Das Veränderungs­virus

Die Corona-Krise hat die Literaturbranche zu Improvisation und Innovation gezwungen. So manche Neuerung ist gekommen, um zu bleiben. Doch auch manch neues Problem wird die Pandemie überdauern.

Von Daniel Graf (Text) und Lisa Rock (Illustration), 26.05.2021

Eigentlich hätte morgen Donnerstag die Leipziger Buchmesse beginnen sollen. Das heisst, nein: Eigentlich findet die Leipziger Messe seit jeher im März statt und wurde für dieses Jahr auf Ende Mai verschoben, in der Hoffnung, sie müsse nach 2020 nicht ein weiteres Mal ausfallen.

Genützt hat die Verschiebung am Ende nichts. Schon seit langem ist klar, dass für die Messe, die vor der Pandemie an einem langen Wochen­ende knapp 300’000 Besucherinnen anzog, auch dieses Jahr – bis auf eine Sonder­ausgabe des Lesefests «Leipzig liest» – nur die Absage blieb. Was auch für die Schweizer Buch­verlage einmal mehr bedeutet, dass ihnen die grösste Bühne für ihre Frühjahrs­novitäten wegbricht.

Es hat deshalb etwas durchaus Symbolisches, wenn von Donnerstag bis Sonntag – also exakt während der einmal anvisierten Messe­tage – das neu gegründete LitFest Zürich stattfindet, um hiesigen Verlagen und ihren Autoren wenigstens eine kleine Plattform zu bieten.

Das Literatur­festival (bei dem die Republik Medien­partner ist) wurde vom Sänger und Gastronomen Christoph Homberger und dem Verleger André Gstettenhofer initiiert und kombiniert die beiden Welten, in denen sich Literatur­veranstaltungen mittlerweile abspielen: Bildschirm und Bühne. Im Rahmen des Corona-Sicherheits­konzepts finden die Lesungen vor Live-Publikum statt, werden aber auch mit professioneller Video­technik ins Netz übertragen.

Damit ist das LitFest Zürich gleich in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für die derzeitige Lage im Literaturbetrieb:

  • Da Grossereignisse nicht möglich sind, bleibt nur, mit einer Vielzahl kleiner Events gegenzusteuern.

  • Ob kleine Veranstaltungen zustande kommen, hängt massgeblich von der Initiative Einzelner ab.

  • Und dabei finden, siehe Christoph Homberger, häufig Rollen­wechsel statt: So mancher Anstoss kommt von Quer­einsteigerinnen oder von ausserhalb der Branche.

Sicher ist: Seit Pandemie­beginn ist eine ganze Menge an Neuem entstanden – oft unterhalb der Schwelle einer breiteren Wahrnehmung. Und es spricht einiges dafür, dass die wenigsten dieser Änderungen einfach so wieder verschwinden. Nach der Krise jedenfalls (wann immer das sein mag) könnte das literarische Leben auch hierzulande ziemlich anders aussehen als zuvor.

Der folgende Text ist ein Streifzug durch die neuen Felder und Nischen in der Deutsch­schweizer Literatur­landschaft – und durch die Problem­zonen des Betriebs. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Und mit einem besonderen Fokus auf jene, die wegen oder trotz Corona Neues probieren.

Die Stationen (die Sie auch einzeln ansteuern können):

Und endlich:

Neue Bühnen

Wen auch immer man derzeit im Literatur­betrieb fragt, was durch die Pandemie am meisten fehlt, die Antwort lautet quasi einhellig: Lesungen. Veranstaltungen. Alles, was Menschen zusammen- und miteinander in persönlichen Austausch bringt.

Darauf reagieren neue, speziell auf die Pandemie zugeschnittene Lese­reihen. «Die Rahmen­handlung» zum Beispiel, ein kleines Literatur­festival, das der ehemalige Musik­unternehmer Alon Renner in Zürich-Wiedikon abhält.

«Das Gemeine war ja», sagt der Veranstalter im Gespräch mit der Republik, in kleinem Rahmen seien Kultur­veranstaltungen die meiste Zeit über möglich gewesen, «aber die zugelassene Besucher­zahl war nicht rentabel». Also entschied Renner – früher Manager des Rappers Bligg und 2019 aus dem Musik­business ausgestiegen –, einfach in seinem Haus ein Corona-konformes Lese­festival durchzuführen: vier Zimmer, in denen parallel vier Autoren lesen, die Zuhörerinnen wechseln nach Rotations­prinzip von Raum zu Raum. Letzten Sommer gab es für die «Haus­geschichten» den Pilot­versuch, nun steht Anfang Juni der nächste Event an, fünf Tage am Stück. In Zukunft, sagt Renner, soll es das Festival dreimal jährlich geben.

Ganz ähnlich die Entstehung von «Literatur im Salon». Nachdem die Schauspielerin Rebekka Burckhardt die Autorin Seraina Kobler auf einem Eltern­abend kennengelernt hatte, konzipierten beide im letzten Herbst eine Veranstaltung unter dem Motto «Trost und Suppe»: Lesungen an drei verschiedenen Stellen in Burckhardts Wohnung, mit anschliessendem Zusammen­kommen auf der Dach­terrasse. Gefördert von der Stadt und dem Kanton Zürich sowie der Ernst-Göhner-Stiftung, hat sich daraus nun eine sechsteilige Reihe entwickelt, im Juni finden die nächsten beiden Abende statt.

Der Grundgedanke lautet auch bei «Literatur im Salon»: Autoren alternative Auftritts­möglichkeiten geben – sie aber auch angemessen bezahlen. Als Bühnen­künstlerin wünscht sich Burckhardt ähnliche Initiativen für sämtliche Kultur­sparten: «Öffnet eure Gärten!», appelliert sie, die Künstlerinnen könnten jede Bühne gebrauchen.

Die ältere, ursprünglich über das Literatur­haus Basel in die Schweiz gekommene Idee der Sofalesungen hat also unter Corona-Bedingungen eine ganz neue Plausibilität und Dringlichkeit bekommen – und neue Variationen.

Neue Bahnen

Aus privaten Räumen öffentliche zu machen, ist der eine Weg zu alternativen Lese­bühnen. Den anderen, nämlich den öffentlichen Raum mit Literatur zu bespielen, beschreitet das Projekt «Maison du Futur» in Zürich, und «beschreiten» ist hier wörtlich zu nehmen.

Das Organisations­team kombiniert Lesungen und Performances mit der Corona-Aktivität Nummer eins: dem Spaziergang. Den Lesungen und literarischen Podcasts, die das «Maison» mit wechselnden Partnern zusammen realisiert, kann man mittels Funk­technik folgen, während man – spazieren geht. So konnte man etwa den Winter über bis zur Badesaison literarisch begleitet durch das Zürcher Max-Frisch-Bad oder jetzt an Pfingsten durchs «Basislager» schlendern. Und kommenden Samstag gibt es gar einen «lebendigen Spaziergang» zum Thema Tod.

Mit solchen Audiowalks soll die kulturelle Teilhabe auch der Risiko­gruppen und all jener, die Innen­räume meiden möchten, gewährleistet werden, ohne dass die Kultur aus dem öffentlichen Raum verschwindet. «Wir befürworten das Streaming, aber nicht unbedingt das Streaming nach Hause», sagt Samuel Schwarz vom Betreiber-Kollektiv des «Maison».

Dass Teilhabe für alle nicht nur mit Blick aufs Publikum, sondern auch für die Schreibenden elementar ist, zeigt indes ein anderes Projekt, das während der Pandemie geboren wurde: «Weiter Schreiben Schweiz». Es soll hier lebenden Exilautorinnen, die in ihren Heimat­ländern nicht mehr veröffentlichen können, das Weiterschreiben ermöglichen: in ihrer Sprache, aber in enger Vernetzung und Zusammen­arbeit mit einheimischen Autoren.

Die Idee dazu war bei einem Podium der Solothurner Literatur­tage 2020 entstanden, als das Festival erstmals ins Digitale abwandern musste und die Berliner Autorin Annika Reich von dem Projekt in Deutschland erzählte (die Republik berichtete). Mittlerweile engagieren sich Autorinnen wie Dorothee Elmiger, Peter Stamm, Usama Al Shahmani oder Julia Weber für «Weiter Schreiben Schweiz». Und als das Solothurner Festival vor wenigen Tagen zum zweiten Mal digital über die Bühne ging, präsentierten der syrische Autor Shukri Al Rayyan und Zsuzsanna Gahse bereits erste Ergebnisse ihrer Zusammen­arbeit als eines der neu gebildeten Tandems.

Neue Verlage

Wer heutzutage noch einen Literatur­verlag gründet, bekommt von Branchen­kennern, wenn sie wohlwollend sind, in der Regel ein ordentliches Mass Idealismus und einen sympathischen Hang zu kaufmännischem Übermut attestiert. Und wenn jemand so was mitten in einer Pandemie unternimmt?

«Spinnsch eigentlich?», hätten ihn Freunde und Bekannte gefragt, erzählt Rainer von Arx: «Und dann auch noch Lyrik!»

Mit seiner edition merkwürdig bringt von Arx künftig unter dem Dach des Verlags Der gesunde Menschen­versand Texte aus Spoken Word, Kabarett und Slam-Poetry heraus. Der Inhaber einer Agentur für Bühnen­künstlerinnen hat, wie er sagt, die mit der Auftritts­flaute des Jahres 2020 frei werdende Zeit genutzt, um «einen lang gehegten Traum zu verwirklichen».

Damit ist er nicht der Einzige.

Jil Erdmann, vor zehn Jahren als Buch­händlerin in die Branche eingestiegen, hat kürzlich den feministischen Verlag sechsundzwanzig gegründet. Nach erfolgreich abgeschlossenem Crowdfunding soll im September der erste Titel erscheinen: «Frauen erfahren Frauen», eine Hommage an ein gleichnamiges Buch von 1982, das die inzwischen verstorbene Verlegerin Ruth Mayer damals in ihrer Edition R+F herausbrachte. Erdmann hatte das rote Büchlein im Sommer 2020 antiquarisch erworben – und war davon so begeistert, dass sie sich zuerst auf Spuren­suche nach Ruth Mayer und ihrer Publikations­reihe begab. Und dann ihre eigene Verlags­gründung beschloss.

Mit ihrem ersten Buch macht Erdmann nun Beiträge von damals wieder zugänglich – zusammen mit aktuellen Texten namhafter zeitgenössischer Autorinnen.

«Es ist eine sehr gute Zeit, diesen Verlag zu gründen und eine Lücke zu schliessen», sagt Erdmann gegenüber der Republik.

Andere scheinen ähnlich zu denken.

In Deutschland haben die Verlegerin Birgit Schmitz und die Autorin Irene Dische mit TOC («The Other Collection») eine bibliophile Sammler­edition zeitgenössischer Klassiker aus der Taufe gehoben. Der ehemalige Aufbau- und Ullstein-Verleger Gunnar Cynybulk geht im kommenden Herbst mit seinem unabhängigen Kanon-Verlag an den Start.

Und in der Schweiz haben zwei Autoren­verlage, die kurz vor der Pandemie gegründet wurden, während der vergangenen Monate ihre ersten Programme lanciert: der Caracol-Verlag, der unter der Leitung von Irène Bourquin und Isabella Looser vor allem für Prosa und Lyrik aus der Ostschweiz eine Plattform sein will. Sowie der Telegramme-Verlag des Schriftsteller­ehepaars Dana Grigorcea und Perikles Monioudis, der aus dem gleichnamigen E-Magazin hervorging: seit 2019 mit ersten Einzel­titeln und seit der aktuellen Saison, wie Grigorcea sagt, mit dem «ersten echten Programm» aus literarisch ambitionierten Neuerscheinungen und ausgewählten Klassikern.

Nimmt man nur die bereits genannten Entwicklungen zusammen, wird deutlich: Im Literatur­betrieb herrscht so ziemlich das Gegenteil von Stillstand. Selten war so viel Neuerung – teils wegen, teils trotz Corona.

Was aber zeigt das grössere Bild? Wie ist die Branche, wie sind die Autoren bisher durch die Krise gekommen?

Neue Lage

Als Peter Haag, der Verleger von Kein & Aber, Mitte März letzten Jahres auf die Tages­bilanzen blickte, war das, wie er heute sagt, «eine total neue Erfahrung». Die Umsätze nämlich gingen damals gegen null – «und dann hat sich alles am Ende deutlich besser entwickelt».

Haags persönliches Kurz-Resümee zum Krisenjahr 2020 kann durchaus als repräsentativ gelten. Vergleicht man die aktuelle Situation mit den düsteren Prognosen von Frühjahr 2020, lässt sich sagen: Das Schlimmste ist für die Buch­branche ausgeblieben. Ende 2020 stand für den Deutsch­schweizer Buch­markt gar eine schwarze Null.

Und doch bleibt die zentrale Frage, zu welchem Preis diese Bilanz zustande kam. (Dazu gleich mehr.)

Ähnlich sieht die Grosswetter­lage bei den Autorinnen aus.

Einerseits scheint das Massnahmen­paket von Bund und Kantonen – Ausfall­entschädigungen, Corona-Erwerbs­ersatz, Nothilfe – trotz bürokratischer Hürden die grössten Härten aufgefangen zu haben. Bei der Nothilfe, die der Bund über den Verein Suisse­culture Sociale für alle Kultur­sparten organisiert, stammen von insgesamt 6926 bisher beurteilten Gesuchen lediglich 204 aus dem Bereich der Literatur, wie Nicole Pfister Fetz von Suisse­culture Sociale auf Anfrage der Republik mitteilt. Beim vereins­eigenen Hilfsfonds von Suisse­culture Sociale, der all jenen offensteht, die bei den Hilfsangeboten von Bund und Kantonen durch die Maschen fallen, waren die Anträge der Literaten laut Pfister Fetz – die ausserdem Geschäfts­führerin beim Schweizer Autorinnen­verband A*dS ist – in den vergangenen Monaten «an zwei Händen abzuzählen».

Auch wenn man für diese Zahlen wissen muss, dass die Literatur bei den freien Kultur­schaffenden ohnehin die mit Abstand kleinste Sparte ist: Alles in allem lässt sich sagen, dass Künstlerinnen aus anderen Sparten noch schlimmere Einbussen zu verzeichnen hatten.

Das aber macht es zum einen nicht besser, zum anderen muss man die Befunde richtig einordnen:

  1. Durchschnitts­zahlen besagen wenig über den Einzelfall.

  2. Die allermeisten Autoren leben ohnehin nur zu einem geringen Teil von ihrer Kunst – und häufig überhaupt von sehr wenig. Sie sind zwangs­läufig schon immer geübt darin, sich mit allen möglichen Jobs über Wasser zu halten und die Schuld ihrer Berufs­wahl durch klaglose Bescheidenheit abzutragen. Immerhin, sagt die Autorin Anaïs Meier, gebe es für die generell prekäre Lage eines Grossteils der Schreibenden nun eine breitere Sensibilisierung in der Öffentlichkeit.

  3. Die Krise trifft unterschiedliche Autorinnen unterschiedlich stark – und auf ganz verschiedene Weise.

Schon die Frage des Zeitpunkts spielt eine immense Rolle: Wer, wie etwa Christoph Höhtker, das Pech hatte, mit seinem neuen Roman voll in die erste Corona-Welle zu geraten, sah die jahrelange Arbeit unweigerlich darin untergehen – weil sich zu der Zeit kein Mensch für metafiktionale Belletristik (oder irgendetwas anderes ausser Corona) interessierte. Für die einen bedeutete die neue Entschleunigung einen Produktions­schub, für andere die grosse Schreib­blockade. Und wer allein­erziehend den Nachwuchs durchs Pandemie­jahr bringen musste, wird kaum von Homeoffice und mehr Schreibzeit profitiert haben.

Von den strukturellen Verschiebungen, die sich derweil im Buchmarkt ereignen, ist da noch gar nicht die Rede.

Neue Schwierigkeiten

Es ist ein bezeichnender Satz, den Dana Grigorcea mit Blick auf ihren Telegramme-Verlag formuliert: «Wir sind in den schwarzen Zahlen – natürlich ohne unsere Arbeit mitzurechnen.»

Die schwarze Null in der letzten Jahres­bilanz des Deutsch­schweizer Buch­markts ist tückisch. Sie unterschlägt nicht nur, wie viele Extra­stunden und kreative Sonder­einsätze dafür nötig waren, etwa von Buch­händlern, die auf dem Fahrrad ihre Kundinnen belieferten. Die Zahl verschleiert auch die dahinter stehenden Markt­anteile – und dass Corona die Verschiebung vom stationären Handel Richtung online weiter verstärkte.

Im Webshop aber wird tendenziell nicht gestöbert, sondern gezielt nach dem schon Bekannten gesucht. Davon profitieren Bestseller und bekannte Klassiker. Während es vor allem für weniger markt­gängige Neuerscheinungen ein Problem ist, wenn die Verkäufe bei Lesungen wegfallen und Mitnahme­käufe im Quartier­buchladen seltener werden.

«Es wurden eher ‹Momo›, ‹Der Alchimist› und ‹Der kleine Prinz› verkauft», resümiert Tanja Messerli vom Schweizer Buch­händler- und Verleger-Verband (und Präsidentin des Project-R-Genossenschafts­rats). Zugleich habe es einen «Riesen­einbruch für die besonderen Themen» gegeben. Oder wie es der Basler Autor Martin R. Dean formuliert: «eine grössere Kommerzialisierung unter der Hand».

Gerade weil die Rahmen­bedingungen unter Corona die Ausgangs­lage für die «leiseren», erst zu entdeckenden Texte erschweren, haben die Verlage seit Pandemie­beginn ihre Programme reduziert. «Wir machen weniger Titel, weil wir für jeden einzelnen mehr tun müssen und wollen», sagt Sabine Dörlemann über ihren Verlag Dörlemann und spricht damit einen branchen­weiten Trend an.

Grundsätzlich also könnte die Reduktion durchaus dem einzelnen Buch entgegen­kommen – und der notorischen Über­produktion der Branche entgegen­wirken. Die Frage ist nur, von welcher Art Buch es künftig weniger geben wird.

Dass die stilleren und weniger mainstreamigen Bücher in Zukunft umso mehr auf besondere Vermittlungs­arbeit angewiesen sein dürften, dafür spricht mindestens zweierlei.

  1. Weil Verlage auch starke Titel schieben mussten, um sie nicht in der Corona-Welle zu versenken, liegen auf den kommenden Programmen umso grössere Hoffnungen. André Gstettenhofer vom Verlag Elster & Salis erwartet für den Herbst einen «Riesen­kampf um Aufmerksamkeit».

  2. Womöglich folgenreicher: Nach dem Kraftakt des ersten Pandemie­jahres mit der schwarzen Null scheinen vielerorts die emotionalen und betriebs­wirtschaftlichen Reserven aufgebraucht.

«Dieses Jahr ist es harziger», sagt Peter Haag, die Menschen im Buchmarkt seien «mürbe, vor allem in Deutschland», wo der monate­lange Shutdown je nach Bundesland auch den Buchhandel betraf – und wo Haags Verlag 85 Prozent seines Umsatzes macht. Wie umgekehrt auch gut 80 Prozent der in der Deutsch­schweiz gekauften Bücher aus Deutschland und Österreich kommen. Mit anderen Worten: Krisen­effekte dort werden früher oder später auch im Schweizer Buchmarkt spürbar.

«Es greift jetzt auch gesunde Unternehmen an», sagt Tanja Messerli mit Blick auf die anhaltende Dauer der Krise.

Das sind Rahmen­bedingungen, in denen zumindest die grossen Verlags­programme und die Auslagen der Gross­buchhandlungen in der Regel nicht wagemutiger werden. Weil die Abhängigkeit von mainstream­tauglichen Titeln, die sich mit der Hoffnung auf einen Bestseller verbinden, umso stärker ist.

Es kommt deshalb nicht von ungefähr, wenn Nicole Pfister Fetz davon ausgeht, dass etliche Folgen der Pandemie in der Literatur mit ihren langen Produktions­zyklen erst mit Verzögerung sichtbar werden. Und Martin R. Dean vermutet: «Die Krise wird sich noch auf Jahre hinaus auswirken.»

Neue Möglichkeiten

Um sich auch noch einmal vor Augen zu führen, was in dieser Krise möglich wurde, lohnt ein Gespräch mit Johanna Lier. Soeben ist ihr neues, zwischen Dokumentation und literarischem Essay changierendes Buch namens «Amori. Die Inseln» erschienen, und wer die Buchstaben im Titelwort ein bisschen umstellt, erfährt auch gleich, um welche Inseln es dabei geht.

Vor der Pandemie hat Lier auf Lesbos und im Flüchtlings­lager Moria recherchiert. Neun Männer und Frauen, Geflüchtete und Aktivistinnen, haben ihre Geschichten mit ihr geteilt, die Lier mit literarischen Mitteln zu einem Bericht verdichtet hat.

Wenn sie demnächst ihr Buch in einem Online-Event vorstellt, dann können auch ihre Protagonisten, denen das Reisen verboten ist, dabei sein: Sie werden sich live dazuschalten, sodass mit ihnen geredet wird statt über sie.

Die Voraussetzungen von Liers Buch mögen spezifische sein. Dennoch wird hier der generelle Vorteil von Online-Veranstaltungen offensichtlich: Sie sind raum­unabhängig, inklusiver und im Wortsinn grenz­übergreifend. Oder wie es Bettina Spoerri vom Aargauer Literatur­haus Lenzburg gegenüber der Republik ausdrückt: Der Veranstaltungs­betrieb wird potenziell «mehrdimensionaler, internationaler, spannender».

«Ein Paradigmen­wechsel», bilanziert Johanna Lier.

Dieser bringt allerdings auch für Autorinnen ganz neue Anforderungen mit sich. Für ihre Veranstaltungen hat Lier neues Equipment beschafft, kleine Einspiel­filme mit ihren Protagonisten erstellt und ihr Online-Event so organisiert, dass der Stream am Ende zu einem eigenständigen komponierten Ganzen wird: «Man lernt quasi einen neuen Beruf.» Und muss dafür erst einmal Zeit und Geld investieren.

Das Engagement in diesem Bereich jedenfalls könnte sich lohnen. Denn vieles deutet darauf hin, dass digitale oder hybride Veranstaltungen auch nach dieser Pandemie zum neuen Programm gehören werden – und beim Publikum auf Anklang stossen, sofern sie professionell produziert sind.

Dani Landolf, neuer Geschäfts­führer der Solothurner Literatur­tage, hat nach der zweiten Online-Ausgabe des Festivals angekündigt, man werde auch künftig digitale Tools nutzen. Im Literatur­haus Zürich, wo dank unterschiedlicher Digital­formate über die ganze bisherige Pandemie hinweg ein reger Veranstaltungs­betrieb am Laufen gehalten wurde, sollen laut Leiterin Gesa Schneider digitale Workshops, Lesezirkel und Livestreams nicht mehr aus dem Angebot verschwinden. Und Bettina Spoerri beobachtet für ihr Haus in Lenzburg eine schlagartig angestiegene Akzeptanz digitaler Veranstaltungs­formate, gerade beim älteren Publikum. Hybrid­formate werden auch hier über die Pandemie hinaus erhalten bleiben.

Neues Selbst-Bewusstsein

Vielleicht sind es vor allem zwei Dinge, die die Literatur­branche in den vergangenen Monaten über sich selbst gelernt oder besser: sich viel stärker bewusst gemacht hat. Beide stehen zueinander in einer gewissen Spannung.

Erstens: Literatur ist mehr als eine Summe von Texten. Sie ist auch eine zwischen­menschliche Praxis.

Was die Buchbranche, jedenfalls der idealistische Teil von ihr, anbietet, beschränkt sich nicht auf den Platz zwischen zwei Buch­deckeln, sondern vollzieht sich im öffentlichen Raum, in der sozialen Interaktion. Zu den «Produkten» des Literatur­betriebs gehören auch die Begegnung, der Austausch, das Gespräch. Oder wie es Perikles Monioudis im Gespräch mit der Republik in sein Verleger­motto fasst: «Keine Literatur ohne Menschen».

Natürlich, es gibt auch Autoren wie den in Genf lebenden Christoph Höhtker, die das Geschehen mit einem gewissen Sicherheits­abstand beobachten und konstatieren: «Das Gefühl der Vereinsamung ist grösser geworden. Für mich ist das ein weiterer Schritt Richtung literarische Freiheit.» Allerdings: Selbst die (kokettierende) Distanzierung vom Betriebs­geschehen ist nur fassbar als Relation zu diesem.

Zweitens: Die Digitalisierung der Branche hat durch die Pandemie eine immense Beschleunigung erfahren.

Das betrifft nicht allein den Veranstaltungs­bereich. Tendenziell haben sämtliche Akteurinnen – Autoren, Verlage, Veranstalterinnen – ihre Social-Media-Aktivitäten erhöht. Worin sich all jene bestätigt sehen dürfen, die das auch ohne Pandemie schon für keine schlechte Idee gehalten hatten. Und ein Verlag wie Caracol hat nicht einmal mehr ein klassisches Verlags­büro, sondern ist schon seit der Planungs­phase dezentral über Homeoffice organisiert – ein Umstand, der sich laut Co-Leiterin Irène Bourquin in der Pandemie umso mehr bewährt hat.

Dennoch ist die digitale Transformation des Betriebs im Eventbereich am offensichtlichsten.

Was das langfristig für die Geschäfts­modelle heisst, ist noch nicht ausgemacht. Wie attraktiv sind digitale Lesungen für Veranstalter, wenn von derselben Autorin zum selben Buch bereits eine Lesung auf Youtube zirkuliert? Wie lässt sich einer Günstig- oder Gratis-Mentalität der Nutzerinnen entgegen­wirken, sodass Online-Veranstaltungen auch rentabel sind? Und viel grundsätzlicher: In welchem Verhältnis werden künftig die Nachfrage nach Digital­angeboten und der Wunsch nach dem Vor-Ort-Erlebnis stehen?

Das alles sind Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Fest steht: Die Politik unterstützt bereits sogenannte Transformations­projekte für Institutionen, die die eigene Digitalisierung vorantreiben.

Das zentrale Versprechen bei alldem bleibt die Unabhängigkeit von einem konkreten Ort und, für Streams zum Nachhören, auch von einer bestimmten Zeit.

«Gerade für uns als peripher gelegenes Literatur­haus ist das eine Riesen­chance», sagt Bettina Spoerri vom Literatur­haus Lenzburg. Anaïs Meier erzählt, sie habe über Online-Lesungen teilweise mehr Leute erreicht als live vor Ort. André Gstettenhofer findet es grossartig, dass «man im Park oder in der Badi liegen und eine Lesung hören kann».

Peter Haag von Kein & Aber hingegen vermisst die Rückkopplungen zwischen Lesenden und Publikum: «Man spürt als Lesender nichts – da kann ich auch in die Hecke reden.» Die Digitalisierung sei begrüssens­wert, aber sicher kein Allheilmittel. «Ich fände es gut, es würde in manchen Bereichen wieder eine Entdigitalisierung geben.»

Sieht ganz so aus, als bliebe die Branche vielstimmig. Das ist ziemlich sicher eine gute Nachricht.