«Terrorismus ist zum Kampfbegriff geworden, um den politischen Gegner zu dämonisieren»

Als Delegierter für das Internationale Rote Kreuz war Patrick Walder einer der Ersten, die in Kabul die CIA-Geheim­gefängnisse entdeckten – während zur gleichen Zeit die Taliban einen seiner Kollegen ermordeten. Heute kämpft er an vorderster Front gegen das neue Schweizer Anti-Terror-Gesetz. Ein Gespräch darüber, warum zwanzig Jahre «Krieg gegen Terror» die Welt nicht sicherer gemacht haben.

Von Daniel Ryser (Text) und Tom Huber (Bild), 14.05.2021

«Gerade Klima­aktivistinnen bis hin zu ETH-Professoren argumentieren ja in Bezug auf die Klima­politik mit Furcht und Schrecken»: Patrick Walder.

Was ist Terrorismus? Um diese Frage geht es im Kern bei der Abstimmung über das Bundes­gesetz zu den polizeilichen Massnahmen gegen Terrorismus (PMT). Das Gesetz, das am 13. Juni an die Urne kommt, wird von verschiedenen Seiten scharf kritisiert – von den Grünen über die SP, die Grün­liberalen bis zur Auns. Massive Kritik kommt vor allem von Rechts­professorinnen, aber auch von internationalen Experten, deren Kerngebiet der sogenannte «Krieg gegen den Terror» ist. Im Zentrum der Kritik steht die neue, schwammige Terrorismusdefinition.

Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.

Bundes­gesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT).

Der Teufel steckt im Detail, begründet etwa Rechts­professor und Uno-Sonder­bericht­erstatter Nils Melzer seine fundamentale Kritik am Gesetz: In der Passage «oder mit der Verbreitung …» beispiels­weise, wo eigentlich zwingend ein «und» hingehören würde. Denn wo Terrorismus von einer schweren Straftat entkoppelt werde, ermögliche das die Verfolgung von politischer Opposition, von politischen Bewegungen und von Medien.

«Diese Definition von Terrorismus wird von autoritären Staaten benutzt, um die Opposition zu unterdrücken», sagte die nordirische Rechts­professorin Fionnuala Ní Aoláin im Gespräch mit der Republik, Uno-Sonder­bericht­erstatterin für die Förderung und den Schutz der Menschen­rechte und Grund­freiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus.

Einer der wichtigsten Lobbyisten gegen das PMT war in den vergangenen Jahren ein Mann, der einst in Afghanistan mitten im Sturm des sogenannten «Krieges gegen den Terror» stand und dessen Arbeits­kollege von Taliban ermordet wurde: Patrick Walder, damals Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und heute Kampagnen­leiter bei Amnesty International. Ein Mann, der 2003 in Kabul vermutlich als Erster mit seinem Team von den geheimen CIA-Folter­programmen erfuhr – eine Entdeckung mit weitreichenden Folgen, über die er mit der Republik erstmals spricht.

«Tatsächlich hat die Schweiz ihre Anti-Terror-Massnahmen in den letzten Jahren bereits so ausgebaut, damit das Strafrecht auch den präventiven Bereich abdeckt», sagt Patrick Walder. «Wer Mitglied einer Terrorgruppe ist oder diese unterstützt, wer einen Anschlag vorbereitet, wer mit Gewalt droht oder Videos von Terrorgruppen postet, kann heute schon verhaftet und verurteilt werden. Mehrere Personen sitzen wegen solcher Straftaten heute in der Schweiz im Gefängnis.» Das PMT hingegen, das die Bundes­polizei mit weitreichenden Kompetenzen ausstatte, sieht er als Teil eines weltweiten Damm­bruchs seit 9/11, wo im Namen der Terrorismus­bekämpfung schliesslich die Rechts­sicherheit immer mehr ausgehöhlt werde.

Patrick Walder, Sie arbeiteten in Afghanistan, als einer Ihrer Kollegen, der IKRK-Delegierte Ricardo Munguia, im März 2003 in einen Hinterhalt der Taliban geriet und gezielt exekutiert wurde. Sie haben einen Kollegen durch Terrorismus verloren – gleichzeitig waren Sie in den letzten Jahren als Kampagnen­leiter von Amnesty International einer der wichtigsten Lobbyisten gegen das PMT-Gesetz: die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus. Ein Gesetz, das uns, wie FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter behauptet, sicherer machen soll gegen islamistischen Terrorismus. Können Sie Ihre Haltung erklären?
Ich muss etwas ausholen.

Bitte sehr.
Wir haben damals, bei unserer Arbeit in Afghanistan, eine Art System von Geheim­gefängnissen entdeckt. Erst später stellte sich heraus, dass diese von der CIA betrieben wurden. Zu Beginn realisierten wir bei unseren Gefängnis­besuchen bloss, dass es Bewegungen von Gefangenen gibt. Dass Leute versteckt und verschoben werden, bevor wir vom IKRK die Gefängnisse besuchen. Dass es also Gefangene gab, zu denen das IKRK keinen Zugang hatte. Leute, die, wie sich später herausstellte, irgendwo auf der Welt gekidnappt, nach Afghanistan verschleppt und dort von allem ferngehalten, systematisch gefoltert und misshandelt wurden.

Wie sind Sie denn überhaupt darauf aufmerksam geworden?
Das IKRK hat das Recht, Kriegs­gefangene zu besuchen. Die Organisation ist über die Genfer Konventionen dazu mandatiert. Wir besuchten in Afghanistan gefangene Taliban­kämpfer, aber es wurde immer offen­sichtlicher, dass vor unseren Besuchen Gefangene aus ihren Zellen transferiert wurden an einen unbekannten Ort.

Wie haben Sie das festgemacht?
Dazu möchte ich mich nicht im Detail äussern, aber wir konnten mit Sicherheit feststellen, dass Gefangene vor dem IKRK versteckt wurden. Wir haben das ein Jahr lang intensiv mit einem Team untersucht und dann einen Bericht verfasst, den der damalige IKRK-Präsident Jakob Kellenberger im Januar 2004 den Amerikanern präsentiert hat. Er ist dafür extra in die USA gereist und hat sich mit den Spitzen der US-Regierung getroffen. Der damalige Aussen­minister Colin Powell, die Nationale Sicherheits­beraterin Condoleezza Rice und Paul Wolfowitz vom Pentagon erfuhren von Kellenberger persönlich, was wir über die Geheim­gefängnisse wussten. Ich kann dazu nur sagen, was heute öffentlich bekannt ist: Unsere Untersuchung war die erste Intervention bei der US-Regierung zu diesem Thema. Und sie wird zitiert im sogenannten Feinstein-Report, dem Untersuchungs­bericht des US-Senats zum weltweiten Folter­programm der CIA, der 2014 veröffentlicht wurde.

Um was für Gefangene handelte es sich?
Das waren Leute von sehr unterschiedlicher Nationalität. Was sie einte, war der Verdacht, dass sie etwas mit al-Qaida zu tun haben könnten. Wir konnten eine Liste von Namen erstellen, konnten herausfinden, wo sie inhaftiert wurden, wie es an diesen geheimen Orten aussah, wie viele Leute dort ungefähr inhaftiert waren und wie sie dort behandelt wurden. Dass es zu systematischen Misshandlungen und Folter kam. Und auch, dass die Orte offensichtlich nicht unter afghanischer Kontrolle standen, sondern unter amerikanischer. Es war der erste Hinweis auf die Beteiligung der CIA. Ebenfalls konnten wir festmachen, dass es ein Netz von solchen geheimen Orten geben musste, weil diese Gefangenen teilweise über verschiedene Kontinente hin und her transportiert wurden. Gefangene, die nirgendwo auftauchten.

Auszug aus dem Feinstein-Report: «Gemäss der CIA enthielt der Bericht [des IKRK] ‹eine ziemlich komplette Liste› von CIA-Gefangenen, zu denen das IKRK keinen Zugang hatte.»

Sie sprechen von Leuten, von denen man nicht einmal wusste, dass sie Gefangene waren?
Heute ist darüber einiges bekannt. Aber damals konnten wir all diese Dinge nur vermuten. Denn was sich hier offenbarte, war etwas völlig Neues: Das waren keine Kriegs­gefangenen, sondern Gefangene ausserhalb jeglichen legalen Systems, insbesondere auch deshalb, weil die CIA gar keine Bewilligung dafür hat, Gefangene zu halten. Man wusste schon von den US-Gefängnissen im afghanischen Bagram und auf Guantánamo in Kuba, was an sich schon hoch­problematisch war, weil dort Leute einsassen, die niemals angeklagt oder verurteilt wurden und die zum Teil heute noch dort sitzen. Wir blickten in einen schwarzen Abgrund. Wir entdeckten eine Unterwelt, eine Art Vorhof zur Hölle, von der niemand etwas wusste, zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal die Spitzen der amerikanischen Regierung.

Wer hatte die Sache autorisiert?
Das sind die Geschichten, die man versucht aufzuklären. Es war ein CIA-Programm, das offenbar vom damaligen Präsidenten George W. Bush gedeckt war. Nach den Anschlägen von 9/11 lautete die Vorgabe: Ihr müsst jetzt die Samt­handschuhe ausziehen. Wir werden jetzt mit allen Mitteln, auch mit roher Gewalt, gegen diese terroristische Bedrohung vorgehen. Und dabei wurden viele legale wie moralische Grenzen gesprengt. Man weiss heute: An diesen Orten, die wir entdeckten, wurden Menschen schwerster Folter ausgesetzt. Man weiss von Water­boarding und dass mindestens eine Person zu Tode gefoltert wurde. Es war eine dramatische Entdeckung, die wir gemacht hatten, und es dauerte fast eineinhalb Jahre, bis das IKRK von der US-Regierung eine Antwort auf unseren Bericht erhielt.

Was stand in dieser Antwort?
Das weiss ich nicht. Im Feinstein-Report heisst es, dass unser Bericht in der US-Regierung zu heftigen Diskussionen geführt hatte, weil ihnen offensichtlich bewusst war, dass sie ein Problem hatten. Im selben Jahr, als wir an unserem Bericht arbeiteten, wurde dann der IKRK-Delegierte Ricardo Munguia auf einem Field-Trip im Norden von Kandahar an einem Check­point von Taliban gestoppt. Sie holten ihn aus dem Auto, seine Übersetzer liessen sie gehen, und exekutierten ihn gezielt. Obwohl sie wussten, wer er war. Es war eine weitere gezielte Eskalation in diesem Konflikt.

Wie meinen Sie das: eine weitere gezielte Eskalation?
Wenn die Taliban IKRK-Delegierte angreifen, die Brunnenprojekte in Dörfern bauen, dann ist für alle klar: Es gibt keine Grenzen mehr in diesem Konflikt. Und die Neutralität, auf die wir immer beharrt hatten, wird nicht mehr respektiert. Man war auf beiden Seiten, USA wie Taliban, davon überzeugt, selbst das Gute zu sein und das Böse zu bekämpfen, und dass deswegen alles erlaubt war. Das IKRK in Kabul hat das damals auch von amerikanischen Militärs zu hören bekommen: «Das ist ein Kampf zwischen Gut und Böse: Entweder ihr seid auf unserer Seite, oder ihr seid auf der Seite des Gegners.»

Wie sehen Sie das?
Das ist wahnwitzig. Das IKRK ist eine humanitäre Organisation, die sich für die Regeln des Kriegs­rechts einsetzt und für den Schutz der Zivil­bevölkerung. Dafür, dass man keine Gefangenen foltert oder erschiesst. Der Spielraum für Organisationen wie das IKRK ist in dieser Zeit eindeutig kleiner geworden. Der «Krieg gegen den Terror» führte auch zu einer Militarisierung der humanitären Hilfe: Das amerikanische Militär flog damals Hilfsteams mit Helikoptern in Gebiete, die unsicher waren. Dieser Art von Arbeit verweigert sich das IKRK zu Recht, weil eine neutrale, humanitäre Position eine Distanz zu militärischen Akteuren erfordert.

In der Schweiz nahm der Ständerat 2019 eine Motion an, wonach man ausländische Terroristen zurückschaffen darf, selbst wenn ihnen Folter oder Todes­strafe droht. Ein Verstoss gegen Völker­recht. Es scheint gemeinhin die Überzeugung Einzug zu halten, dass wir uns Menschen­rechte in diesem Kampf nicht mehr leisten können.
Der «Krieg gegen den Terror» lässt sich natürlich nicht mit der Situation in der Schweiz gleichsetzen. Aber das Prinzip ist vergleichbar. Man beginnt, rechts­staatliche Grundsätze aufzugeben. Die Standards wurden in den letzten zwanzig Jahren massiv gelockert. Wenn man einmal damit anfängt, offensichtliches Unrecht zu begehen, dann gerät man auf eine abschüssige Bahn, wo die Dinge eskalieren und auch Gewalt banalisiert wird. Wenn ein bisschen Folter nicht reicht, dann muss man eben ein bisschen mehr foltern. Wenn der Gefangene dann immer noch standhält, dann foltert man halt seine Frau. Auf diese abschüssige Bahn, auf der es kein Halten mehr gibt, sind beide Seiten im «Krieg gegen den Terror» geraten. Ich habe nach Afghanistan in mehreren Ländern, in denen ich Gefängnisse besuchte und Folter oder Misshandlung antraf, immer wieder das Gleiche von den Verantwortlichen gehört: «Wenn selbst die Supermacht USA foltern lässt, was sollen wir denn tun?»

Der «Krieg gegen den Terror» hat also vor allem erreicht, dass Gewalt banalisiert wurde?
Das ist sicher eine Folge davon. Eine weitere Folge war eine Eskalation, die letztlich unsere Politik bis heute prägt: der Krieg im Irak. Als Begründung für den Angriff auf den Irak 2003 dienten der US-Regierung Behauptungen, die von einem Gefangenen in einem CIA-Gefängnis unter Folter erzwungen wurden. Diese Aussagen hat Aussen­minister Powell in seiner berühmten Rede vor der Uno zitiert: Saddam Hussein verfüge über Massen­vernichtungs­waffen und habe mit der al-Qaida zusammen­gearbeitet. Diese Aussagen waren falsch, wie wir heute wissen. Sie sind mit CIA-Folter einem libyschen Gefangenen in einem Geheim­gefängnis abgepresst worden. Die unter Folter fabrizierten Lügen haben einen neuen Krieg legitimiert. Und die Folgen dieses Krieges kennen wir: ein Land in Schutt und Asche. Hundert­tausende Tote. Und schliesslich die Entstehung einer neuen Terror­gruppe, die uns in den letzten Jahren noch viel mehr beschäftigt hat als die al-Qaida: der Islamische Staat.

Der «Krieg gegen den Terror» hat die Welt also nicht sicherer gemacht, sondern das Gegenteil bewirkt?
Man kann mir wirklich nicht vorwerfen, dass ich Sympathien hätte für islamistische Terroristen. Dass einer meiner Arbeits­kollegen während meiner Zeit in Afghanistan ermordet wurde, hat uns extrem hart getroffen und erschüttert. Gleichzeitig war es Ausdruck einer kaputten Eskalation auf beiden Seiten, wo keine Mittel mehr gescheut wurden. In dieser Eskalation sind wir bis heute gefangen, und sie erklärt auch mein Engagement gegen eine kontraproduktive und gefährliche Anti-Terror-Politik. Und auch gegen das neue Polizei­gesetz des Bundesrats. Ich finde es unfassbar, dass diese Art von Sicherheits­politik, die man seit zwanzig Jahren betreibt, noch immer als Erfolg betrachtet wird. Es ist offensichtlich, dass dieser enge Fokus auf Terrorismus nicht mehr ermöglicht, politische Konflikte zu verstehen oder zu lösen. Würde man nach zwanzig Jahren «Krieg gegen den Terror» eine ehrliche Bilanz ziehen, müsste man zum Schluss kommen: Dieser Krieg ist gescheitert, wir müssen den Fokus anders legen.

Wie denn?
Politische Gewalt und bewaffnete Gruppen sind altbekannte Phänomene, die unsere Geschichte begleiten. Man muss überhaupt keine Sympathien für die Ziele einer bewaffneten Gruppe haben, aber man muss versuchen, zu verstehen, was die politischen Anliegen dieser Gruppen sind. Wer das nicht verstehen will, wird auch keine Strategien zur Konflikt­lösung und -bewälti­gung finden.

Sie sprechen konsequent von politischen Konflikten. Die Politik spricht aber ganz bewusst von Terrorismus. Auch in der Schweiz, beim Gesetz, über das wir im Juni abstimmen. Dieser Begriff allein suggeriert ja, dass es nicht um Ziele, sondern um Zerstörung geht.
Terrorismus ist zu einem Begriff verkommen, der fast nichts mehr bedeutet. Über die letzten zwanzig Jahre wurde der Begriff in vielen Ländern immer weiter ausgedehnt – und jetzt auch in der Schweiz mit dem PMT. Es soll eine extrem weit gefasste Definition eingeführt werden, sodass Terrorismus in Zukunft auch in der Schweiz nicht mehr an ein Gewalt­delikt gebunden ist. Damit wird Terrorismus zum Kampf­begriff gegen politische Opposition. Dafür gibt es bereits viele Beispiele in anderen Ländern.

Können Sie einige nennen?
Besonders absurd und eklatant sind die Terroranklagen in der Türkei gegen mehrere NGO-Mitarbeitende, darunter den Präsidenten und die Leiterin der türkischen Amnesty-Sektion. Mit absurden und fabrizierten Vorwürfen wurden sie wegen Terrorunterstützung angeklagt und monatelang inhaftiert. Die Verfahren laufen teilweise bis heute. Oder ein Flüchtlings­helfer in Ungarn, der wegen Terror­unterstützung zehn Jahre Haft erhalten hat. Flüchtlings­aktivistinnen in England, die mit Terror­klagen überzogen werden. In Spanien werden Dutzende Menschen wegen Terror­propaganda angeklagt, darunter Leute, die ein Kasperlitheater aufgeführt haben, wo neben dem Kasperli und einem Polizisten auch ein ETA-Mitglied aufgetaucht ist. Das zeigt: Mit politischer Gewalt hat der heutige Terrorismusbegriff nur noch wenig zu tun.

Welche Folgen hat das?
Terrorismus ist zum Kampf­begriff geworden, um den politischen Gegner zu dämonisieren. Um ihn zu delegitimieren. Man raubt ihm quasi jede Berechtigung, ein Anliegen zu haben. Man schreibt dem Gegenüber keine Agenda mehr zu, die vielleicht berechtigt sein könnte. Damit entpolitisiert man ihn, dämonisiert ihn und reduziert den Konflikt auf ein Sicherheits­problem, das man militärisch oder geheim­dienstlich lösen muss. Konflikt­lösungs­strategien hingegen werden viel zu wenig in Erwägung gezogen.

In der Schweiz ist diese Verschiebung nun auch angekommen. Mit den «Polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus» (PMT) wird Terrorismus auch hier von einer schweren Straftat abgekoppelt – und ermöglicht rechtlich auch die Verfolgung der politischen Opposition, von politischen Bewegungen bis hin zu Journalistinnen. International wird das Gesetz scharf kritisiert. Die Uno-Sonderbeauftragte Fionnuala Ní Aoláin sagt, die Schweiz bediene sich einer vagen Terrorismusdefinition, wie man sie sonst nur aus autoritären Staaten kenne. Wie konnte es so weit kommen?
Die Staaten wollen sich offensichtlich mehr Instrumentarien für die Sicherheit verschaffen, was ja verständlich ist. Wir möchten alle in sicheren Gesellschaften leben. Nur ist die Frage, ob diese Instrumente dafür geeignet sind. In den USA hat Donald Trump nach der Ermordung von George Floyd angesichts der Massen­proteste die Antifa mit Terror gleichgesetzt. Das zeigte vor allem die komplette Weigerung der Regierung, sich mit den Motiven dieser Proteste auseinander­zusetzen. Wenn man Antifa mit Terror gleichsetzt, dann berechtigt das die Regierung, mit massiver Gewalt gegen diese Proteste vorzugehen. Ein solcher Ansatz ist nicht geeignet, mehr Sicherheit zu schaffen.

Aber was ist in der Schweiz passiert, dass wir stehen, wo wir sind? Bei einem extrem weit reichenden Begriff, was ein Terrorist sein könnte.
Zehn Jahre nach 9/11, nach zehn Jahren hartem Anti-Terror-Kampf, gab es eine Welle von Anschlägen, mit der das Problem des islamistischen Terrors auch richtig in Europa ankam: die verheerenden und grausamen Anschläge des Islamischen Staats in Frankreich. Darauf folgte eine Welle von neuen Massnahmen und Gesetzen in ganz Europa zur Terror­bekämpfung – auch in der Schweiz, die bis dahin eine vernünftige Politik gepflegt hatte. Als Terror hat bis jetzt der Versuch gegolten, politische Bestrebungen mit Gewalt durchzusetzen. Im neuen Polizei­gesetz aber ist die Gewalt-Passage gestrichen. Die «Verbreitung von Furcht und Schrecken» mit politischen Absichten genügt. Das kann letztlich alle treffen, die sich politisch engagieren. Gerade Klima­aktivistinnen bis hin zu ETH-Professoren argumentieren ja in Bezug auf die Klima­politik mit Furcht und Schrecken. Politischen Bewegungen droht mit diesem Gesetz eine Verfolgung als «terroristische Gefährder». Das ist bis heute in der Öffentlichkeit viel zu wenig angekommen.

Man hat das Gefühl, dass die Rechts­staaten als Folge von 9/11 sich selber zum Frass vorwerfen. Dass man die Freiheit aushöhlt. Dass jede noch so weit reichende Massnahme eine Mehrheit kriegt: Wer nichts verbrochen habe, habe ja auch nichts zu befürchten. Wie sehen Sie das?
Interessant ist, dass die Straftaten in der Schweiz seit Jahren rückläufig sind und wir trotzdem das Gefühl haben, in grosser Unsicherheit zu leben. Man muss sich schon fragen, worauf das baut. Ob es vielleicht damit zu tun hat, dass die positive Zukunfts­erzählung ins Wanken geraten ist? Dass die soziale Sicherheit fehlt? Oder die Sicherheit der Umwelt? Und man projiziert das dann auf harte Sicherheits­themen als Übersprungs­handlung, um sich zentralen Fragen nicht stellen zu müssen. Es ist ein Fakt, dass man sich in der Politik mit dem Ruf nach mehr Sicherheit immer profilieren kann: Egal wie absurd ein Vorschlag ist, mehr Sicherheit findet immer die Unter­stützung der breiten Öffentlichkeit und der Politik. Da kann man praktisch nichts falsch machen.

Woher kommt das?
Mit Angst kann man gut Politik machen. Ich bin überzeugt, dass in diesem Thema immer auch eine rassistische oder zumindest fremden­feindliche Dimension steckt: Es ist eigentlich immer klar, von wem man spricht, wenn in der Schweiz von einer terroristischen Bedrohung die Rede ist. Man spricht nicht von rechts­extremen Gruppen. Man meint die islamistischen Dschihadisten. Fundamentalisten, das sind immer die anderen, die Fremden. Man fühlt sich selber auch nicht betroffen von diesen Gesetzen, die man da jetzt einführt. Aber die Verlierer sind wir alle und die rechtlichen Standards.

Wie meinen Sie das?
Man weiss im Zusammen­hang mit anderen Gesetzen, die gegen Terrorismus eingeführt wurden: Man erlässt die Gesetze und merkt dann bald, dass es in der Schweiz gar nicht so viele Terroristen gibt. Also beginnt man, die Gesetze gegen andere Leute einzusetzen. Das ist das, was beispiels­weise jetzt gerade mit dem Nachrichten­dienst­gesetz passiert.

Können Sie das ausführen?
Das Nachrichten­dienst­gesetz trat 2017 in Kraft und führte sehr weitgehende Überwachungs­massnahmen in der Schweiz ein, darunter Massen­überwachung, die Vorrats­daten­speicherung. Das war ein radikaler Bruch mit der Schweizer Tradition seit dem Fichen­skandal, nach dem man den Geheim­dienst sehr eng zurück­gebunden hatte. Das hat sich durch den «Krieg gegen den Terror» radikal geändert. Um das zu ermöglichen, sagte der Bundesrat: Wir machen das nur bei ganz wichtigen zentralen Bedrohungen des Staates, bei Terrorismus, bei Spionage, bei der Verbreitung von Massen­vernichtungs­waffen. Nur dann, hiess es, seien diese bewilligungs­pflichtigen Überwachungs­massnahmen überhaupt möglich. Das war vor drei Jahren. Heute plant der Bundesrat eine Revision des Nachrichten­dienst­gesetzes, um die überwachungs­pflichtigen Massnahmen ausdehnen zu können auf politischen Extremismus.

Was bedeutet diese Ausweitung?
Es ist Teil eines Damm­bruchs, der seit zwanzig Jahren im Gange ist und den Staaten alle möglichen Mittel in die Hände gibt, die sich immer mehr einer Kontrolle entziehen. Man spricht jetzt von «Gewalt­extremismus». Die Definition ist weit offen. Wenn an einer Demonstration eine Flasche fliegt, reicht das dann schon, damit der Nachrichten­dienst diese Leute bespitzeln kann mit dem Instrumentarium, das er erhalten hat zur Bekämpfung des Terrorismus? Das ist eine Ausweitung, von der man beim PMT sagt, sie werde nie passieren. Dabei wird es sie hier noch nicht einmal mehr brauchen, denn durch die vage Terrorismus­definition steht sie bereits fix im Gesetz.

Ein Problem des Polizei­gesetzes ist auch, dass die Hinweise auf eine mögliche Gefährlichkeit einer Person von den Nachrichten­diensten stammen, die nicht ausweisen müssen, auf welche Quellen sie sich berufen. Dieser Vorgang scheint sinn­bildlich für eine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre: Die Staaten werden allmächtig, sind aber kaum noch irgendwem Rechenschaft schuldig. Als Sie vor zwanzig Jahren das CIA-Folter­system entdeckten – wurde jemals jemand dafür zur Rechenschaft gezogen?
Das ist das Tragische: Es gab keine Aufarbeitung, keine Gerechtigkeit. Ein entscheidender Moment war, als Barack Obama 2009 Präsident wurde. In seiner Eröffnungs­rede sagte er: Wir stoppen das CIA-Programm, aber wir werden nicht zurück­schauen, sondern vorwärts. Es war seine Entscheidung, das Thema CIA und Folter juristisch nicht aufzuarbeiten. Was ein dramatischer Fehler ist. Stattdessen wurde später Gina Haspel, die für ein solches Geheim­gefängnis und für die Folter von Gefangenen direkt verantwortlich war, zur CIA-Direktorin befördert. Auf der anderen Seite setzte die Trump-Administration Fatou Bensouda, die Chef­anklägerin des Internationalen Straf­gerichts­hofs, auf die Sanktions­liste, weil sie die Kriegs­verbrechen der Amerikaner in Afghanistan aufklären will. Unrecht wird belohnt, und wer für Aufklärung und Rechenschaft kämpft, wird verfolgt. Da landen wir dann auch beim Fall von Julian Assange: Er sitzt nur deshalb in Isolations­haft, weil er Kriegs­verbrechen der USA in Afghanistan und im Irak aufgedeckt hat.

Es wird für diese Kriegs­verbrechen also niemand zur Rechenschaft gezogen?
Nein. Es ist auch beschämend, zu sehen, dass es den Amerikanerinnen nicht gelungen ist, Gerechtigkeit zu schaffen für die Opfer von 9/11 und ihre Angehörigen. Die Prozesse gegen die Angeklagten der Terror­anschläge haben bis heute nicht zu einem Urteil geführt.

Warum nicht?
Es ist ein Beispiel dafür, wie sehr man auf die schiefe Bahn geraten und gescheitert ist. Es sind Verfahren im Gang gegen diese Angeklagten vor Militär­gerichten in Guantánamo, die nicht den Standards entsprechen, die für einen fairen Prozess nötig sind und die bis hin zur Todes­strafe führen können. Die Anklagen basieren teilweise auf Geständnissen, die die Angeklagten unter Folter gemacht haben, als sie in illegaler CIA-Haft waren. Diese Geschichte ist ein einziger Skandal. Und es ist letztlich bezeichnend, dass man es auf diesem Weg auch nach zwanzig Jahren nicht geschafft hat, Recht zu sprechen und den Opfern Genugtuung zu verschaffen und einen Abschluss zu ermöglichen.

Wenn es keine Rechenschaft mehr gibt, wenn alles möglich ist – wie beurteilen Sie diese Erosion der Menschen­rechte vor unseren Augen?
Die Menschen­rechte in Europa sind mit der Europäischen Menschen­rechts­konvention und dem dazugehörigen Gerichts­hof noch recht gut geschützt. Der Gerichts­hof hat übrigens auch einen Teil dieser Foltergeschichte, die Geheim­gefängnisse in europäischen Ländern wie Rumänien, sehr vorbildlich aufgearbeitet. Aber die Haltung der USA stellt uns vor erhebliche Probleme, Rechenschaft einzufordern. Wir müssen jeden Spielraum ausnutzen. 2011 etwa wollte der ehemalige US-Präsident George W. Bush an einer Konferenz in Genf teilnehmen. Amnesty International hat der Genfer Staats­anwaltschaft ein Dossier übergeben mit umfang­reichen Beweisen für die direkte Verantwortlichkeit von George W. Bush für Kriegs­verbrechen, Folter, für das Verschwinden­lassen von Gefangenen. Wäre Bush eingereist, die Staats­anwaltschaft hätte ihn festsetzen müssen. Er war nicht mehr durch die diplomatische Immunität geschützt. Bush hat die Reise im letzten Moment abgesagt. Und soweit ich weiss, ist er seither nicht mehr nach Europa gereist. Es gibt Möglichkeiten, auch auf Jahrzehnte hinaus, Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Dieser Kampf ist wichtig. Und er kann funktionieren. Er braucht Zeit und Beharrlichkeit.