Frauenstimmen – Folge 7

War da was?

#MeToo war das Frauenstimm­recht meiner Generation, der Millennials – ermächtigend wie kaum etwas zuvor. Vier Jahre danach frage ich mich: Warum verehren wir Arschlöcher immer noch? Serie «Frauenstimmen», Folge 7.

Von Ronja Beck, 20.03.2021

Alle Bilder in diesem Beitrag sind von Viviane Sassen

Alles war besser, war er auf dem Feld. Die Verteidiger der Gegner standen ohne Lücke, die Team­kollegen rannten schneller. Das Publikum jubilierte wie im Wahn. Auch meine Familie und ich, in einer kriminell heissen Stube im EM-Sommer 2016.

Vergiss Quaresma, hau mir ab mit Moutinho. Es war Cristiano Ronaldo, Superstar, Fighter, National­held Ronaldo, der die portugiesische Fussball­elf in dieses Finale gegen Frankreich gesprintet, gedribbelt und gedonnert hatte. Und es würde Cristiano Ronaldo sein, dessentwegen wir nach 90 irgend­welchen Minuten freudig jauchzen würden. Cristiano Match­entscheider Ronaldo.

Zu den Bildern

Die Bilder in diesem Beitrag sind von der nieder­ländischen Künstlerin Viviane Sassen. Sie beleuchten den Körper und seine Wahr­nehmung und erschienen 2018 in der wöchentlichen Bildkolumne «Was ist weiblich?» im «Zeit-Magazin».

Dann aber, in Minute 8, trifft sein Knie auf den Franzosen Dimitri Payet. Ronaldo geht zu Boden und reisst die Stube mit sich.

Bis in die 25. Minute quält er sich, am Ende wird er heulend vom Feld geschleppt. Die Mannschaft quält sich, wir quälen uns, bis in die Verlängerung. Ronaldo springt auf, brüllt aus vollem Hals, packt Trainer Fernando Santos bei den Schultern und schwingt ihn, als wäre er eine Schaufenster­puppe. Morgen, das wissen wir schon heute, wird dieses Bild in allen Zeitungen sein. Cristiano Ronaldo, sogar am Spielfeld­rand eine verdammte Legende!

Teamkollege Eder wartet bis in die Verlängerung, um seine einzige Glanz­leistung dieser EM zu zeigen: Er trifft. Und doch wissen wir und alle anderen auch: Das hier, das geht auf Ronaldos Konto. Mal wieder. Wie immer.

Es war ja auch Ronaldo, der in Portugal täglich von den Zeitungs­ständern glotzte; mit dessen Namen die Souvenir­läden tapeziert waren; dem in Portugal gleich zwei Skulpturen gewidmet wurden. Ronaldo, Ronaldo, Ronaldo. Verdammter Held, du.

Dann, im Dezember 2018, wurde sein fussballerisches Können eine Atempause lang sehr egal.

Das frühere Model Kathryn Mayorga brach ihr Schweigen, das Ronaldo mit fast 400’000 Euro gekauft hatte. Die Amerikanerin erzählte dem «Spiegel», wie er sie 2009 nach einer Party in Las Vegas anal vergewaltigt hatte. Sie nach ihrer Aussage danach «Baby» genannt und gesagt hatte: «Zu 99 Prozent bin ich ein guter Kerl, ich weiss nicht, was mit diesem einen Prozent ist.»

«Er ist so berühmt»

Bereits 2017 hatte der «Spiegel» im Rahmen der Football Leaks über den Vorwurf der Vergewaltigung gegen Ronaldo berichtet. Damals waren Mayorgas Schilderungen noch unter einem Pseudonym erschienen. Ein Jahr später entschied sich Kathryn Mayorga, mit vollem Namen an die Öffentlichkeit zu gehen. Gleichzeitig sagte sie den Journalisten: «Er ist so berühmt. Ich habe Angst um mein Leben, Angst um meine Familie.»

Ronaldo warf Mayorga vor, ihn für ihre eigene Berühmtheit zu missbrauchen, und sagte, es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt. Dokumente, die der «Spiegel» publizierte, zeichnen ein anderes Bild. Die Anwälte des Fussballers behaupten, diese Dokumente seien gefälscht.

Die Staatsanwaltschaft von Las Vegas entschied im Sommer 2019, kein Verfahren einzuleiten, weil Ronaldos Schuld nicht mit aller Sicherheit bewiesen werden könne. Ein Zivil­verfahren, das sich mit der Zulässigkeit des Schweige­abkommens beschäftigt, ist bis heute im Gang. Und Ronaldo spielt weiter in der Topliga Fussball.

Als ich kürzlich bei Freunden, die ich als durch­schnittlich informiert bezeichnen würde, auf Ronaldo und das Verfahren zu sprechen kam, glotzten sie mich verwundert an.

Kathryn Mayorga? Vergewaltigungs­vorwürfe? Cristiano Ronaldo?

Sie hatten keine Ahnung. Keinen. Blassen. Schimmer.

Tief in den verfaulten Kern

Mein persönliches EM-Finale war #MeToo, die 2017 auf Social Media entstandene Bewegung gegen sexualisierte Gewalt an Frauen. Vermutlich haben längst nicht alle älteren Menschen, längst nicht alle Männer ganz verstanden, was #MeToo vielen jungen Frauen bedeutet. Weil die Bewegung auf Social Media begann, wirkt sie auf viele irgendwie zweitrangig. Oberflächlich.

Doch für meine Generation ist #MeToo ein Kampf, wie es für frühere Generationen der Kampf für das Frauen­stimmrecht war. Er zielt tief in den verfaulten Kern dessen, was unsere sexistische Gesellschaft ausmacht: Abertausende Frauen beschrieben öffentlich all das Beschissene, das ihnen in den altbekannten Strukturen, in denen wir alle leben, angetan wurde. Und zeigten auf, wie diese Strukturen und die dazugehörige Kultur systematisch Täter decken. Damit ergriffen sie Partei für mich.

#MeToo bewies mir, dass man Macht­verhältnisse nicht schweigend ertragen muss, nur weil sie lange gewachsen und etabliert sind. Sondern dass man sie aktiv verändern kann oder gar muss, weil sich sonst nichts bewegt. Eine grössere Ermächtigung habe ich bis anhin nicht gespürt. Die Botschaft strahlte über unsere Twitter-Feeds hinaus: Jede Frau hat das Recht, mitzugestalten und Grenzen zu setzen.

Kathryn Mayorga sagte zum «Spiegel», sie habe stundenlang die Schilderungen der Frauen unter dem Hashtag #MeToo gelesen. Die Bewegung habe sie bestärkt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Kathryn Mayorga gab sich, wie die vielen anderen Frauen, selber eine Stimme.

Aber haben wir ihnen je richtig zugehört?

Das System schützt den Täter

Die Welt gab sich damals schockiert darüber, was via den neu geschaffenen Hashtag für eine Lawine an Dreck die Berge runterrollte. Netflix-Specials wurden gecancelt. Berühmte, angesehene Männer aus Fernsehen, Sport, Politik, Finanzwelt verloren ihre Jobs. Filmmogul Harvey Weinstein fuhr in den Knast.

Für einen Moment schien ein tipping point erreicht. Einen Augenblick lang wogen die Vergehen der schwarzen Schafe zu schwer. Und die Systeme um sie herum stiessen unter dem Druck der Öffentlichkeit ihre Misse­täter ab, um nicht mit ihnen unterzugehen.

Die gleichen Systeme, die sie zuvor jahrelang mitgetragen hatten.

Das ist keine Überraschung. Systeme versuchen grund­sätzlich, sich selber zu erhalten und vor dem Unter­gang zu schützen. Also wird Frauen, die in diesen Systemen sexualisierte Gewalt erfahren, oft nicht zugehört, wenn nicht eine kritische Masse Druck macht. Ihre Geschichten bleiben ohne Folgen, werden erstickt von Vorgesetzten. Oder sie schweigen einfach, aus der berechtigten Angst, am Ende noch mehr zu verlieren. Sie sind Angreiferinnen des Systems, der Macht. Je ausgeprägter die Hierarchie, je weniger Frauen in führender Position und im Unter­nehmen generell, desto schlimmer ist es. Schon mal gelesen, was mit Fällen von sexueller Belästigung oder Missbrauch im US-Militär in aller Regel passiert? Tun Sies, wenn Sie von Ihrem Tag wirklich nichts mehr erwarten.

Auch Mitwisser schweigen. Weil sie Angst haben, aus dem System zu fliegen. Jüngstes berühmtes Beispiel dafür ist der Fall Brian Warner, besser bekannt als Marilyn Manson. Er soll seine früheren Partnerinnen gequält, manipuliert und missbraucht haben, wie im Februar bekannt wurde. Mansons jahrelanger Assistent sagte öffentlich, er habe sehr wohl mitbekommen, wie Warner eine seiner Ex-Partnerinnen misshandelt habe. Und: Er sei nicht der Einzige gewesen, der davon gewusst habe. Wegen «des Codes» aber habe sich niemand aus Warners Umfeld getraut, etwas zu sagen, aus Angst, nie mehr einen Job zu bekommen.

Diese Angst konnte ihm auch die #MeToo-Bewegung offenbar nicht nehmen. Es musste eine von Brian Warners Ex-Partnerinnen, die Schau­spielerin Evan Rachel Wood, selber an die Öffentlichkeit treten. Auch Wood hatte davor schon mehrmals öffentlich über ihre Erfahrungen gesprochen – allerdings nie den mutmasslichen Täter benannt. Erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach ihrer Beziehung, nannte sie seinen Namen.

In ihrem Fall, vielleicht weil Wood selber erfolgreich und berühmt ist, zeigte die öffentliche Anklage Wirkung: Mansons Musiklabel liess ihn fallen, die Polizei in Los Angeles hat Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt aufgenommen. Doch es bleibt die nieder­schmetternde Erkenntnis: Wieder schützte ein ganzes Umfeld einen mutmasslich gewalt­tätigen Mann vor Konsequenzen.

Systeme schützen sich. Macht erhält sich.

Und mich quält immer öfter die Vermutung, dass sich vielleicht tatsächlich nie wirklich etwas ändern wird. Dass das Versprechen, das #MeToo mir gab, eine Lüge war – dass die Stimmen von Frauen zählen, dass sie respektiert und gehört werden, dass sie eine Rolle spielen. Was also sollen wir, die unbedarften Schockierten, tun?

Vielleicht wäre es ein guter Anfang, uns zu überlegen, wem wir eigentlich Macht geben.

Macht wird verliehen

Es ist eine realitäts­leugnende Altmänner-Mär, man müsse nur hart genug arbeiten, tüchtiger sein als die anderen, dann schaffe man es auch von ganz unten bis ganz nach oben. Der Selfmade­man ist eine Lüge. Macht wird in erster Linie verliehen. Von Menschen, die bereits mächtig sind, die gezielt fördern oder Strukturen aufziehen, die gewissen Menschen Macht ermöglichen und anderen erschweren oder ganz verweigern.

Macht hat viele Gesichter: Sie ist Leistung, Geld, Einfluss, Masse oder gleich alles zusammen. Aber im Kern ist Macht immer Status. Und den verleihen auch wir, wenn wir in der Sitzung die einen ausreden lassen und die anderen unterbrechen. Und wenn wir uns in den Armen liegen, wenn Cristiano Ronaldo ein göttliches Tor schiesst. Wenn wir Männer zu Ikonen machen.

Die Ikone ist eigentlich ein kunst­historischer Begriff. Es sind christliche Bilder, häufig prominent in Kirchen platziert, die es den Menschen seit Jahrhunderten ermöglichen, Jesus, Maria, den Heiligen zu huldigen, ihre Füsse zu küssen und ihnen dabei in die Augen zu schauen. Im Verständnis der orthodoxen Kirche, in der Ikonen eine besondere Rolle spielen, sollen Ikonen das Gefühl einer göttlichen Präsenz ermöglichen, eine Brücke schlagen zwischen Irdischem und Göttlichem.

Heute meinen wir mit Ikonen meist Menschen, die heraus­ragende Leistungen in einer Disziplin vollbringen. Oder gewisse Werte auf eine besondere Art verkörpern. Ikonen, Legenden, Idole – die Begrifflichkeiten sind heute verwischt. Am Ende sind es einfach Menschen, die wir bewundern, denen wir damit, vor allem als junge Menschen, Einfluss auf unser Handeln ermöglichen. Denen wir Macht erteilen.

Was heisst das nun für uns als Gesellschaft, wenn Frauen­schläger nach ihrer Tat mit ihrer Musik noch mehr Geld verdienen als davor? Wenn verurteilte Vergewaltiger ihre Sportler­karriere ohne Einschränkung fortsetzen und in Hollywood-Blockbustern den lustigen Onkel spielen können? Was bedeutet es, wenn Rockmusiker bis heute verehrt werden, auch wenn sie nach den Konzerten regelmässig minderjährige Mädchen missbraucht haben? Wenn die Menschen nicht mehr wissen, dass einer der erfolg­reichsten Sportler aller Zeiten ein Verfahren wegen sexualisierter Gewalt hängig hat?

Was heisst es, wenn wir all das verdrängen?

Am Ende ist die Losung so einfach wie ernüchternd. Wenn wir den Menschen, die wir verehren, dieses Verdrängen gewähren, gewähren wir es auch allen anderen. Ist Sexismus oder Gewalt gegen Frauen bei unseren Ikonen keine Kategorie, wenn wir über sie sprechen, ihnen zujubeln, über sie schreiben, uns an sie erinnern, dann ist sie das auch für uns als Gesellschaft nicht. Ikonen spiegeln, was uns ein Wert ist – und was eben nicht.

Macht wird genommen

Und nun, was tun? Struktur­wandel, oder? Flachere Hierarchien, mehr Diversity, mehr unabhängige Fachstellen, mehr Chefinnen auf den Teppich­etagen? Unbedingt. Und #MeToo hat ja auch erst vier Jahre auf dem Buckel. Trotzdem ist die Geduld, bei mir persönlich jetzt, langsam etwas aufgebraucht.

Unsere Ikonen sind keine auf Holz verewigten göttlichen oder heiligen Figuren mehr. Sie sind – ob im eigenen Büro oder in den Hollywood Hills – gewöhnliche Menschen in einer gewöhnlichen Gesellschaft, in der sie es, Achtung, hot take, ohne göttliches Zutun zu beeindruckenden Leistungen gebracht haben. Beziehungs­weise es ihnen ermöglicht wurde, es zu diesen Leistungen zu bringen. Dafür können wir sie als die anständigen Mitmenschen, die wir sind, respektieren. Aber müssen wir ihnen deshalb gleich die Füsse küssen? Oder wird es für uns von dort unten nicht etwas schwierig zu sehen, wenn sich unsere Heiligen plötzlich als Arschlöcher entpuppen?

Wir geben Macht. Und wir nehmen Macht.

Frauenstimmen

Folge 1

Die Rhetorik der Gegner

Folge 2

Das Ab­stim­mungs­ver­hal­ten der Frauen

Folge 3

Die grösste Minderheit der Welt

Folge 4

«Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen»

Debatte

Wie gestalten wir Debatten so, dass Frauen mitreden?

Folge 5

Drei Kämp­fe­rin­nen für das Recht

Folge 6

Himmel, Hölle, Appenzell

Sie lesen: Folge 7

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