Warum Sie sehen, was Sie sehen
Wie arbeitet eigentlich eine Bildredaktorin? Oder: Wie bebildert man Sex, Covid und Konzernverantwortungsinitiative?
Von Ihrer Bildredaktion, 14.05.2021
Mussten wirklich diese geschmacklosen unästhetischen Bilder zu diesem Beitrag gewählt werden?
Dieser Kommentar ist aussergewöhnlich. Und das hat nichts mit dem unverblümten Ton zu tun, den «Anonym 2» hier gewählt hat. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sich hier jemand mit einem Teil der Republik auseinandersetzt, der so gut wie nie zu reden gibt: dem Bild.
Auslöser für die verärgerte Frage war folgende Fotografie:
Vielleicht erinnern Sie sich? Sie illustrierte ein Interview mit der Philosophin Bettina Stangneth zum Thema Sexkultur. Warum wir dafür ausgerechnet dieses Bild gewählt haben, dazu gleich mehr.
Zunächst eine grundsätzlichere Frage: Warum gibt es in der Republik überhaupt Bilder?
Am Anfang war das Bild
Tatsächlich war Brigitte Meyer im August 2017 die erste reguläre Angestellte der Republik. Ihr überraschender Tod Anfang 2020 traf die Crew und das Magazin im Kern. Mitgründer Constantin Seibt hat in seinem Nachruf auf unsere Bildchefin/Art-Direktorin die Wichtigkeit des Bildes bei der Republik beschrieben und auf den Punkt gebracht, worum es geht (und worum nicht):
Kein Chichi, kein Bullshit, keine Schnörkel. Und vor allem: keine durchgezogene Bildsprache. Sondern das präzise Bild von Fall zu Fall, je nach Text. Und das nicht als Illustration, sondern als Statement.
Die Bilder, die Sie in der Republik sehen, sind nach Möglichkeit überraschend, speziell, vielleicht auch leicht irritierend. Auf jeden Fall sollen sie einen Mehrwert zum Text bringen und ihn nicht einfach «verzieren». Sie erweitern ihn um eine Zugangsebene, die erklärt, vertieft oder über das Geschriebene hinausgeht.
Bei der Entstehung eines Beitrags sind wir von der Bildredaktion deshalb vom ersten «Pitch» an mit involviert. Mit anderen Worten: Während am Text geschrieben und gefeilt wird, überlegen wir schon, wie der endgültige Beitrag aussehen soll.
Und das ist ziemlich aufwendig.
Die Qual der Wahl, oder: Wie zeigt man Sex?
Zuerst wird diskutiert: Welcher Stil passt am besten? Wen von den interviewten Personen fotografieren wir, oder lassen wir jemanden zeichnen? Machen wir gar kein Porträt, sondern eine Animation, eine Collage, ein Aquarell? Darf es lustig sein? Muss etwas Bestimmtes gezeigt werden, oder genügen abstrakte Andeutungen?
Ähnlich sahen die Überlegungen hinter der Wahl des oben gezeigten Bildes aus: Wie zeigt man Sex? Welche Arbeiten kennen wir dazu? Und passen diese dann, oder sind sie zu direkt oder im Gegenteil zu kuschelig? Wie bilden wir Sex so ab, dass das Bild aussagt, was es soll: Sex als Kultur?
Jemand aus dem Team hat sich dann an die Künstlerin und Fotografin Carlota Guerrero und ihre Performance «Love Different» aus dem Jahr 2019 erinnert. Darin ging es um eine spielerische Auseinandersetzung mit Sexualität und Körperlichkeit. Die Bilder sind also Teil einer bewussten Inszenierung. Sie geben kein festes Motiv vor, sondern sie erlauben der Betrachterin Raum für eigene Interpretationen. Das hat uns überzeugt.
Der Entscheid darüber, was wir machen, wen wir anfragen oder beauftragen, ist immer das Ergebnis einer gemeinsam geführten Auseinandersetzung im Team. Es ist ein wichtiger erster Schritt.
Doch mit der Idee ist das Bild noch lange nicht im Magazin.
Eine kamerascheue Autorin und ein Virus für jede Lebenslage – Geschichten hinter den Bildern
Neben visuellen Konzepten braucht eine Bildredaktorin gute Kontakte (wer kann das, was wir uns wünschen?), Verhandlungsgeschick (erhalten wir die Nutzungsrechte?), Geld (ist ein Bildankauf zu teuer?), Geduld (gibt es die Bilder, die wir suchen, überhaupt?) und manchmal auch einfach Glück – oder einen Plan B.
Hier ein paar Beispiele aus letzter Zeit.
Beim Kovi-Report ging es um ein ziemlich komplexes Thema. Wir wussten, dass die Geschichte drei Teile haben würde, eine persönliche Auseinandersetzung der Journalistin mit der Konzernverantwortungsinitiative war. Als Illustrator konnten wir Daniel Stolle gewinnen. Von Anfang an habe ich ausführlich mit ihm über die ersten Textentwürfe gesprochen, und zusammen haben wir diskutiert, wie die verschiedenen Aspekte bildlich umgesetzt werden könnten. Dabei hat es sehr geholfen, dass wir von der Redaktion regelmässig auf dem Laufenden gehalten worden sind, wenn es irgendwelche Änderungen oder Updates am Text gab. Daniel Stolle entwarf je zwei Skizzen für jeden Teil. Und dann haben wir gemeinsam ausgearbeitet, was drinbleiben soll, was wegkann und wie die Details aussehen sollen: eine Frau, die der Journalistin ähnlich ist, aber nicht genau gleich aussieht – oder das Gebäude! Auf der einen Animation ist nicht irgendein Haus zu sehen, sondern das Gebäude des Staatssekretariats für Wirtschaft – um das Seco geht es schliesslich auch im Text. Ein Detail, das den meisten Leuten wahrscheinlich nicht aufgefallen ist. Aber vielleicht hat es ja jemand wiedererkannt?
Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine Autorin fotografieren lassen, die am liebsten gar nicht in der Öffentlichkeit steht. Was machen Sie?
Grundsätzlich gilt bei Porträtbildern für uns: «Wir versuchen unser Glück.» Bei mir startet das meistens mit einer freundlichen E-Mail, um die Person nicht direkt am Telefon zu überfallen. Wohlgemerkt gibt es zu den meisten Protagonisten auch vorerst keine Telefonnummer. Ich bitte dann um Rückmeldung, in welcher Form – das überlasse ich der Person. In diesem Fall gab es nur den Kontakt zu ihrer PR-Agentin, die mir da schon versicherte, dass Frau Wunnicke eigentlich ungern fotografiert wird und unsere Chancen eher schlecht stehen. Meine Nachricht wurde trotzdem weitergeleitet, und wer rief mich noch am selben Nachmittag von einer Münchner Festnetznummer (sie besitzt kein Handy) an? Frau Wunnicke höchstpersönlich, die ich dann, obwohl ich in dem Moment noch nicht die definitive Zusage der Fotografin hatte, davon überzeugen musste, dass alles ganz grossartig wird (weil jetzt alles schnell gehen muss, da sie es sich sonst vielleicht wieder anders überlegt). Intuitiv wusste ich, dass es klappen wird. Wunnicke und unsere Autorin kannten sich, und somit hatten wir ein Ass im Ärmel. Skeptisch war Wunnicke bis zum Schluss, aber da kam die Frauenpower ins Spiel, und unsere Fotografin wusste, wie sie das Ganze angehen muss: mit Witz und Charme. Als Fotografin konnte ich Monika Höfler gewinnen, die alles stehen und liegen liess, um diese Bilder zu schiessen. Eine tiefe Begegnung auf beiden Seiten, wie ich danach hörte.
Ein Virus für jede Lebenslage
Für die zweite Auflage des Covid-19-Uhr-Newsletters wollten wir ein neues Erscheinungsbild. Die Stimmung hatte sich ja verändert, und das sollte auch zu sehen sein. Wir haben Martin Fengel angefragt, der für uns bereits zwei Corona-Erklärstücke illustriert hatte – und er war sofort Feuer und Flamme. Anstatt der angefragten fünf Illustrationen (für jeden Wochentag eine), schickte er uns eine ganze Kollektion von rund zwanzig verschiedenen Coronaviren! Sozusagen ein Virus für jede Lebenslage: mit Handschuhen, auf der Bettdecke, eins mit einer Spritze, sogar ein Samichlaus-Virus … Was für eine Auswahl! Dieses Problem haben wir selten.
Manchmal haben wir Glück, ab und zu leider auch Pech.
Über Instagram sind wir auf eine Arbeit der US-amerikanischen Fotografin Donna Trope gestossen. Das sollte es sein, dieses Bild wollten wir haben. Nur leider war die Künstlerin dann komplett vom Radar verschwunden. Sie war einfach nicht zu erreichen. Da einige ihrer Fotos über eine bekannte Agentur für Bildlizenzen verfügbar sind, fragten wir dort nach. Die Bilder, nach denen wir suchten, hatten sie nicht. Dafür ein paar gute Kontakte zu Mitarbeitenden der Künstlerin. Erneutes Warten auf Antwort. Die kam irgendwann und war eigentlich erfreulich. Es hiess, wir könnten die Bilder kriegen – allerdings seien sie noch unbearbeitet. Mit anderen Worten: Ein kleiner Kostenaufschlag für uns, doch es würde klappen, und die Bilder würden für uns finalisiert werden. Yes! Dann wieder warten. Bis sich plötzlich die Agentur der Künstlerin meldete: Die Bilder könnten nicht in der Republik erscheinen (weil sie im Rahmen einer Werbekampagne entstanden seien). Das war zwei Tage vor dem geplanten Publikationstermin des Republik-Beitrags. Und wir standen ohne Bild da. Am Ende haben wir uns für ein anderes Bild von der gleichen Agentur entschieden.
Visuelle Blattmacher
Jeder einzelne Beitrag in der Republik ist wichtig, aber er steht nie für sich alleine. Die Bildredaktion hat deshalb immer auch das Magazin als Ganzes im Blick. Wie sieht die Woche in der Republik aus? Laufen wir Gefahr, zu viele Illustrationen zu haben? Reiht sich ein Männerporträt an das andere?
Wenn ja, dann müssen wir gegensteuern.
Konkret bedeutet das: ein anderes Bild aussuchen oder an der Planung etwas ändern. Wir sind also nicht nur dafür verantwortlich, wie das Magazin aussieht, das Sie jeden Tag lesen. Wir entscheiden auch mit darüber, was Sie wann zu lesen bekommen.
Dass die Bildauswahl in der Republik so selten kommentiert wird, deuten wir als gutes Zeichen. Im besten Fall bedeutet es, dass Sie rundum zufrieden sind mit unserer Arbeit. Im schlimmsten Fall scheint es Sie nicht besonders zu stören. Beliebig ist das, was Sie sehen, jedenfalls nicht. Und wenn Ihnen künftig etwas auffällt, dann melden Sie sich – wir freuen uns drauf.