Grün hinter den Öhrchen
Stängelkohl ist so hässlich, wie sein Name klingt. Doch als Cima di Rapa, in Kombination mit der passenden Pasta, ist das Grünzeug unschlagbar. Geschmacksache, Folge 17.
Von Michael Rüegg (Text) und Carmen Palma (Bild), 16.03.2021
In einer typischen Deutschschweizer Kindheit ist jeweils im Spätherbst das Räbenschnitzen zentral. Dabei höhlt man eine Feld- oder Weisse Rübe aus, die aussen möglichst violett gefärbt ist. Wobei zu hoffen bleibt, dass der mittlerweile allgegenwärtige Halloweenkommerz die Rübe nicht flächendeckend durch den grinsenden Kürbis ersetzt.
Das Ziel beim Räbenschnitzen bestand in meiner Kindheit darin, die Aussenwand so dünn zu halten, dass das Licht der Kerze im Innern durchstrahlen konnte. Aber nicht so dünn, dass sie auseinanderbrach. In die violette Haut konnte man filigrane Muster schnitzen, mit winzigen Klingen, die vermutlich mittlerweile aus Sicherheitsgründen aus den Kindergärten verschwunden sind. (Wie die Kletterstangen auf Pausenplätzen, weil irgendwann mal einer runtergefallen ist.) Man machte Löcher in die Räbe, zog Schnüre durch und spazierte damit in Gruppen auf irgendeine Wiese. Dort wurde dann «Der Mond ist aufgegangen» von Matthias Claudius angestimmt.
Ich war schon lange nicht mehr Zeuge eines Räbeliechtliumzugs, aber ich vermute, es gibt diese Paraden noch. Zu meiner Zeit verspeisten wir den ausgehöhlten Inhalt der Rüben jeweils roh, solange darin keine Wurmgänge waren. Ansonsten ist mir eine kulinarische Verwendung dieser Pflanze nicht bekannt.
Ein bisschen bitter
Die Weisse Rübe, die ja eigentlich nicht weiss sein sollte, hat einen sehr engen Verwandten, mit dem sie allerdings optisch kaum Gemeinsamkeiten teilt. Die Rede ist von Cima di Rapa, einem grünen Kraut, das wie die Rübe zur grossen Familie der Kreuzblütler gehört. Cima di Rapa besteht aus Blättern, broccoliartigen Blüten und Stängeln. Im Vergleich etwa zum stylischen Romanesco ist Cima di Rapa hässlich wie die Nacht. Aber geschmacklich kann das Zeug was.
Zum ersten Mal verkostete ich das Gemüse vor über zwanzig Jahren in New York. Ich fand es gewöhnungsbedürftig. (Kein Wunder, wenn man mit Erbsli und Rüebli aufgewachsen ist.) Es hat einen intensiven, leicht bitteren, krautartigen Geschmack, der nach anfänglicher Irritation süchtig macht.
Wenn ich Cima di Rapa esse, fällt mir immer ein alter Bekannter ein, ein emeritierter Professor. Als wir mal mit ihm beim Italiener an einer grossen Tafel sassen, bestand er darauf, irgendeine grüne Beilage zu bestellen. Der Mann ist durch und durch bürgerlich, ausserdem ehemaliger Panzeroberst. Doch er weigert sich, eine Mahlzeit einzunehmen, wenn nicht irgendwas Grünes mit auf dem Teller liegt. Er glaubt, er würde unmittelbar dem Tod ins Auge sehen, wenn er nicht täglich auf Grünzeug herumkaut. Ohne Grün ist bei ihm nichts zu machen. Wir kennen uns nun viele Jahre und der Professor, längst im Pensionsalter, erfreut sich noch immer bester Gesundheit. Vielleicht ist an dem Grüntick ja tatsächlich etwas dran.
Geselliger geht nun wirklich nicht
All die Jahre wollte ich ihn immer mal zu meinen Orecchiette mit Cima di Rapa einladen. Denn sie sind die grünste Pasta, die ich kenne, vielleicht mit Ausnahme von Trofie al Pesto genovese. Orecchiette sind kleine Öhrchen, die einem, wenn man sie im Supermarkt kauft, vorgaukeln, dass sie von Hand zusammengedrückt wurden. Man sieht auf ihren Oberflächen die Rillen eines künstlichen Fingerabdrucks. Ich frage mich, ob das Schengen-Informationssystem ein Resultat ausspucken würde, scannte man eine Orecchietta ein.
Das Rezept gehört zu meinen absoluten – Achtung, wir fahren in Kalau ein – Evergreens. Ich bereite es mehrmals pro Jahr zu, häufig dann, wenn ich im Supermarkt stehe und nicht weiss, was ich kochen soll. Wenn Cima im Kühlregal liegt, gibts Orecchiette.
Kürzlich schickte mir der Feinkostladen meines Vertrauens per Newsletter ein Orecchiette-Rezept, das fast identisch ist mit meinem. Doch kommt es ohne Würste aus und verwendet stattdessen Sardellen und Cherrytomaten. Kann man machen, vor allem dann, wenn man Sardellen mag. Ich persönlich kann sie nicht ausstehen, daher bleibe ich bei meinem Rezept.
Es ist kein besonders aufwendiges Gericht, auch wenn es mehrere Arbeitsschritte umfasst. Man muss einfach alles mit viel Liebe machen, dann wirds gut. Gibt es etwas Geselligeres, als einen Haufen Leute (Sie erinnern sich vielleicht noch dunkel daran, dass das früher mal möglich war), die um einen grossen Topf mit dampfender Pasta sitzen? Na gut, Fondue, aber denken Sie bitte an Ihre Verdauungsorgane. Kochen Sie diese Orecchiette also, wenn Sie vor dem Jassabend einen Happen essen wollen. Die Küche ist nämlich schnell aufgeräumt.
Ein Wort zu den Würsten: Vor einigen Jahren wohnte ich oberhalb eines kleinen italienischen Lebensmittelgeschäfts. Der Inhaber wurstete im Hinterzimmer selber, also kaufte ich bei ihm ein. Heute sind es in der Regel diese Tessiner Grillwurstschnecken, oder die dickeren Luganighe, die für dieses Rezept herhalten müssen. Diese Tessiner Würste stammen ursprünglich aus dem alten Rom. Und wenn auch die nirgendwo zu finden sind, tuts zur Not auch mal eine Schweinsbratwurst.
Orecchiette mit Cima di Rapa und Salsiccia
Zutaten: 800 g Cima di Rapa, 800 g frische Orecchiette aus dem Kühlregal, ca. 300 g Salsicce (oder Luganighe), 3–4 Knoblauchzehen, 3–4 grosse Peperoncini, ein gutes Stück Parmesan, ein Schuss gutes Olivenöl
In einem wirklich grossen Topf Wasser aufkochen lassen und salzen. Derweil die Cima di Rapa waschen, den Stielansatz knapp abschneiden und Stiele und Blätter in ca. 1 Zentimeter grosse Stücke scheiden.
Das Grünzeug portionenweise kurz im kochenden Wasser blanchieren und mit der Schaumkelle herausfischen und abtropfen lassen. Das nun grünlich gefärbte Wasser im Topf lassen.
Bei den Würsten dem Brät aus dem Darm helfen und in kleine Stücke schneiden oder auseinanderzupfen. In einer grossen Bratpfanne mit etwas Olivenöl anbraten, dabei grosse Stücke mit der Kelle zerteilen.
Peperoncini entkernen und zusammen mit dem Knoblauch klein hacken, zum Wurstbrät in die Pfanne geben und mitbraten. Derweil den Parmesan fein hobeln (zum Beispiel mit dem Trüffelmesser). Cima di Rapa dazugeben und warmhalten, bis die Pasta soweit ist.
Das Wasser im Topf wiederum zum Sprudeln bringen und die Orecchiette hineingeben. Die frischen Teigwaren brauchen nur kurz. Mit einer Tasse etwas Pastawasser herausfischen, Orecchiette in ein Sieb abgiessen.
Alles zusammen zurück in den Topf geben, allenfalls einen Schuss Olivenöl und Pastawasser dazugeben, damit die Sache nicht zu trocken wird. Mit Salz und Pfeffer abschmecken, Parmesan hineingeben, gut vermischen und umgehend servieren.
Italien? Frankreich? Hauptsache aus dem Süden
Was den Wein betrifft: Die Geografieregel suggeriert bei diesem süditalienischen Gericht, dass man etwa nach einem Negroamaro Ausschau halten könnte, der das leicht Bittere des Gemüses komplementiert. Doch ich muss gestehen, dass es mir Weine aus dem Süden Italiens nie sonderlich angetan haben, mit wenigen Ausnahmen (beispielsweise gewisse Sizilianer). In unserer Runde neulich gabs einen roten Südfranzosen von Château d’Anglès, der hervorragend gepasst hat. Eine Assemblage aus Grenache, Syrah und Mourvedre, ausgezeichnet gekeltert vom langjährigen technischen Direktor von Château Lafite Rothschild, der zusammen mit seinem Sohn nun in der Appellation La Clape im Languedoc Weine mit einem hervorragenden Preis-Leistungs-Verhältnis macht.