«Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen»
Frauen sitzen zwar inzwischen mit am Tisch, sagt die Kommunikationsexpertin Veronica Rueckert – nur werden sie ständig übertönt. Wie lässt sich das ändern? Serie «Frauenstimmen», Folge 4.
Von Anja Conzett, Lucia Herrmann (Text) und Diana Pfammatter (Bilder), 23.02.2021
50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts machen die Schweizer Frauen im Bundesparlament einen Sprung nach vorn: Noch nie war die Zahl der gewählten Politikerinnen so hoch.
Trotzdem sind sie noch immer nicht laut genug zu hören.
Ständerätinnen sprechen im Schnitt rund ein Fünftel weniger lang als ihre männlichen Kollegen. Das stellte das Magazin «Beobachter» fest, nachdem es 867 Stunden Redezeit analysiert hatte. Auch in den Nachrichten machen Männer 75 Prozent der erwähnten Personen aus, wie eine Studie 2016 feststellte.
Kurz: Die Stimmen der Macht sind überproportional männlich. Woran liegt das?
Unter anderem daran, dass nach wie vor für Frauen, die sprechen, andere Regeln gelten als für Männer, sagt die amerikanische Kommunikationsexpertin Veronica Rueckert. Und dass in Debatten nicht darauf geachtet wird, wer eigentlich wann zu Wort kommt.
Seit gerade mal 50 Jahren haben Schweizerinnen politisches Mitspracherecht. Kein Anlass zum Feiern, sondern für Fragen: Was kann uns der Blick zurück für heute lehren? Wie ist die Lage für die Frauen heute? Zum Auftakt der Serie.
Frau Rueckert, wie würden wir an dieses Gespräch herangehen, wenn wir Männer wären?
Ein Mann geht grundsätzlich eher mit der Absicht in ein Gespräch, möglichst viel Raum für sich zu gewinnen. Unter Umständen ist es dabei nicht einmal mehr so wichtig, was er überhaupt sagen will. Eine Frau dagegen kommt bis an die Zähne vorbereitet – mit Unterlagen unter dem Arm, jede Möglichkeit ausgelotet –, bereit, ihre Argumente zu verteidigen. Sie will sich absichern, weil sie sich die Frage gestellt hat: Wie kann ich meiner Idee Gehör verschaffen? Ein Mann kann das in den meisten Fällen als gegeben voraussetzen. Das ist wie eine Art Geburtsrecht – das Selbstverständnis, dass einem Mann zugehört wird. Also geht es ihm im Gespräch vor allem darum, sich Ellbogenfreiheit zu verschaffen.
Gelten für Frauen in Machtpositionen andere Regeln?
Sogar Madeleine Albright – die ehemalige Aussenministerin der USA – sagt, dass sie heute noch immer nervös wird, wenn sie in einem Raum voller Männer ins Gespräch eingreifen muss. Forscherinnen der Universität Yale haben untersucht, dass einflussreiche Senatorinnen bedeutend weniger Redezeit in Anspruch nehmen als ihre männlichen Kollegen mit vergleichbarem Status. Eine andere Studie hat festgestellt, dass die Richterinnen am Supreme Court – dem Obersten Gericht der USA – während Verhandlungen dreimal häufiger unterbrochen werden als ihre männlichen Kollegen. Das alles kommt nicht von ungefähr: Ein Mann wird umso mächtiger wahrgenommen, je mehr er spricht. Für Frauen existiert diese Korrelation nicht. Im Gegenteil. Auch das ist empirisch belegt: So wurde ein Mann in der Rolle des CEO um 10 Prozent wichtiger eingeschätzt, wenn er redselig war. Eine Frau in der gleichen Rolle wurde um 14 Prozent weniger wichtig eingeschätzt, als wenn sie schweigsamer auftrat. Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen. Und das wissen wir auch.
Wie sehen diese Strafen im Alltag aus?
Unterbrechungen sind auch ausserhalb des Supreme Court ein grosses Problem – Männer unterbrechen Frauen dreimal mehr als andere Männer. Eine weitere Art des Silencing, die fast jede Frau kennt: Man äussert eine Idee, niemand reagiert, ein paar Takte später sagt ein Mann fast genau das Gleiche – und ihm wird applaudiert. Selbst wenn Vorschläge von Frauen gehört werden, werden sie viel schneller abgetan. Viele Frauen erzählen davon, wie sie in Meetings fast verzweifeln, wenn ihre Ideen ohne echte Begründung einfach fallen gelassen werden. Das sind keine individuellen Erfahrungen – das hat System.
Woher kommt das?
Die Präferenz von männlichen Stimmen ist uralt. Nicht bloss die Vorstellung, dass es die Männer sind, die sprechen sollen, sondern auch, dass Frauen nicht zu sprechen haben: Schon im alten Griechenland wurde das Schweigen als die Zierde der Frau bezeichnet. Ähnlich klingt es im ersten Korintherbrief. Shakespeare beschreibt die ideale Frauenstimme als sanft, tief und kaum hörbar. Bis heute gilt: Egal ob Politik, Experteninterview oder Naturdokumentarfilm; die Stimme, die uns sagt, wo es langgeht – die Stimme der Autorität –, ist weiss und männlich. Das ist tief verankert. Und hat eine nicht zu unterschätzende physische Komponente.
Eine physische Komponente?
Von Frauenstimmen, besonders jungen Frauenstimmen, wird oft gesagt, sie klängen unsicher. Oder man hört Dinge wie: Ihre Stimme treibt mich in den Wahnsinn. Das ist alles Code für: Ich halte diese Person für weniger intelligent. Ein Beispiel: In den USA wurde kürzlich intensiv über vocal fry diskutiert. Das ist eine unter jungen Frauen populär gewordene Sprechtechnik, bei der die Stimme tief, rau und brüchig gemacht wird – ähnlich, wie wenn man Speck brutzelt.
So, wie Noam Chomsky oder George W. Bush klingen?
Genau. Nur dass Chomsky und Bush als Männer das Privileg haben, für ihre Inhalte kritisiert zu werden statt für den Klang ihrer Stimme. Wenn junge Frauen aber vocal fry anwenden, werden ihnen – ich zitiere – «IQ-Punkte abgezogen». Doch das ist nur eines von mehreren Beispielen. Frauen sprechen schnell, weil sie wissen, dass sie wenig Zeit haben, bis sie unterbrochen werden. Sie heben die Stimme am Ende eines Satzes, was alles wie eine Frage klingen lässt. Oder sie entschuldigen sich übermässig. Diese Sprechmanierismen werden Frauen zum Nachteil ausgelegt, weil Frauen nicht klingen, wie Macht sich für uns anhört. Mit Blick auf den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016: Was glauben Sie, wie viele Artikel wurden verfasst, die sich einzig und allein mit Hillary Clintons Stimme befassten?
Viele?
Etliche. Ihre Stimme war oft Mittelpunkt der Debatte. Ein Journalist sagte, sie sei wie ein Eispickel im Ohr. Es war eine Ausrede, um sich nicht mit ihren Inhalten auseinandersetzen zu müssen. Und letztlich offensiver Sexismus. Kein Mann muss sich das gefallen lassen. Aber wenn eine Frau dort steht, dann geht es nicht nur um ihre Ideen oder ihre Taten. Alles steht zur Diskussion, ist öffentliches Gut: ihr Gesicht, ihr Körper und in der Erweiterung ihres Körpers ihre Stimme. Voice-Shaming ist eine Form der Diskriminierung, über die wir sprechen müssen. Susan B. Anthony, im 19. Jahrhundert in den USA für das Frauenwahlrecht gekämpft hat, sagte einmal, das Recht zu wählen sei ein harter Kampf gewesen – Frauen in der Öffentlichkeit sprechen zu lassen, ein noch viel härterer. Mit anderen Worten: Nur weil wir uns einen Platz am Tisch errungen haben, heisst das nicht, dass wir auch automatisch Teil des Gesprächs sind.
Und wie verschaffen wir Frauenstimmen mehr Gehör?
In Firmen muss eine Kultur etabliert werden, in der Frauen nicht mehr zum Schweigen gebracht werden – indem Strukturen geschaffen werden, in denen weniger unterbrochen wird, in der vielleicht Redezeiten gemessen werden oder proaktiv auf Frauen zugegangen wird. Spannend dazu: 2012 veröffentliche die «American Political Science Review» einen Artikel, der sich mit der Frage befasste, wie eine Gruppe zusammengesetzt sein muss, damit Frauenstimmen den gleichen Einfluss erhalten wie Männerstimmen. Das Resultat: Frauenstimmen wurden in zwei Situationen gleichberechtigt gehört: wenn 80 Prozent der Gruppe aus Frauen bestand – oder wenn der Beschluss der Gruppe nicht per Mehrheitsentscheid, sondern per Konsens erarbeitet wurde.
Was ändert sich, wenn Frauen besser gehört werden?
Wie wichtig es ist, dass Frauen andere Frauen sehen und hören, zeigt das Beispiel von «The Moth», einer populären Show hier in den USA. Teilnehmer erzählen dort Geschichten vor Publikum, am Ende der Show wird die beste Geschichte gekrönt. Anfangs meldeten sich nur Männer an, weshalb sich die Macher fieberhaft überlegten, wie sie mehr Frauen zum Mitmachen animieren könnten. Irgendwann stand sogar die Frage im Raum, ob Frauen überhaupt Geschichten erzählen können. Aber dann meldeten sich ganz langsam immer mehr Frauen, und andere Frauen sahen und hörten diese Frauen und folgten ihnen. Unterdessen gewinnen mehr Frauen als Männer die Show.
Wir sind also nicht mit einem Knoten in der Zunge geboren?
Offensichtlich nicht. Aber Mädchen lernen schon sehr früh, dass es besser ist, zu schweigen. Auch hierzu gibt es Untersuchungen: Einer Gruppe von Mädchen und Buben wurden zwei Personen beschrieben, und die Kinder hatten die Aufgabe, ihnen ein Geschlecht zuzuordnen. Die eine Person war intelligent und gewitzt, die andere Person nett und freundlich. Im Alter von fünf Jahren bestimmten die Kinder die intelligente Person jeweils nach ihrem eigenen Geschlecht. Aber schon ein Jahr später ordneten Mädchen die intelligente Person dem anderen Geschlecht zu, während Buben beim eigenen blieben. Mädchen werden noch immer dazu erzogen, nett und gefällig und Teamplayerinnen zu sein, während wir Buben etwas anderes vermitteln. So werden gemäss einer Studie Buben von Lehrern regelmässig dazu ermutigt, im Unterricht eine Frage zu beantworten. Mädchen erhalten diese Aufforderung kaum. Ich bin übrigens auch selbst nicht davor gefeit, unterschiedliche Massstäbe anzulegen – und ich beschäftige mich professionell mit diesen Themen.
In welchen Situationen sind selbst Sie nicht gefeit?
Ich habe eine Tochter und einen Sohn. Der Sohn kam zuerst, ein lautes Kind, das das Haus zusammenschreien konnte. Als dann meine Tochter kam, ertappte ich mich selbst dabei, wie ich sie zurechtwies, wenn sie laut wurde. Ich beschloss, sie nie wieder zum Schweigen zu bringen, sie einfach laut sein zu lassen. Das hat zu einigen interessanten Momenten in Flugzeugen oder im Theater geführt, aber ich bereue meine Entscheidung nicht. In Nordeuropa gibt es übrigens Kindergärten, die Mädchen beibringen, so laut wie möglich «Nein» zu schreien. Das ist grossartig! Denn die Konditionierung von Mädchen beginnt so früh, dass wir genauso früh aktiv und drastisch Gegensteuer leisten müssen – auch, weil es zu wenig laute, selbstbewusste Vorbilder für Mädchen gibt.
Veronica Rueckert ist ausgebildete Opernsängerin, hat für ihre Arbeit als Radiojournalistin einen Peabody Award erhalten, arbeitet als Kommunikationsexpertin an der Universität Wisconsin-Madison und trainiert mittlerweile hauptberuflich Frauen (und ein paar Männer) darin, öffentlich zu sprechen. Ihre Klientinnen sind Politikerinnen, Partnerinnen bei einflussreichen amerikanischen Anwaltskanzleien, Professorinnen, Managerinnen, hochrangige Militärs. In ihrem Buch «Why Women’s Voices Get Silenced and How to Set Them Free» untersucht sie das Phänomen, dass Frauenstimmen weniger hörbar sind als Männerstimmen.
In Sachen Repräsentation ist dieses Jahr etwas passiert: Mit Kamala Harris wurde in den USA zum ersten Mal eine Frau in ein Präsidialamt eingeschworen. Was wird das für einen Einfluss haben?
Nicht nur eine Frau, sondern auch eine woman of color in dieser Position zu sehen, ist ein gewaltiger Moment und eine grosse Chance für Veränderung. Aber es wird interessant sein, zu beobachten, wie sich Harris’ Stimme in den nächsten vier Jahren entwickelt. Und ob sie erneut als Präsidentin kandidiert. Was bereits passiert ist: Harris und auch Elizabeth Warren haben massgeblich verändert, wie Frauen sich im Präsidentschaftsrennen äussern. Sie haben beide in den Debatten Emotionen gezeigt – etwas, was Frauen lange Zeit verboten war. Wenn ein Mann Emotion zeigt, assoziieren wir das mit Gravität. Bei einer Frau heisst es schnell, sie ist hysterisch, fällt auseinander, ist dem Druck nicht gewachsen. Harris und Warren haben diesbezüglich die Grenzen verschoben. Es scheint Frauen in einflussreichen politischen Ämtern neuerdings erlaubt zu sein, als ganze, vollständige Menschen aufzutreten. Eine Frau muss nicht mehr klingen wie ein Mann, wenn sie mächtig ist. Bei Margaret Thatcher oder auch Hillary Clinton war das noch anders, und das hört man auch.
Bei Thatcher ist die Strategie offenbar aufgegangen, ihre eigentlich hohe, feine Stimme gefühlte zwei Oktaven in den Keller zu pressen und beim Sprechen keinerlei Gefühlsregung zu zeigen. Hillary Clinton hat ebenfalls kaum Emotion gezeigt. Hat ihr das im Wahlkampf 2016 eher genützt oder geschadet?
Ich erinnere mich lebhaft an diese eine Debatte, in der Donald Trump um Hillary Clinton kreiste wie ein Hai um seine Beute. Dies zu beobachten, war sehr unangenehm. Aber Clinton hat keine Sekunde lang den Fokus gebrochen. Ein Meisterstück in Selbstdisziplin und Haltung – und eine verpasste Chance. In ihren Memoiren schreibt sie, am liebsten hätte sie sich umgedreht und gesagt: «Back off, creep» – «Hau ab, du Ekel». Was für ein Gamechanger das gewesen wäre! Ein Moment der Menschlichkeit und ein wichtiges Signal für all die Frauen zu Hause am Bildschirm, die unter solchen Situationen leiden. Rückblickend sagt Clinton, sie habe die Lektion wohl zu gut gelernt.
Welche Lektion?
Ich sehe das auch oft in meiner Arbeit als Sprachcoachin: Frauen sagen, sie hassen es, zu sprechen, obwohl sie gutes Feedback erhalten. Der Grund dafür ist oft, dass sie sich selbst in diese kontrollierte, geskriptete, möglichst unverletzliche Version ihrer selbst zwingen und sich damit in gewisser Weise abtöten.
Bringen wir Frauen uns selbst zum Schweigen?
Das ist definitiv nicht das Hauptproblem, aber es ist ein Teil des Problems. Es ist wichtig, dass wir auch unser eigenes Verhalten hinterfragen. Noch heute sagen mir Frauen, die ich coache: «Ich will gar nicht reden; es entspricht nicht meinem Charakter …»
Wie reagieren Sie darauf?
Ich nehme das nicht einfach so hin, weil ich es wichtig finde, dass Frauen die Gelegenheit zu sprechen ergreifen, wenn sie sie haben. Dass sie sich ins Scheinwerferlicht stellen, die erste Frau im Raum sind, die etwas sagt, das Eis brechen für andere Frauen. Dass sie Ja sagen zur Interviewanfrage, zu dem Podiumsauftritt. Frauen zögern, diese Rollen einzunehmen, weil sie nicht denselben Applaus dafür erhalten wie Männer. Wir marinieren ständig in dieser toxischen Suppe, die Männerstimmen privilegiert, und internalisieren dabei den Hass auf unsere eigenen Stimmen. Dagegen müssen wir – auch ich selbst – immer wieder ankämpfen und bewusst in die andere Richtung ziehen. Das braucht Übung.
Wie üben wir das?
Ich weiss, das klingt jetzt gefühlig. Aber in meinen Workshops frage ich jeweils als Erstes: «Lieben Sie Ihre Stimme?» Natürlich tut das kaum je eine Frau. Da müssen wir ansetzen. Wir müssen uns mit unserer Stimme anfreunden, uns zuhören, lernen, unsere Stimme zu gebrauchen. Das kann man auch im Kleinen üben, zu Hause oder in der Partnerschaft. Das ist ein guter Ort, um Bedürfnisse und Ideen direkt zu formulieren. Oder wenn man es im Meeting nicht schafft, etwas zu sagen, kann man dem Chef nachher eine E-Mail schreiben mit dem, was man gerne gesagt hätte – so lange, bis man sich traut, etwas zu sagen.
Als Journalistinnen erleben wir es oft, dass wir spezifisch eine Frau als Expertin suchen, eine perfekte Kandidatin finden und diese dann ablehnt. Was können wir in einer solchen Situation tun?
Die Forschung bestätigt diese Erfahrung: Frauen müssen in der Tendenz aufgefordert werden, für ein politisches Amt zu kandidieren, während ein Mann in der Regel keinerlei Zweifel hat, dass er das kann. Wenn wir das wissen, können wir Frauen gezielt ermutigen, Chancen wahrzunehmen – und begründen, warum sie perfekt für die Rolle der Expertin sind. Wir können zudem Bewusstsein dafür schaffen, dass jede weibliche Stimme, jedes Zitat in einer Zeitung zählt. Dass sich durch diese Repräsentation etwas ändert. Auch in Meetings können wir die Stimmen anderer Frauen verstärken, indem wir nachdoppeln, Allianzen bilden, Mentorinnen sind für jüngere Frauen. Aber – und das ist extrem wichtig – die Verantwortung, etwas zu ändern, darf nicht nur bei uns Frauen liegen. Ständig kämpfen zu müssen, dass wir gehört werden, ist erschöpfend und zermürbend. Um einen Kulturwandel herbeizuführen, müssen Männer genauso involviert sein.
Was können Männer tun?
Viel. Vor allem auch viel mehr, als sie zurzeit tun. Die Macht liegt noch immer bei Männern – also können sie auch die Spielregeln neu schreiben. Zum Beispiel: Wenn ich an einer Sitzung etwas sage, unterbrochen werde oder meine Idee überhört und dann von einem Mann übernommen wird, dann hat es viel mehr Gewicht, wenn ein Mann sagt: «Veronica wurde gerade unterbrochen, ich würde gerne hören, was sie zu sagen hat», als wenn das eine andere Frau sagt. Der erste Schritt, den Männer tun können: Frauen zuhören, welche Erfahrungen sie machen. Männer sind meist sehr empfänglich dafür, wenn man sie darauf hinweist, wie ungleich Frauenstimmen behandelt werden. Sie wollen helfen. Ihnen fehlt oft einfach das Problembewusstsein, oder sie wissen nicht, wie sie Frauen unterstützen können. Hier bräuchte es dringend institutionellen Support. Human Resources – diese Zitadellen der Macht – müssen an Bord kommen.
Hat sich in dieser Hinsicht nicht einiges getan? Es gibt zum Beispiel immer mehr Stelleninserate, die gezielt nach Frauen suchen.
Das stimmt, aber der Eindruck trügt. Personalabteilungen wollen unterdessen zwar oft, dass Frauen am Tisch sitzen – ob diese sich einbringen können, ist ihnen dann aber häufig egal. Dabei könnten die HR-Abteilungen – sei es mit Schulungen oder Sitzungstools – massgeblich zu einem Klima beitragen, in dem Frauenstimmen die gleiche Beachtung und der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie Männerstimmen. Aber auch dort fehlt das Bewusstsein, dass in dieser Hinsicht Handlungsbedarf herrscht.
Woher kommt dieser Mangel an Bewusstsein?
Als Gesellschaft anerkennen wir zu wenig, dass Frauenstimmen noch immer nicht willkommen sind. Es herrscht der Glaube vor, Frauen könnten frei sprechen. Wir haben erst gerade begonnen zu analysieren, welche Dynamiken spielen, wenn eine Frau spricht. Wir stehen am Fuss des Berges – aber es geht auch aufwärts. So haben wir unterdessen glücklicherweise ein neues Vokabular, mit dem wir dieses Problem ansprechen können: Silencing, Mansplaining, Gender Speech Gap.
Sie haben erwähnt, dass die Stimme der Macht «weiss und männlich» klingt. Die Stimmen von Frauen sind also nicht die einzigen, die ausgegrenzt werden?
Ganz genau. Die Supreme-Court-Studie, die ich erwähnt habe, hat nicht nur gezeigt, dass Richterinnen allgemein sehr viel häufiger unterbrochen werden als Richter. Die einzige woman of color, Sonia Sotomayor, war davon noch stärker betroffen als ihre weisse, unterdessen verstorbene Kollegin Ruth Bader Ginsburg. Auch Stimmen von nicht weissen Männern werden marginalisiert. Frauen, die nicht von Rassismus betroffen sind, stehen diesbezüglich ebenfalls in der Verantwortung, erst einmal zuzuhören.
Wenn einem all diese Mechanismen bewusst sind – wie schafft man es, dem nächsten Mansplainer oder Unterbrecher an den Kopf zu werfen, dass er die Klappe halten soll?
(lacht) Wir schulden es niemandem, unsere Worte in Zuckerguss zu packen. Letzthin kam an der Universität ein männlicher Professor zu mir, um sich über eine Studentin zu beschweren. Diese habe pikiert reagiert, obwohl er es nur gut gemeint habe. Der «gut gemeinte» Rat: Er hatte sie darauf hingewiesen, dass ihre Stimme jung und unsicher klingt. Ein klassischer Fall von Mansplaining und Voice-Shaming. Ich überlegte mir zuerst, wie ich ihm das schonend beibringen kann, bin aber zum Schluss gekommen: Nein, er hat kein Recht darauf, in seinem Stolz nicht verletzt zu werden. Ich habe ihm dann erklärt, dass er sich daneben verhalten und die Studentin vollkommen angemessen reagiert hat.