Wer sich über die Polizei beschwert, ist selber schuld
In der Schweiz gegen polizeiliches Fehlverhalten vorzugehen, braucht viel Geduld, Geld – und zudem sind Beschwerden selten erfolgreich. Nur ein einziger Kanton versucht einen anderen Weg.
Von Miriam Suter, Karin A. Wenger (Text) und Julia Spiers (Illustration), 04.06.2021
Der Nachmittag des 4. Juni 2019 beginnt für Christin Tlach mit einem Eistee und endet damit, dass sie einem Polizisten ihren Namen diktiert. Die 57-jährige Hebamme trifft ihre erwachsene Tochter in einem Restaurant in der Nähe der Berner Schützenmatte, draussen brennt die Sonne bei dreissig Grad. Als Tlach aus dem Fenster blickt, fällt ihr auf, dass auf der anderen Strassenseite zwei Polizisten mit einem Mann sprechen. Wahrscheinlich eine Personenkontrolle, denkt sie sich. Tlach wendet sich wieder ihrer Tochter zu. Als sie kurz darauf wieder einen Blick aus dem Fenster wirft, liegt der Mann auf dem Trottoir, von einem Polizisten auf den Boden gedrückt.
Tlach und ihre Tochter gehen raus auf die Strasse. Trotz des Verkehrslärms hätten sie gehört, wie der Mann laut geschrien habe, erinnert sich Tlach: «Als Hebamme bin ich keine Mimose, und ich weiss, wie es tönt, wenn jemand wirklich Schmerzen hat.» Deswegen habe sie genau hinsehen und wenn nötig helfen wollen. Einige der Szenen, die daraufhin folgen, hat ihre Tochter auf Video aufgenommen. Die Republik konnte die Aufnahmen einsehen.
Ein Polizist drückt sein Knie mit voller Kraft auf den Oberschenkel des Mannes, dessen Hände liegen in Handschellen. Er versucht sich zu wehren, schreit immer wieder, sein Hund bellt. Mutter und Tochter überqueren die Strasse, sie sind aufgebracht, halten das Vorgehen der beiden Polizisten für unverhältnismässig. «Höret uf, ihm Schmärze zuezfüege!», rufen sie. Einer der Beamten sei aufgestanden, habe sie am Oberarm gepackt und weggestossen, sagt Tlach. Die beiden Frauen bleiben einige Meter entfernt stehen und wiederholen immer wieder, es sei doch offensichtlich, dass es dem Mann nicht gut gehe und der Gewalteinsatz unnötig sei. «Entfernt euch!», sagt einer der Beamten. «Nein, ich bleibe da», antwortet Tlach.
Eine Sirene ertönt, zwei weitere Einsatzwagen fahren heran. Rund ein Dutzend Polizisten sind nun auf dem Platz, die Hälfte bildet einen Ring, um die Verhaftung abzuschirmen. Das Videobild schwenkt schnell hin und her. «Fasst mich nicht an!», ruft die Tochter. Sie erklärt im Gespräch mit der Republik, der Polizist habe sie in diesem Moment grob zurückgestossen.
Im letzten Video, das die Tochter aufgenommen hat, ist die Stimmung noch aggressiver, mittlerweile diskutieren mehrere Passantinnen mit den Beamten, einige werden dabei angerempelt. Wenn Christin Tlach die Videos anschaut, ist ihr die Betroffenheit immer noch anzumerken: «Es war einfach nicht okay und unverhältnismässig, einen einzelnen Mann so zu verhaften.»
Schliesslich wird der Mann abgeführt. Ein Polizist will jetzt die Namen von Tlach und ihrer Tochter aufnehmen. Er habe ihnen dabei unterstellt, sie würden Falschangaben machen, erzählen sie. «Ich fühlte mich beinahe wie eine Verbrecherin und nicht ernst genommen als Bürgerin, die Zivilcourage zeigen wollte», sagt Christin Tlach. «Es ist schockierend, dass die Polizisten so aggressiv auftraten.» Als sie und ihre Tochter im Restaurant ihre Taschen holen, sind sie erschüttert, beide weinen.
Zu Hause schreibt die Mutter den Ablauf des Vorfalls auf und überlegt sich, was sie nun tun soll. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie immer gedacht, dass Polizisten einen anspruchsvollen Job hätten, aber schwierige Situationen verhältnismässig und professionell meisterten, sagt sie. Darüber, sich selbst über die Polizei zu beschweren, hat sich Tlach bisher noch nie Gedanken gemacht. Nach dem Vorfall ist sie entschlossen, genau dies zu tun. Doch als sie sich über Möglichkeiten informiert, merkt sie rasch: Es ist kompliziert.
Eine Sache der Kantone
Für diesen Beitrag hat die Republik mit Personen gesprochen, die sich von der Polizei ungerecht behandelt fühlten oder Polizeigewalt erlebten, mit mehreren Ombudspersonen, Anwälten und Menschenrechtsorganisationen.
Die Kritik, die geäussert wird, lautet immer wieder ähnlich: Die Verfahren, um sich über Polizisten zu beschweren, seien unübersichtlich, das System kompliziert. Die Stellen, die sich mit den Beschwerden befassen, seien nicht unabhängig genug. Und Beschwerden könnten schnell teuer werden, wobei die Aussicht auf Erfolg klein sei. Für Personen, die sich über polizeiliches Fehlverhalten beschweren, besteht zudem das Risiko von Gegenanzeigen.
Bereits vor einigen Monaten berichtete die Republik darüber, dass Fälle, bei denen Menschen während eines Polizeieinsatzes zu Schaden kommen oder sogar sterben, oft nicht untersucht werden. Dieser Beitrag fokussiert auf polizeiliches Fehlverhalten – also die kleineren Vorfälle, bei denen sich Bürgerinnen von Beamten ungerecht behandelt fühlen. Und geht der Frage nach, wieso es in der Schweiz so schwierig ist, sich über die Polizei zu beschweren.
Ein wichtiger Grund dafür: Die Schweiz kennt kein nationales, einheitliches System für die Kontrolle der Polizeiarbeit. Grundsätzlich bestehen folgende Möglichkeiten, die aber von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt sind:
Mit einer Bürgerbeschwerde kann ein Vorfall direkt bei der Polizei gemeldet werden. Die Kantone Schwyz, Thurgau und Luzern regeln die Bürgerbeschwerde in ihren Rechtsordnungen. Die restlichen Kantone, wenn überhaupt, in polizeiinternen Reglementen. Pro Jahr kommt es laut der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch in grösseren Kantonen zu 30 bis 100 solcher Beschwerden.
Eine weitere niederschwellige Form ist die Aufsichtsbeschwerde, die bei der für die Polizei zuständigen Aufsichtsbehörde eingereicht wird, in der Regel also beim Regierungsrat oder beim übergeordneten Departement. Bei neun Kantonen fehlen in ihren Rechtsordnungen Regelungen zu dieser Form der Beschwerde, was gemäss Humanrights.ch zu erheblicher Rechtsunsicherheit führt. Zu personalrechtlichen Konsequenzen komme es nur sehr selten, diese Art der Beschwerde werde kaum genutzt.
Für Betroffene von Polizeigewalt gibt es zudem die Möglichkeit, Strafanzeige zu erstatten. Statistiken darüber, wie oft Angehörige der Polizei angezeigt werden, fehlen in der Schweiz.
Theoretisch gibt es zudem weitere formelle Beschwerdemechanismen, zum Beispiel das Verwaltungsrechts- oder Staatshaftungsverfahren. Diese sind in der Praxis aber selten.
Weitere mögliche Anlaufstellen sind parlamentarische Ombudsstellen. Es gibt sie allerdings nur in den Kantonen Freiburg, Zürich, Waadt, Basel-Stadt, Baselland, Genf und Zug. Auf städtischer Ebene kennen Bern, Luzern, Rapperswil-Jona, St. Gallen, Winterthur und Zürich solche Ombudsstellen. Sie können Mediationen, also klärende Gespräche, zwischen der Polizei und Bürgerinnen organisieren und Betroffene im Hinblick auf einen allfälligen Strafprozess beraten. Allerdings sind sie keine spezifischen Anlaufstellen für Beschwerden über Fehlverhalten der Polizei, sondern allgemein für Konflikte mit kantonalen und städtischen Ämtern oder Verwaltungen zuständig.
«Wir raten fast immer von einer Anzeige ab»
Im Kanton Bern, dem Wohnkanton von Christin Tlach, gibt es zwar eine Ombudsstelle auf städtischer Ebene, die jedoch für den Polizeibereich nicht zuständig ist: 2008 wurde die Stadtpolizei aufgelöst, seither gibt es nur noch die Kantonspolizei. Tlach erkundigt sich nach dem Vorfall, wohin sie sich mit ihrer Beschwerde wenden könne. Sie kontaktiert die Organisation Augenauf und das Kollektiv Antirep Bern, die sich für Betroffene von Polizeirepression einsetzen und Aufklärungsarbeit leisten.
Eine Anwältin, die Tlach als Hebamme betreut hat, gibt ihr schliesslich den Kontakt eines Rechtsprofessors an der Universität Bern. Dieser rät ihr, eine aufsichtsrechtliche Anzeige einzureichen, denn als Bürgerin sei es ihr Recht, wenn nicht sogar ihre Pflicht, solche Vorkommnisse zu melden.
Sechs Seiten, übersichtlich strukturiert mit Zwischentiteln, schickt Christin Tlach schliesslich an den Kommandanten der Kantonspolizei Bern, Stefan Blättler, sowie als Information an die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsparlaments. Ohne die Hilfe des Professors und das Wissen ihrer Tochter, die Rechtswissenschaften studiert, hätte sie keine Ahnung gehabt, wie sie sich wehren könne, erzählt Tlach.
Als sie Menschen in ihrem Umfeld vom Vorfall erzählt, stösst sie auf Ungläubigkeit oder sogar Zweifel an ihren Schilderungen – vor allem bei Leuten, die selber noch nie eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Andere reagieren skeptisch: Sich gegen die Polizei zu wehren, sei chancenlos.
Menschenrechtsorganisationen und internationale Gremien – unter anderem der Uno-Menschenrechtsrat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – kritisieren die Schweiz seit langem, weil die vorhandenen Polizeibeschwerdestellen nicht unabhängig genug seien. Hauptkritik: Die Stellen sind entweder Teil der Polizei oder des Justiz- und Sicherheitsdepartements – also des gleichen Departements, dem auch die Polizei untersteht.
Oder aber, die Stellen arbeiten eng mit den Staatsanwaltschaften zusammen, die wiederum auf eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen sind und bei denen teilweise ehemalige Beamte arbeiten. Je nach Kanton kann es gar passieren, dass die gleiche polizeiinterne Stelle für die Aufnahme der Beschwerde, eine allfällige Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft und zugleich für die Rechtsberatung der betroffenen Beamtin zuständig ist.
Das Problem der fehlenden Unabhängigkeit von Beschwerdestellen kennt Christian von Wartburg – und zwar von mehr als einer Seite her: Der Basler Anwalt und SP-Grossrat vertrat 2020 eine Teilnehmerin der «Basel nazifrei»-Demonstration vor Gericht, verteidigt aber auch immer wieder Polizisten.
Gerade bei schwierigen polizeilichen Anhaltungen komme es regelmässig zu Anzeigen gegen die Polizei, sagt von Wartburg: «Solche Strafverfahren stellen die Strafverfolgungsbehörden vor grosse Herausforderungen, kennen sich doch in kleinräumigen Kantonen die Ermittler und die Beschuldigten häufig von ihrer gemeinsamen Arbeit her gut.» Ausserdem seien sie in anderen Fällen dann wieder auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen. Trotzdem seien Anträge auf Abtretung des Verfahrens an einen anderen Kanton oder Einsetzung eines ausserordentlichen Staatsanwalts sehr selten erfolgreich.
Ähnlich beurteilt dies auch Rolf Zopfi, der seit der Gründung 1995 bei der Organisation Augenauf dabei ist und selber viele Beschwerdefälle betreut hat. «Wer sich gegen polizeiliches Fehlverhalten wehren will, hat schlechte Chancen. Wenn wir von Betroffenen angefragt werden, raten wir fast immer von einer Anzeige ab», sagt er. Die Chancen seien manchmal besser, wenn Videoaufnahmen als Beweismittel vorlägen oder es viele unparteiische Zeugen gebe.
Einzigartig in der Schweiz: Das Genfer Modell
Unabhängige Beschwerdestellen werden immer wieder gefordert, in diversen Kantonen. Im Juni 2020 etwa von der grünen Basler Grossrätin und Anwältin Michelle Lachenmeier, die vom Verein «Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz» unterstützt wird. Politisch haben solche Forderungen einen schweren Stand: In Bern zum Beispiel hat das Kantonsparlament in den vergangenen zwanzig Jahren eine Ombudsstelle fünfmal abgelehnt.
International wird die Polizei-Ombudsstelle in Nordirland als Vorzeigemodell gehandelt, die seit mehr als zwanzig Jahren existiert. Sie untersucht Beschwerden von Bürgern gegen die Polizei, auch bei mutmasslicher Gewalt, kann aber auch selbst Untersuchungen einleiten. Obwohl sie institutionell dem Justizministerium angegliedert ist, gilt die Ombudsstelle, für die rund 150 Mitarbeiterinnen tätig sind, operativ als unabhängig. Bei Ermittlungen darf sie tun, was auch die Polizei kann: Beschlagnahmungen, forensische Untersuchungen oder Festnahmen vornehmen. Die wichtigsten Informationen sind auf ihrer Website in zehn Sprachen übersetzt, was die Ombudsstelle auch für Migrantinnen zugänglich macht.
In der Schweiz verfügt der Kanton Genf über eine Stelle, deren Einführung 2016 der damalige Genfer Staatsrat Pierre Maudet als «historischen Moment» bezeichnete: ein Mediationsorgan im Polizeibereich. Ähnlich wie bei Ombudsstellen steht das Vermitteln bei Konflikten im Zentrum ihrer Tätigkeit, doch die Genfer Anlaufstelle ist ausschliesslich für Beschwerden gegen die Polizei zuständig und damit ein Novum in der Schweiz.
Die Mediatorinnen nehmen die Beschwerden entgegen, vermitteln zwischen Betroffenen und der Polizei und laden bei Bedarf beide Seiten zum Gespräch ein. In einer solchen ersten Mediation können beide Parteien zuerst gleichberechtigt ihre Sicht auf einen Vorfall schildern. Das erklärte Ziel sind Einigungen im persönlichen Gespräch. Erst danach wird entschieden, wie die Betroffenen weiterfahren möchten, ob sie zum Beispiel rechtliche Schritte einleiten wollen oder nicht. Oft drehen sich Beschwerden um Körperdurchsuchungen oder herablassende Bemerkungen von Beamten. Auch Polizisten selber können sich an die Mediationsstelle wenden: Wird eine Beamtin bei ihrer Arbeit zum Beispiel immer wieder am selben Ort von derselben Gruppe angepöbelt, kann sie um eine Mediation ersuchen.
Der Genfer Staatsrat wählt eine Hauptmediatorin für eine Amtszeit von vier Jahren, Stellvertreter werden vom Departementsleiter gewählt. Auf administrativer Ebene ist das Mediationsorgan beim Sicherheits- und Wirtschaftsdepartement angesiedelt – wie die Kantonspolizei auch. Dies kritisiert der Verein Humanrights.ch – wie auch die Tatsache, dass die Stelle nicht für Fälle von Polizeigewalt zuständig ist.
Auch Amnesty International wies bei der Einführung der Mediationsstelle darauf hin, dass diese die Justiz nicht ersetzen könne. Trotzdem sei sie für die Lösung kleinerer Konflikte nützlich. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte schreibt in einer Analyse, dass die Stelle Beschwerdeverfahren in Genf vereinfache und Doppelspurigkeiten vermieden würden, weil die Mediatorinnen für sämtliche nicht strafrechtlichen Beschwerden zuständig seien, einschliesslich solche, die bei der Polizeikommandantin oder dem Departementschef eingehen.
Gegenanzeigen aus Prinzip?
Hätten Christin Tlach und ihre Tochter bei einer Festnahme im Kanton Genf interveniert, wären die eineinhalb Jahre danach für alle Beteiligten vielleicht weniger belastend gewesen. Fünf Tage nach dem Vorfall erhält Tlach nämlich Post von der Berner Kantonspolizei: eine Anzeige gegen sie und ihre Tochter wegen Behinderung einer Amtshandlung. Sie werden für die Abnahme ihrer Fingerabdrücke aufgeboten.
«Es ist ein Problem, dass Betroffene von Fehlverhalten der Polizei oft selber mit einer Anzeige rechnen müssen», sagt Rolf Zopfi von der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Augenauf in Zürich. Der Basler Anwalt Christian von Wartburg erklärt dieses Phänomen so: Drohe einem Polizisten eine strafrechtliche Anzeige, stehe für ihn sehr viel auf dem Spiel. «Die Anforderung an den Polizeiberuf ist, zu hundert Prozent fehlerfrei zu arbeiten», sagt er. Gleichzeitig seien auch Polizistinnen nur Menschen, und Menschen machten Fehler, gerade bei der Arbeit im Aussendienst, wo teilweise schwierigste Entscheidungen in Sekundenbruchteilen getroffen werden müssten. Es drohe deshalb bei einer Verurteilung der Jobverlust.
Diese Ausgangslage erzeuge ein Klima der Angst, es sei schwierig, einen Fehler einzugestehen, sagt von Wartburg. Gleichzeitig legten dann die Betroffenen verständlicherweise Wert darauf, ein etwaiges Fehlverhalten der Gegenseite genau aufzuzeigen, sodass es dann häufig zu Gegenanzeigen komme. Die Polizei hat den Vorwurf, Kritiker mit Anzeigen einzuschüchtern, schon oft zurückgewiesen. Auf Anfrage der Republik wollte jedoch weder die Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten noch der Verband Schweizerischer Polizeibeamter dazu Stellung nehmen.
Christin Tlach nimmt sich eine Anwältin, die gegen die Abnahme der Fingerabdrücke erfolgreich Beschwerde einreicht. Fast ein Jahr nach dem Vorfall folgt die Anhörung bei der Staatsanwaltschaft. Die Polizisten sagen aus, die Frauen hätten sie bedrängt und ihre Arbeit verzögert. Zudem hätten sie gestikuliert, weshalb die Polizisten damit rechnen mussten, angegriffen zu werden. Die Staatsanwaltschaft spricht Tlach und ihre Tochter schuldig.
Langwierig – und sehr teuer
Die beiden ziehen das Urteil weiter. «Die Kosten sind ein Problem», sagt Tlach, «meine Tochter studiert, und wir haben nicht so viel Geld.» In der Schweiz muss man es sich leisten können, gegen die Polizei vorzugehen. Tlach und ihre Tochter konnten mit den Anwälten eine Vereinbarung aushandeln, da die Rechtsvertreter den Fall interessant fanden. Ihnen sei gesagt worden, erinnert sich Christin Tlach, dass die Chance bestehe, das Verfahren zu gewinnen, weil sie als Hebamme aus der Mitte der Gesellschaft stamme, was ihre Aussagen glaubwürdig mache.
Eine Mediationsstelle wie diejenige in Genf hätte in einem Fall wie jenem von Tlach einer Gegenanzeige womöglich entgegengewirkt, sagt der Anwalt von Wartburg. In einfacheren Fällen könnten auch kantonale oder städtische Ombudsstellen gute Vermittlungsdienste leisten. Gehe es um komplexere Vorwürfe gegen die Polizei, etwa nach Einsätzen von Sondereinheiten, wäre eine externe und unabhängige Beschwerdestelle jedoch hilfreich, findet Christian von Wartburg. Diese dürfe gerne auch interkantonal organisiert sein. Besetzt werden müsste sie mit Profis, etwa ehemaligen Polizistinnen, Menschenrechtsanwältinnen oder Strafrechtsprofessoren. Dadurch könnten unter Umständen auch aufwendige und letztlich häufig sehr unbefriedigende Strafverfahren vermieden werden.
Die Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten hält die vorhandenen Beschwerdemechanismen allerdings für ausreichend. Es sei nicht nötig, daran etwas zu ändern und beispielsweise schweizweite Mediationsstellen spezifisch für Fehlverhalten der Polizei einzuführen, schreibt der Sprecher auf Anfrage der Republik: «Es kann jeder Kanton für sich entscheiden, ob eine solche zusätzliche Stelle Sinn macht oder nicht.»
Mitte Februar 2021, ein Jahr und acht Monate nachdem Christin Tlach auf der Schützenmatte zu Polizisten sagte: «Höret uf, ihm Schmärze zuezfüege!», steht die Verhandlung am Regionalgericht Bern-Mittelland an. Tlach ist angespannt, aber auch froh, dass der Prozess bald endlich vorbei sein wird.
Die Aussagen der Polizisten überzeugen das Gericht nicht. Die von Tlachs Tochter aufgenommenen Videos, die als Beweismaterial dienen, zeigten keine Gefährdung der Polizisten, und auch die anderen Vorwürfe liessen sich nicht bestätigen, sagt der Gerichtspräsident. Tlach und ihre Tochter werden freigesprochen. Damit werden auch die Kosten für das Verfahren sowie für ihre Anwältinnen übernommen – insgesamt 18’000 Franken, die sie im Fall eines Schuldspruchs selbst hätten bezahlen müssen. Das Urteil wird nur mündlich verkündet, die schriftliche Fassung kostet sie je 500 Franken.
Weniger klar ist, ob ihre aufsichtsrechtliche Anzeige etwas bewirkt. «Als besorgte Bürgerin möchte ich meine als konstruktiv zu verstehende Kritik an einem Polizeieinsatz anbringen», schrieb Tlach darin. Sie erhält Ende Juni 2019 von der Sicherheitsdirektion des Kantons Bern eine schriftliche Antwort, die erforderlichen Abklärungen würden bereits laufen, man bitte um etwas Geduld. Sobald man über die notwendigen Informationen verfüge, werde man Auskunft über die Erledigung der Anzeige geben. Bis heute hat Christin Tlach nichts mehr gehört. Das Kollektiv Antirep Bern kritisiert, Aufsichtsbeschwerden seien ein zahnloses Mittel, gerade auch weil es im Kanton Bern keine unabhängige Beschwerdeinstanz gebe, welche diese prüfe.
Viele beschweren sich nicht
Menschen wie Tlach, die Beschwerde einreichen oder sich erfolgreich gegen eine Anzeige wehren, sind laut Antirep Bern selten. Erkan Hauser, der in Wirklichkeit anders heisst, verzichtete zum Beispiel darauf, sich zu wehren.
Hauser nimmt am 22. September 2020 an einer Demonstration teil: In der Berner Innenstadt protestieren ein paar hundert Menschen gegen die verschärfte Asylpraxis des Bundes. Auf dem Waisenhausplatz eskaliert die Situation am frühen Nachmittag, weil sich einige der Demonstrantinnen einem Polizeiwagen in den Weg stellen und ihn an der Weiterfahrt hindern.
Auf einem Video, das kurz nach dem Vorfall in den sozialen Netzwerken zirkuliert, ist zu sehen, wie ein Polizist einen Mann derart grob anpackt, dass dieser zu Boden fällt. Erkan Hauser, der einen Kinderwagen stösst, schiebt sich ins Bild und stösst den Polizisten mit dem Arm. Im Gespräch mit der Republik erzählt er, dass er gerufen habe: «Hey, stopp, warum machst du das?» Auf dem Video sieht man, wie ihn ein Polizist in Vollmontur daraufhin anrempelt, zum Schlag auf Gesichtshöhe ausholt. Hauser springt zurück, der Kinderwagen kippt hin und her. Er sagt: «Ich hatte meine beiden Kinder dabei, ein solcher Angriff ist doch nicht verhältnismässig.»
Nach dem Vorfall ruft Hausers Frau bei der Rechtsschutzversicherung an und schildert den Vorfall. Die Antwort: Erkan Hauser sei zum Polizisten hin und habe ihn gestossen, der Vorfall könne deshalb auch gegen ihn verwendet werden. Hauser erstattet keine Anzeige, vor allem wegen seines geplanten Antrages auf einen Schweizer Pass. «Für mich war eine Anzeige nicht so wichtig. Einige meiner Freunde und auch meine Frau haben mir dazu geraten, und eigentlich wäre es gut, wenn auch der Polizist wüsste, dass er einen Fehler gemacht hat. Sein Job ist es doch nicht, jemanden zu schubsen oder zu schlagen, einfach so. Die Polizei ist doch für unsere Sicherheit zuständig.»
Die Kantonspolizei Bern kündigte nach dem Vorfall in Medienberichten an, den Sachverhalt von sich aus zu untersuchen. Auf Anfrage der Republik schreibt die Medienstelle, der Polizeieinsatz sei mit den involvierten Mitarbeitenden besprochen worden, gemäss ihren Erkenntnissen seien Personen weggestossen, jedoch nicht geschlagen worden. Die in den Vorfall involvierten Personen hätten weder bei der Staatsanwaltschaft Anzeige noch bei der Sicherheitsdirektion Beschwerde erstattet. «Gestützt darauf halten wir fest, dass wir hinschauen und bei Unstimmigkeit Situationen auch thematisieren und durch verschiedene Instanzen prüfen lassen.»
Wie gelingt gegenseitiges Vertrauen?
Für den Basler Anwalt Christian von Wartburg ist klar, dass eine unabhängige Beschwerdestelle rasch Wirkung zeigen würde: «Jeder, der weiss, dass seine Arbeit von jemand Externem mit Sachverstand unter die Lupe genommen werden könnte, arbeitet automatisch sorgfältiger.» Eine solche Stelle könnte über die Zeit auch konkrete Vorgaben für eine Best Practice entwickeln. Etwas, was das Strafrecht, so von Wartburg, nicht leisten könne.
Eine Stelle, die sich um Polizeibeschwerden kümmert, kann auch helfen, langfristig Barrieren ab- und Verständnis aufzubauen. Und zwar sowohl bei der Bevölkerung als auch bei der Polizei, wie das Modell in Genf zeigt. Für die Genfer Polizeichefin Monica Bonfanti ist die Zusammenarbeit mit der Mediationsstelle ein Erfolg: «Die Bürgerinnen und Bürger verstehen die Polizeiarbeit heute besser und haben mehr Vertrauen in die Polizei, weil durch die Mediationen Spannungen abgebaut werden können», sagt sie. Es sei für die Betroffenen wichtig zu verstehen, dass eine Beamtin beispielsweise die Höhe der Busse nicht nach Gutdünken festlege, sondern Regeln befolgen müsse. Oder dass Beamte in einer Stresssituation nicht immer nur nett reagierten, was aber nicht persönlich gemeint sei.
Die Polizeiarbeit habe sich zwar seit der Einführung des Mediationsorgans nicht grundlegend geändert, man erhalte aber durch die Mediationen wertvolle Informationen, sagt Bonfanti: «Etwa, über welche Vorfälle sich die Bevölkerung besonders häufig beschwert. So können wir unsere Arbeit sowie unsere Aus- und Weiterbildung entsprechend anpassen und verbessern.»
Um Konflikte langfristig zu vermeiden, erarbeitete die Caritas Genf 2018 für die Mediationsstelle ein grösseres Projekt. Ausgangspunkt waren die Roma-Familien, die seit Jahren unter einer Brücke leben und immer wieder von der Polizei und der Müllabfuhr vertrieben werden. Dominique Froidevaux, Direktor der Caritas Genf und Projektleiter, sagt: «Man muss das Leben auf der Strasse verstehen, wenn man die Konflikte zwischen der Polizei und den Roma lösen will.» Er weiss: Die Roma in Genf, geschätzt 300 bis 400 Leute, funktionieren anders als die restliche Bevölkerung. Deshalb untersucht unter Froidevaux’ Aufsicht eine Recherchegruppe der Genfer Hochschule für soziale Arbeit die Bedürfnisse und Probleme der Roma.
«Unter der Brücke kann es für uns vielleicht so aussehen, als wäre alles voller Müll. Sie verpacken zum Beispiel ihre Matratzen oder Medikamente mit Plastiksäcken, wenn es regnet», sagt Froidevaux. «Aber für die Roma ist das kein Müll, sondern ihr Hab und Gut. Es ist unglaublich wertvoll für sie.» Auch die Tatsache, dass diese Orte immer wieder gewaltvoll geräumt würden, habe dazu geführt, dass sich die Roma als Objekte fühlten: «Wenn die Polizei und die Müllabfuhr kommen, dein Zuhause räumen und deine Sachen wegwerfen, ist es logisch, dass du dich selber auch wie Abfall fühlst.»
Eines der grössten Probleme bestehe darin, dass die Polizei Befehle befolgen müsse – und einzelne Personen vor Ort nicht immer selber entscheiden könnten. Die Caritas arbeitet heute direkt mit der Polizei zusammen, die Mediationsstelle wird nur noch bei Bedarf eingeschaltet. Der Kontakt mit den meisten Polizistinnen ist mittlerweile sehr gut: «Durch die lange Zusammenarbeit sind die betroffenen Beamten entsprechend sensibilisiert.»
Zusätzlich arbeiten Froidevaux und sein Team mit sämtlichen kantonalen und städtischen Behörden zusammen, etwa mit der Müllabfuhr, die für die Räumungen der besetzten Plätze zuständig ist. Froidevaux sagt: «Unsere Arbeit ist eine stetige. Die Gesellschaft ändert sich nicht auf Beschluss, es braucht viele kleine Schritte.» Heute, sagt er, würden die Gespräche zwischen den Roma und der Polizei auf Augenhöhe laufen. «Dieser Vertrauensaufbau war in etwa so komplex wie das Zusammenbauen einer Uhr.»