Wenn aus Fürsorge Ausgrenzung wird
Viele Menschen mit geistiger Behinderung dürfen in der Schweiz nicht abstimmen – obwohl ihnen dieses Recht gemäss Uno-Konvention zusteht. Nun nimmt Genf eine Pionierrolle ein. Was heisst das für den Rest des Landes?
Von Daria Wild, 15.03.2021
Es ist eine Geschichte mit dem Prädikat «historisch»: Sébastien Martone, 25 Jahre alt, mit Autismusspektrumstörung, sitzt an einem Holztisch und legt die Unterlagen für die Abstimmung vom 7. März vor sich aus, ordnet sie, ordnet sie wieder neu. Hinter ihm steht seine Mutter, legt schützend die Arme um ihn, fegt einen Krümel vom Tisch, klopft ihm mit den Händen ermutigend auf die Brust, während die Fotoapparate klicken, die Kamera läuft. «Blick TV», «Die Zeit», «Swissinfo», alle berichteten.
Sébastien Martone lebt unter umfassender Beistandschaft. Was ihm bisher deswegen verwehrt war, ist ihm nun erlaubt: Er darf abstimmen und wählen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen und Verbände wie Insieme, der Verband für Menschen mit geistiger Behinderung in der Schweiz, kämpfen seit Jahren dafür, dass auch Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, politische Rechte bekommen. Im Kanton Genf mündete das Engagement in einer kantonalen Initiative: 75 Prozent der Stimmenden nahmen im November 2020 eine entsprechende Vorlage an. Die rund 1600 Menschen im Kanton Genf, die wie Martone umfassend verbeiständet sind, können als Erste im Land nun auf kommunaler und kantonaler Ebene abstimmen.
Man kann nun darüber reden, warum wer wie verbeiständet wird. Das legt das Zivilgesetzbuch grob fest. Nach Artikel 398 wird umfassend verbeiständet, wer «wegen dauernder Urteilsunfähigkeit» besonders hilfsbedürftig ist. Die Handlungsfähigkeit der Person entfällt dann von Gesetzes wegen, die Person verliert ihre politischen Rechte, falls sie überhaupt je welche hatte. Betroffen sein können Personen mit schweren geistigen Behinderungen, aber auch Menschen mit Demenz, psychischen Störungen oder solche, die verunfallt sind.
Es sind die jeweiligen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, die beurteilen, ob diese Form der Beistandschaft angewendet werden soll, ob «alle Angelegenheiten der Personensorge, der Vermögenssorge und des Rechtsverkehrs» Beiständen übertragen werden – zum Beispiel den Eltern. Knapp 15’000 Personen standen 2019 unter umfassender Beistandschaft, Tendenz sinkend.
Man kann aber auch darüber reden, warum die politischen Rechte überhaupt an den Betreuungsstatus einer Person geknüpft sind. Warum mehrere tausend Personen vom Gang an die Urne ausgeschlossen sind, obwohl die Schweiz 2014 die Uno-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat, welche die beteiligten Länder dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen «gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können».
Es ist eine Frage, die weit darüber hinausgeht, ob jemand wie Sébastien Martone fähig ist, einen Abstimmungszettel auszufüllen.
Ein hartnäckiges Überbleibsel
Die Geschichte der Schweiz war immer auch eine Geschichte des Ausschlusses, politische Rechte stehen seit jeher nur einem Teil der Bevölkerung zu. Dieser Teil hat sich schrittweise vergrössert. Die Verfassung führte 1848 das allgemeine Stimmrecht ein – bekanntlich jedoch nur für Männer und auch da nur für solche, die über den Schweizer Pass verfügten, älter waren als 20 Jahre und nicht Steuerschuldner, Konkursite, Verurteilte oder Armengenössige waren, wie Sozialhilfebezüger früher genannt wurden.
Das Bundesgericht erklärte es im Jahr 1915 zwar für verfassungswidrig, Steuerschuldner von Abstimmungen auszuschliessen, legitimierte aber gleichzeitig den Ausschluss von Armengenössigen weiterhin. Erst seit 1971 ist eine Verurteilung oder finanziell prekäre Situation kein Grund mehr, jemandem die politischen Rechte zu verweigern. Seit damals dürfen auch Frauen auf eidgenössischer Ebene den Weg an die Urne begehen, dieses Jahr wird das 50-Jahr-Jubiläum gefeiert. Doch ausgeschlossen sind nach wie vor: Jugendliche, Ausländerinnen – und eben: umfassend verbeiständete Menschen.
Die Antwort auf die Frage, warum diesen Menschen die politischen Rechte verwehrt sind, lautet also zunächst: weil es immer so war.
Um eine tiefergehende Antwort zu erhalten, fragt man Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, Experte für Behindertenrechte und Mitglied des Uno-Behindertenrechtsausschusses. Schefer sagt: «Als die Invalidenversicherung gegründet wurde, wurde darauf geachtet, dass die, die nicht arbeiten können, trotzdem einen Lebensunterhalt haben. Es ging um Existenzsicherung. Der gesellschaftlichen Dimension, der Dimension der Gleichstellung, war man sich damals noch kaum bewusst.»
Caroline Hess-Klein, ebenfalls Juristin mit Lehrauftrag an der Universität Basel und Leiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap, sagt: «Das Augenmerk lag lange auf der Fürsorge, der Hilfe. So haben sich die Behindertenorganisationen auch definiert. Das Konzept der Urteilsunfähigkeit soll mich eigentlich schützen, etwa verhindern, dass ich mir selbst schade. Doch im Fall der politischen Rechte wird aus der Fürsorge Ausgrenzung. Die Grundlagen, auf die sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bei der Einrichtung umfassender Beistandschaften stützt, sagen nichts über die Fähigkeit aus, politische Rechte auszuüben.»
Schefer sagt: «Wenn eine Beistandschaft errichtet wird, wird nicht geprüft, ob eine Person ihre politischen Rechte wahrnehmen kann oder nicht – wie auch? Es wird davon ausgegangen, dass eine Person, die nicht für ihre Angelegenheiten sorgen kann, die hilfsbedürftig sei, sich keine politische Meinung bilden kann. Dabei können das viele Menschen etwa mit Trisomie 21 durchaus.»
Es ist die Verbindung von politischen Rechten und Pflegebedürftigkeit, die die beiden Expertinnen als wahlweise «sinnlos» oder «stossend» bezeichnen – ohne allerdings den Zeigefinger zu heben. Denn viel eher scheint die Streichung der politischen Rechte beiläufig zu passieren, schlicht unterzugehen. Ein Kollateralschaden der Verbeiständung quasi. Hess-Klein sagt dazu: «Die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ist oft nicht eine Folge von Boshaftigkeit oder Herabsetzung, sondern eine Folge davon, dass man sich nicht mit ihnen auseinandersetzt, dass sie vergessen werden.»
Es ist ja gut gemeint
Ein Beispiel, das exemplarisch zeigt, was das Problem ist im Umgang mit Menschen mit Behinderung – ob geistiger oder physischer: 2008 wollte Marc Glaisen, als Paraplegiker auf den Rollstuhl angewiesen, in ein Kino in Genf. Der Zutritt wurde ihm verwehrt; der Saal habe Stufen, das Risiko im Brandfall sei deshalb zu gross. Es nützte nichts, dass Glaisen sagte, er übernehme die Verantwortung für sein Risiko.
Glaisen zog vor Gericht, er wollte Artikel 6 des Behindertengleichstellungsgesetzes geltend machen, aufgrund dessen Behinderte nicht von öffentlichen Dienstleistern wie Kinos, Restaurants, Warenhäusern oder Banken diskriminiert werden dürfen. Er verlor durch alle Instanzen, auch 2012 vor dem Bundesgericht. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte das Schweizer Urteil. Die Begründung: Das Kino hatte keine böswillige Absicht, sondern handelte aus Sorge um die Sicherheit von Glaisen. Ohne Böswilligkeit keine Diskriminierung.
Der Fall zeigt den Grat, den sowohl Schefer als auch Hess-Klein beschreiben: Die Motivation im Umgang mit Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen ist fürsorgerisch, aber diese Fürsorge kann in einen Paternalismus kippen, laut Schefer besonders dann, «wenn man den einzelnen Menschen nicht ernst nimmt». Hess-Klein sagt: «Stellen Sie sich vor, Ihnen wird als Frau verboten, abends nach draussen zu gehen, weil es gefährlich sein könnte. Und weil dieses Verbot ja gut gemeint ist, beziehungsweise keiner diskriminierenden Absicht folgt, wird es nicht als diskriminierend betrachtet.»
Die Juristin bemüht immer wieder den Vergleich mit den Frauen, und er hinkt nur sehr schwach. Hess-Klein bringt diesen Vergleich aber auch, um deutlich zu machen, wie lang Prozesse der Gleichstellung dauern können – ob zwischen den Geschlechtern oder zwischen Menschen mit Behinderungen und solchen ohne, den «sogenannt Normalen», wie Sabrina Gaetani sie nennt.
«Ich bin auch jemand»
Sabrina Gaetani, aufgewachsen und wohnhaft im Kanton Solothurn, setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte bekommen und auch ausüben können. Gaetani hat eine leichte geistige Beeinträchtigung, lebt aber selbstständig und ohne Beistand.
Sie sei nicht gerade die Schnellste, sagt sie am Telefon, aber fit im Kopf, «mir fehlt es körperlich». Zehn Operationen hat sie schon hinter sich, sie bezieht eine IV-Rente und arbeitet für 700 Franken Monatslohn in einer Werkstatt, die Menschen mit Beeinträchtigung anstellt. Die Schilderung ihrer Lebensumstände und ihrer Geschichte ist konzis, eine verhaltene Wut klingt darin an.
Gaetani sagt, sie habe oft das Gefühl, «auf die Seite gestellt» zu werden, das Gefühl, es würde über ihren Kopf hinweg bestimmt. Als habe sie nichts zu sagen. «Vor 50 Jahren sind wir Behinderten noch versteckt worden», sagt sie, doch auch heute habe sie oft das Gefühl, unerwünscht zu sein. «Ich bin auch jemand. Aber wenn ich das sage, werde ich noch böse angeschaut», sagt Gaetani. Es sei ihr wichtig, dass sie politisch mitbestimmen könne, besonders, wenn beispielsweise über eine neue IV-Reform entschieden würde. «Das betrifft mich direkt. Ich will auch über mein Leben bestimmen. Und ich will auch sagen, was gut ist und was nicht.»
Was Gaetani lange daran hinderte, abzustimmen, war nicht eine umfassende Beistandschaft, sondern die Komplexität der Abstimmungsunterlagen. Informieren will sich Gaetani vor allem über Fernseh- und Radiosendungen, doch auch da geht es ihr oft zu schnell, oder die Sendungen kommen zu spät am Abend. «Es gibt auch sogenannt Normale, die da nicht mitkommen», sagt Gaetani. «Das ist doch katastrophal.»
Was im Gespräch mit Sabrina Gaetani rasch klar wird: Die politischen Rechte sind, natürlich, eine grundlegende Voraussetzung, am politischen Leben teilzuhaben. Doch darüber hinaus ist es für Menschen mit Behinderung oft schwierig, diese Rechte auch wahrzunehmen: Die Informationen sind schwerer zugänglich, die finanziellen Ressourcen oft knapper als bei den «sogenannt Normalen». Es fehlt an zahlreichen Ecken und Enden.
Schefer sagt: «Man kann sich jeden Lebensbereich anschauen, und in jedem Lebensbereich gibt es vielfältige Ausschlussmechanismen, die nicht nötig wären, die man in der Vergangenheit so eingerichtet hat, bei denen man sich heute aber nicht überlegt, ob und wie man es besser machen könnte.» Stichwort barrierefreie Internetseiten. «Im internationalen Vergleich steht die Schweiz zwar gut da, was die Invalidenversicherung betrifft, aber in Fragen der Gleichstellung haben wir grossen Aufholbedarf.» Nach wie vor würden Menschen mit Behinderung fast ausschliesslich auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung angestellt.
Neue Bewegung für Behindertenrechte
Doch das Anliegen der Gleichstellung behinderter Menschen hat seit Jahren Aufwind. Die Ratifizierung der Uno-Behindertenrechtskonvention 2014 habe aufseiten der Behindertenorganisationen für Elan gesorgt, sagt Schefer. Interessenverbände schafften es öfters, mit ihren Anliegen in den Medien zu erscheinen. Und schliesslich ist die Uno-Konvention «kein moralisches Regelwerk, sondern legt völkerrechtliche Verpflichtungen fest», sagt Schefer. Die Schweiz müsste liefern, ansonsten wird sie, und das wird auch passieren, gerügt. Gleichzeitig pochen zivilgesellschaftliche Organisationen auf einfachere Abstimmungsunterlagen und behinderte Menschen auf Barrierefreiheit und Zugang zur «Aussenwirtschaft», wie Gaetani die Arbeitswelt der «sogenannt Normalen» nennt.
Der Gegenwind ist da, wenn auch nicht heftig.
Das lauteste Gegenargument – es kam im Abstimmungskampf im Kanton Genf vonseiten der SVP – ist das des potenziellen Missbrauchs. Die Meinung von Menschen mit Behinderung könnte manipuliert werden, lautet die Befürchtung. Doch die Menschen, die sich für die Rechte von Behinderten einsetzen, führen dann gern ins Feld, dass auch Menschen ohne Behinderung manipuliert oder beeinflusst werden können, durch politische Werbung, durch Gespräche am heimischen Küchentisch, durch Freundinnen oder Verwandte. Hess-Klein sagt: «Wer weiss denn schon, wie bei anderen schlussendlich der Zettel ausgefüllt wird? Da wird die Frage des Missbrauchs nicht aufgeworfen. Dieses Risiko ist tragbar. Die Demokratie kann das absorbieren.»
Schefer sagt: «Wir müssen nicht so tun, als hätten wir einen ‹reinen› Diskurs und mit dem Einbezug von Menschen mit Behinderung käme auf einmal die Irrationalität in den Prozess. Man muss anerkennen, dass Menschen mit geistiger Behinderung genauso willens sind, Dinge zu begreifen.»
Das leisere Gegenargument ist jenes der Durchführbarkeit, der Praktikabilität. Können die betroffenen Menschen denn tatsächlich abstimmen, sind sie geistig und körperlich dazu fähig, kann das Abstimmungsmaterial angepasst werden? Schefer sagt: «Ich kann mir vorstellen, dass Eltern von schwer behinderten Kindern es vielleicht überraschend finden, wenn sie nun Abstimmungsunterlagen erhalten. Deshalb ist es gut, dass die konkrete Umsetzung im Kanton Genf nun getestet werden kann, damit man sieht, wo es Unterstützung und kompensatorische Massnahmen braucht.»
Ein Symbol für andere Kantone
Hess-Klein sagt, es werde natürlich Menschen geben, die, gemessen jeden Massstabs, nicht abstimmen können. «Aber mal anders gefragt; wie steht es um die politische Partizipation in der Schweiz? Nicht sehr gut. Es gibt zahlreiche Menschen, die abstimmen könnten, dies aber nicht tun, weil ihnen andere Dinge wichtiger sind, weil sie etwas nicht verstehen oder sie sich nicht dafür interessieren.» Es sei zudem ein offenes Geheimnis, dass die Abstimmungsbüchlein zu kompliziert seien.
Auch das ist ein Bedenken: dass vereinfachte Abstimmungsunterlagen Tür und Tor für Verfassungsbeschwerden öffnen, weil jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss. Hess-Klein sagt dazu bloss: «Ich meine: Man hat schon komplexere Nüsse geknackt.»
Am Ende sei es eine Frage des Engagements. Eine Frage, wer die Knochenarbeit erledige. Eine Frage des politischen Willens auch. Und eine Frage der Sensibilisierung? Es liegt auf der Hand, dass sich Lebensbereiche zu wenig berühren, dass die Gräben zwischen sogenannt Normalen und Menschen mit Behinderung da sind, manchmal vielleicht unüberwindbar scheinen. Schefer sagt: «Sensibilisierung ist das eine, ja. Aber Sensibilisierung ist oft moralisch aufgeladen. Es ist keine Frage, wer der bessere Mensch ist, man muss auch etwas tun. Man muss Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Am Ende zählt, ob eine Person im Rollstuhl an ein Konzert gehen kann oder nicht, oder ob eine Person mit geistiger Behinderung ihrer politischen Meinung Ausdruck verleihen kann oder nicht. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass alle gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen können.»
Sébastien Martone und der Kanton Genf jedenfalls dürften Signalwirkung entfalten. Die Frage nach politischen Rechten für Menschen mit Behinderung, die umfassend verbeiständet sind, ist zurzeit auch in den Kantonen Waadt, Neuenburg und Wallis ein Thema. Andere Kantone werden nachfolgen – und, irgendwann, wohl auch der Bund.