerkte. Als ich in den Dumpling biss, schwappte eine heisse Suppe heraus, dahinter gewürztes Schweinefleisch.
Auf der Suche nach dem kleinen Korbbrötchen
Ich hatte ein Erweckungserlebnis. Und das erste Xiao Long Bao (小笼包) oder «kleine Korbbrötchen» meines Lebens. Später kam es vor, dass ich bei Reisen Stopps einplante, nur um irgendwo Xiao Long Bao zu essen. Einmal schrieb ich in meiner Verzweiflung der taiwanesischen Restaurantkette Din Tai Fung, ob sie nicht bitte eine Filiale in Zürich eröffnen würden. Leider nein, hiess es, die Schweiz sei für sie kein Markt. Immerhin gibts mittlerweile einen Laden in London. Aber an wirklich unbeschwertes Reisen ist immer noch nicht zu denken.
Über die Jahre habe ich mich immer wieder an Dim Sum versucht. Bis ich irgendwann begann, selber mit Xiao Long Bao zu experimentieren. Ihre Herstellung als einfach zu bezeichnen, wäre übertrieben. Man braucht schon etwas Geschick, damit aus den Dumplings etwas wird. Wer sich langsam herantasten möchte, kann die simpleren Varianten ausprobieren, die ich weiter unten erwähne.
Das wirklich Grandiose an Xiao Long Bao ist, dass man eine Suppe dazu bewegen kann, sich in einer geschlossenen Teigtasche breit zu machen. Das ist schon bemerkenswert, neigen Suppen doch in der Regel dazu, als Füllung schwerkraftbedingt gewisse Schwierigkeiten zu bereiten. Der Trick besteht darin, die Suppe zu gelieren, damit sie kalt und fest wird und man sie so in den Dumpling stopfen kann. Dazu kann man Gelatine verwenden. Oder man kann, wie ich es in diesem Rezept mache, zum Gelieren Schweineknochen mitkochen. Vermutlich liesse sich die Suppe ganz ohne zusätzliche Gelatine herstellen. Man müsste das ausprobieren, aber ich war etwas ängstlich, wie damals, als ich hungrig durch Chinatown schlurfte.
Xiao Long Bao (小笼包)
Zutaten für die Suppe: ca. 300–500 g Schweineknochen (Saucenknochen), eine Packung Suppengemüse oder je ein grosses Stück Knollensellerie, Wirz oder Chinakohl, ein Rüebli, eine Zwiebel, ein Stück Lauch, etwas Öl zum Anbraten, ein paar Pfeffer- und Korianderkörner, das Grün der unten erwähnten Frühlingszwiebeln, ein Schuss chinesischer Reiswein oder trockener Sherry, zwei Blätter Gelatine.
Für die Füllung: 250 g Schweinehackfleisch, ca. 4 Frühlingszwiebeln (das Weisse davon), 1 grosse Knoblauchzehe, 1 daumengrosses Stück Ingwer, 0,5 Teelöffel Sesamöl, 1 EL helle Sojasauce, eine Prise Fünf-Gewürze-Pulver (five spice), etwas gemahlener weisser Pfeffer.
Für den Teig: 400 g Weissmehl, 1,4 dl kochendes Wasser, 1,3 dl Wasser bei Raumtemperatur, ein Bogen Backtrennpapier
Für den Dip: ein Stück Ingwer, Sojaessig (aus dem Asia-Laden)
Das Suppengemüse in Stücke schneiden. Die Knochen in etwas Öl in einem Topf leicht anrösten. Ein paar Pfeffer- und Korianderkörner mitrösten. Gemüse dazugeben, ebenfalls kurz mitrösten. Mit dem Reiswein oder Sherry ablöschen.
Etwa einen Liter Wasser dazugeben und rund zwei Stunden köcheln lassen. Die Flüssigkeit sollte etwa auf ein Viertel reduziert werden.
Knochen und Gemüse entfernen, Suppe sieben. Zwei Blätter Gelatine in Wasser einweichen, ausdrücken und in die heisse Suppe einrühren, bis sie sich aufgelöst haben. Salzen (die Suppe sollte für sich alleine funktionieren, also nicht zu viel, nicht zu wenig). Über Nacht kalt stellen.
Für die Füllung die Frühlingszwiebeln, Knoblauch und Ingwer sehr klein hacken. Mit dem Schweinehackfleisch mischen und restliche Zutaten zugeben. Etwas salzen. Zum Test, ob genug gewürzt ist, kann man eine kleine Menge in der Bratpfanne garen und kosten.
Das Mehl in einer Schüssel mit dem kochenden und dem Zimmertemperaturwasser mischen. Dazu zwei Essstäbchen aneinanderlegen und damit den Teig so lange umrühren, bis er geschmeidig ist. Mit einem feuchten Tuch bedecken und eine gute halbe Stunde stehen lassen.
Derweil ein Backtrennpapier in 4–5 cm grosse Quadrate schneiden. Diese Arbeit lässt sich gut an ein bastelfreudiges Kind jeden Alters delegieren.
Den Teig portionenweise auswallen, sodass er dünn, aber etwas dicker als Pastateig ist. Mit einem Förmchen oder einer von beiden Deckeln befreiten leeren Konservendose Rondellen von etwa 7 cm Durchmesser ausstechen. (Nicht alle auf einmal ausstechen, sondern erst ein paar Dumplings formen, dann wieder wallen und stechen.)
Die gelierte Suppe lässt sich nun in Stücke schneiden. Ein Stück oder ein paar Würfelchen Suppe auf den Teig geben. Mit einem zum Bällchen geformten Portiönchen der Füllung belegen. Vermutlich brauchen Sie mehrere Anläufe, um die richtige Menge zu finden.
Nun kommt der schwierige Teil: Wir klappen die Teigränder zusammen und falten den Rand dabei mehrmals übereinander. Die kleinen Falten erinnern an den chinesischen Faltenhund Shar Pei und ziehen sich horizontal entlang des Dumplings. Oben gut verschliessen, damit die Flüssigkeit nicht austreten kann. (Wer Anleitung braucht, in diesem Video ab Minute 7 macht die junge Dame das sehr liebevoll.)
Den fertigen Dumpling auf ein Backtrennpapier-Quadrat legen. So lange weiterfalten, bis Teig oder Füllung ausgehen (vermutlich trifft es den Teig zuerst).
Wer einen oder mehrere Bamboo-Steamer hat, legt die Dumplings mit den Backtrennpapier-Quadraten als Unterlage hinein. Man kann mehrere Steamer übereinanderstapeln, auf den obersten kommt der Deckel. Wer keinen Bamboo-Steamer hat, kann sich mit einem Dampfkochtopf behelfen, einem Steamer oder zur Not einer Bratpfanne mit wenig Wasser drin und einem Deckel drauf. Damit es nicht klebt, Backtrennpapier, Salatblätter oder Gurkenscheiben drunterlegen.
Genügend Wasser in einen Wok geben, aber nur so viel, dass der Pegel den untersten Bamboo-Steamer nicht erreicht. Herd hochfahren, sobald das Wasser kocht, füllen sich die Körbe mit Dampf. Die Garzeit beträgt rund 5 bis 10 Minuten.
(Wer nicht alle Dumplings essen will, legt die übrigen mit dem Backtrennpapier in den Tiefkühler. Nach zwei Stunden kann man sie beispielsweise in eine Plastiktasche verpacken und im Gefrierer lagern. Für die Zubereitung der gefrorenen Dumplings etwas zusätzliche Garzeit einrechnen.)
Vor dem Servieren ein Stück Ingwer in feine Streifen schneiden. In einem kleinen Gefäss etwas Sojaessig drübergeben. Die Dumplings darin tunken. Vorsicht, wenn sie direkt aus dem Steamer kommen, ist die Suppe sehr heiss.
Vor allem die Falterei ist eine anstrengende Angelegenheit. Sie sollten Xiao Long Bao nur angehen, wenn sie wirklich entspannt sind und Lust haben, sich eine Weile mit ihnen zu beschäftigen. Als ich das Rezept für diesen Text verfeinerte, war ich etwas gestresst. Ich hatte eigentlich keinen Bock, die Dumplings herzustellen. Das Ergebnis sah dann entsprechend aus. Ich kann daher mit Fug und Recht sagen: Fingerfertigkeit, handwerkliches Geschick und viel Geduld sind ebenso wichtige Zutaten wie Schwein, Ingwer und Gewürze.
Vermutlich bleiben Suppe und Füllung übrig, es ist nicht leicht, richtig zu kalkulieren. Für den Fall koche ich die Suppe auf, gebe die restliche Füllung hinein und schneide die paar Teigreste zu möglichst dünnen Nudeln. Kurz alles kochen und fertig ist ein kleiner Suppensnack.
Und nun zu den etwas leichteren Varianten, für alle, die sich herantasten möchten.
A) Der missbrauchte Wonton
Hierfür kaufen Sie im Asienladen Wonton-Teigblätter. Stellen Sie die Füllung wie oben her, ich gebe manchmal noch eine kleine fein gehackte Karotte dazu. Die Füllung gibt man auf die Wonton-Blätter, bestreicht mit dem Finger die Ränder mit etwas Mehl-Wasser-Gemisch (manchmal sind die Blätter schon gut gemehlt), klappt die Ecken hoch, verschliesst die Seiten und klappt die Laschen um. Das ist die simpelste Art und führt zu ganz passablen Dim Sum.
B) Die Variante ohne Suppe
Einfach alles wie oben, aber Suppe weglassen. Wichtig ist hier, dass die Füllung gut abgeschmeckt ist, denn es fehlt für den Gesamteindruck natürlich der Geschmack der Suppe.
Tsingtao geht immer
Der obligate Getränketipp besteht aus dem Hinweis, dass Tsingtao oder irgendein anderes chinesisches Bier keine schlechte Wahl wäre. Wer sich mit chinesischen Tees auskennt, giesst sich eine Kanne Pu-Erh auf. Das ist ein sehr erdiger fermentierter Tee aus Yunnan, dem magische Eigenschaften zugeschrieben werden. Ganz sicher hilft er beim Verdauen der Dumplings. Freundinnen weisser Weine können gerne einen trockenen Riesling oder Riesling Kabinett aus deutschen Landen aufmachen. Im Grunde eignen sich auch Elsässer ganz gut, etwa trockene Gewürztraminer oder Pinot gris. Auch ein anständiger südafrikanischer Chenin blanc kann hier gute Dienste leisten. Freunde der Heimat wissen, dass im Wallis Weissweine entstehen, die durchaus mit asiatischen Gerichten harmonieren, etwa Heida. Eine Bündnerin versucht es vielleicht sogar mit einem nicht allzu jungen Completer. Und ja, es gibt mittlerweile ganz passable Weine aus China. Ich würde wohl versuchen, eine Flasche völlig überteuerten trockenen Muscat von Puchang Vineyard in Xinjiang zu kaufen, von dem die Kritikerin beim «Decanter» sagt, er habe eine florale Nase. Aber für sowas extra nach China zu fliegen, ist ja nun wirklich dämlich. Es sei denn es gibt Xiao Long Bao …