Wahre Geschichte, gelegentlich
Die russische Kaiserin Katharina bietet verwundeten Soldaten Macarons an, die englische Königin Charlotte hat afrikanische Ahnen: Historische TV-Serien boomen auf allen Kanälen. Wie genau nehmen sie es mit den Fakten?
Von Karin Cerny, 09.02.2021
Am russischen Zarenhof kursieren pikante Karikaturen. Eine davon zeigt Katharina II. (1729–1796), wie sie Sex mit einem Pferd hat. «Ein absurdes Gerücht, das bald vergessen sein wird», sagt Elle Fanning dazu bloss, die in der US-amerikanischen TV-Serie «The Great» die junge Herrscherin verkörpert.
Aus historischer Distanz ist das natürlich ein blendender Scherz, den man sich da erlaubt hat. Eineinhalb Millionen Eintragungen findet man heute im Internet auf die Frage: Was lief da mit ihrem Pferd? Die Macht der Fake News von anno dazumal strahlt bis in die Gegenwart.
Katharina die Grosse herrschte 34 Jahre über Russland, stand für Aufklärung und Stabilität, machte das Land zu einer europäischen Grossmacht. Und wofür interessiert sich das Nachleben? Für ihr angeblich ausschweifendes Sexleben. Dabei zeigt die Forschung, dass pornografische Karikaturen im 18. Jahrhundert eine beliebte politische Taktik waren, um Mächtige zu diskreditieren.
Historische Serien boomen. Es ist verlockend, einen Blick in vergangene Epochen zu werfen und aktuelle Probleme wie Fake News bereits im 18. Jahrhundert zu entdecken. Natürlich stellt sich dabei aber auch die Frage: Wie gehen die Serien selbst mit Fakten um?
Wie viel darf man erfinden, wo beginnt die Geschichtsverfälschung?
Bei «The Great», einer der herausragenden Serien von 2020, heisst es bereits im Vorspann, sie sei occasionally true – eine gelegentlich auch wahre Geschichte also.
Die Kostümserie, die auf Hulu, Channel 4 und Amazon Prime läuft, erzählt zwar von den jungen Jahren der preussischen Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, später bekannt als Katharina die Grosse, von ihrer unglücklichen Ehe mit Zar Peter III. und ihren Putschplänen. Aber sie nimmt sich dabei so viele Freiheiten, dass nicht nur Geschichtslehrerinnen die Nase rümpfen.
Das beginnt schon bei der Ausstattung der US-amerikanischen Serie, die wenig Anstalten macht, russisch zu wirken. Nicholas Hoult als Zar Peter sieht aus wie ein Glamrock-Star und spielt beeindruckend selbstironisch ein masslos verzogenes Riesenbaby mit Killerinstinkt – während der echte Zar ausgesprochen hässlich gewesen sein soll. Aber auch mit der zeitlichen Abfolge nimmt man es nicht so genau, schliesslich geht es vor allem darum, Katharina als feministische Ikone des 18. Jahrhunderts zu etablieren.
Faszinierend an «The Great» ist der Wortwitz, aber auch die intellektuelle Schärfe, mit der das angestaubte Genre des Kostümdramas mit frischen Ideen versorgt wird. Die Pointen fliegen schneller als die Kugeln, mit denen da aus reiner Langeweile Hasen gejagt (und meist verfehlt) werden. Komik und Brutalität gehen dabei überraschende Symbiosen ein: Gerade wird noch ein Scherz gemacht, im nächsten Moment bezahlt jemand mit seinem Leben dafür.
«The Great» ist ein imposantes Sittenbild einer Epoche: Anstatt sich um Bildung und Aufklärung zu kümmern, zetteln die Mächtigen sinnlose Kriege an. In einer Szene fährt Katharina an die Front, watet im opulenten Kleid durch den Dreck, geht an Leichenbergen vorbei und bietet verwundeten Soldaten aus einer entzückend pastellfarbenen Schachtel Macarons an. Bloss: Die Finger der Verwundeten sind blutende Stummel. Sie können die luxuriösen Süssigkeiten gar nicht greifen. Eine surreale Szene, die sich in ihrer Drastik einprägt.
Mehr Gegenwart als Geschichte?
Historische Serien stehen unter Argumentationszwang. Warum nimmt man sich gerade dieses Stoffes an? Was hat die Story mit uns zu tun?
Nicht zufällig erinnert vieles in «The Great» an den bitterbösen Kinofilm «The Favourite – Intrigen und Irrsinn»: Dessen Drehbuch stammte von Deborah Davis und Tony McNamara, der auch bei «The Great» als Autor, Regisseur und Produzent zuständig war. Der 54-jährige Australier gilt mittlerweile als Experte, wenn es darum geht, historische Epochen möglichst nah an uns heranzuzoomen. Obwohl seine Serienvorlagen ungemein modern wirken, bleiben sie trotzdem faszinierend fremd, verstörend und grausam, ohne in oberflächliche Psychologisierungen zu verfallen.
«Wir überlegen immer zuerst: Was ist die zeitgenössische Frage?», hat McNamara der «New York Times» über seinen Zugang gesagt.
Ähnlich wie Science-Fiction oft dringliche Probleme der Gegenwart zuspitzt, sind auch Geschichtsdramen eine perfekte Projektionsfläche für politische und gesellschaftliche Themen, die aktuell brisant sind.
Nicht erst seit #MeToo boomen feministische Zugänge, Serien, die kämpferische Frauen zeigen, die aus klassischen Geschlechterrollen ausbrechen wollen. Gerade ist die zweite Staffel von «Dickinson» auf Apple TV Plus angelaufen: ein Porträt der Dichterin Emily Dickinson, die als weiblicher Hipster der 1850er-Jahre gezeichnet wird.
Bereits in der ersten Staffel schwärmte sie für den Tod, der als Rapper auftritt: «Sexy as hell», findet sie. Ihr düsterer Verehrer antwortet: «You’re such a weirdo!» Ein zeitgemässer Soundtrack mit Songs unter anderem von Billie Eilish sorgt auch in der aktuellen Staffel für die emotionale Untermauerung. «Dickinson» geht mit historischen Fakten im Grunde ziemlich korrekt um, nimmt sich aber zahlreiche Freiheiten, der Figur einen zeitgemässen Anstrich zu verpassen, die Poetin als Millennial ihrer Generation zu zeichnen. Man kann diesen popkulturell geschulten Ansatz als durchaus legitimes Mittel verstehen, einer jüngeren Generation historische Stoffe schmackhaft zu machen.
Es geht also selten allein um die historische Dimension – sondern auch, manchmal sogar in erster Linie, um drängende Gegenwartsfragen.
Wie divers Fernsehen und Kino sein muss, ist so eine Frage.
In «The Great» finden sich am russischen Zarenhof auch People of Color als Grafen und Hofdamen. Zugespitzt wird dieses diverse Casting in der viel diskutierten Netflix-Romanze «Bridgerton», die mit 63 Millionen zuschauenden Haushalten über die Weihnachtsfeiertage Rekordergebnisse erzielt hat.
Es ist kompliziert
Mit Feminismus punktet «Bridgerton» dabei nur bedingt, erzählt die Serie doch vom Heiratsmarkt im London der Regency-Zeit. Eine versnobte High Society trifft sich da auf opulenten Bällen, um eine elegante Brautschau abzuhalten: Die Töchter der Adeligen sollen ganz klassisch unter die Haube gebracht werden. Pikant wird die Geschichte, weil eine frühe Whistleblowerin, genannt Lady Whistledown, in regelmässigen Rundbriefen die Geheimnisse der gar nicht so feinen Gesellschaft ausplaudert. So weit, so banal.
Für Diskussionen hat «Bridgerton» aber weniger wegen seines durchaus klischeehaften Plots gesorgt, sondern eben aufgrund seiner innovativen Besetzung. Ganz selbstverständlich werden da Haupt- und zahlreiche Nebenrollen von People of Color gespielt, etwa der begehrte Junggeselle Duke of Hastings (Regé-Jean Page), für den alle Damen schwärmen. Königin Charlotte wird von der guyanisch-britischen Schauspielerin und Sängerin Golda Rosheuvel mit viel Witz und Bösartigkeit ausgestattet.
Das beisst sich mit dem dominanten Bild vom Londoner Adel anno 1813. Eine begrüssenswerte aufklärerische Irritation? Es ist kompliziert.
Produzent und showrunner Chris Van Dusen beruft sich auf historische Quellen, dass Königin Charlotte von Mecklenburg-Strelitz tatsächlich afrikanische Ahnen gehabt haben soll. Im Alter von nur 17 Jahren war sie bereits britische Regentin (und blieb es 57 Jahre lang, bis 1818).
«Wie hätte sie handeln können? Hätte sie andere People of Color in der Gesellschaft aufsteigen lassen können?», erklärt Van Dusen seinen fiktiven Ansatz für die Serie in einem Interview. Man habe zwar gemeinsam mit Historikerinnen am Set gearbeitet, um die Epoche und ihr strenges Regelwerk zu verstehen, aber letztlich sei es darum gegangen, dass ein modernes Publikum sich zu den Figuren am Bildschirm in Beziehung setzen könne.
Eine offenbar nicht allzu systematische Mischung aus historischer und gegenwartsbezogener Argumentation also.
«Bridgerton» jedenfalls musste aus den Reihen von People of Color Kritik einstecken: Die Hautfarbe auszublenden, sei ebenfalls eine Form von Rassismus. Indem man Ausgrenzung und Gewalt aus der Geschichte tilgt, übersieht man den alltäglichen Rassismus, der nach wie vor das Leben von vielen prägt. Ein heikles Terrain, auf dem sich die Serie da bewegt, zwischen rückwärtsgewandter Utopie und Geschichtsverleugnung.
Die Korrektur des Afrofuturismus
«Bridgerton» spielt auch mit Elementen des Afrofuturismus: ein künstlerischer Ansatz, der mithilfe von philosophischen Konzepten Zukunftsentwürfe gestaltet, aber auch historische Ereignisse aus der Vergangenheit neu befragt – beides mit dem Ziel, aus festgefahrenen Strukturen der dominanten Kulturgeschichte zu entkommen. Zu den bekanntesten Beispielen gehört der Film «Black Panther» (2018), der in der fiktiven, abgeschnittenen Metropole Birnin Zana im afrikanischen Land Wakanda spielt. Diese ist technisch überlegen – ihre Bewohnerinnen müssen der restlichen, unterentwickelten Welt helfen. Eine Umkehr der Machtstruktur, auch um gängige weisse Sehgewohnheiten zu hinterfragen.
Afrofuturismus kehrt die Rollen um. Gerade dadurch macht er sichtbar, wie sehr die Geschichte von den Gewinnern geschrieben wird – und dass diese stets aufs Neue revidiert und gegebenenfalls korrigiert werden muss. So waren zwischen 1860 und 1880 bis zu 25 Prozent der Cowboys, die die Rinderherden quer durch die USA trieben, People of Color. Die black cowboys waren berühmte Rodeoreiter, erst im Nachhinein wurden sie – auch popkulturell – aus der Historie des Wilden Westens gelöscht, um den Mythos des weissen amerikanischen Cowboys, samt seiner Verklärung von Freiheit und edler Männerfreundschaft, zu kreieren.
Zweites Beispiel: Der Engländer Johny Pitts schreibt in seinem Buch «Afropäisch» über die Harlem Hellfighters: ein US-Regiment, das zum Grossteil aus Afroamerikanern und Männern puerto-ricanischer Abstammung bestand und im Ersten Weltkrieg für die Befreiung Frankreichs gekämpft hat. Trotzdem durften sie bei der Siegerparade auf den Pariser Champs-Élysées nicht teilnehmen. Sie fehlen auf den historischen Aufnahmen – ein rassistisches PR-Manöver, das die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg mit den schwarzen Soldaten aus den französischen Kolonien wiederholten.
Vor diesem Hintergrund versteht man das Anliegen von TV-Serien, die antreten, historische Lücken zu schliessen und tabuisierte Kapitel der Geschichte erneut zur Diskussion zu stellen.
Gegen die Verdrängung
Unter anderen Vorzeichen thematisiert auch die britische Miniserie «It’s a Sin» eine notwendig gewordene historische Korrektur. In fünf Folgen (auf Channel 4, demnächst auch auf HBO) geht es um das offizielle Verleugnen der Aidskrise in den 1980er-Jahren in England. Als es aus den USA bereits beunruhigende Meldungen zu einer neuen Immunkrankheit gab, tat man diese auf doppelte Weise ab: einerseits unter dem diskriminierenden Label als «schwule Grippe»; andererseits als etwas, was angeblich weit, weit weg passiere.
Produzent Russell T. Davies, bekannt durch Serien wie «Queer as Folk» und «Doctor Who», zeigt, wie überfordert, aber auch brutal das Krankensystem mit den ersten Fällen umging. Man isolierte sie, stellte den alleingelassenen Patienten das Essen vor die Tür. Oder sie landeten bei ihren Eltern, die durch diese Erkrankung mitunter erstmals von der Homosexualität ihrer Söhne erfuhren. In der Statistik erschienen die Toten oft nicht als Aidskranke, sondern wurden nach den Symptomen, an denen sie verschieden waren, gelistet. Ein kollektives gesellschaftliches Verdrängen liess die Erkrankten und ihre Familien weitgehend im Stich.
Eine Stärke der Serie liegt nun darin, dass sie keine vorschnellen Bezüge zur aktuellen Corona-Pandemie zieht, sondern eine spezifische historische Verankerung sucht.
Trotz des belastenden Themas setzt «It’s a Sin» auf jede Menge Humor und Solidarität innerhalb der Gay-Community (und auf einen mitreissenden Soundtrack). Ästhetisch verzichtet man auf Kostümexzesse: Man zeigt tragbare, unaufgeregte Alltagskleidung, schliesslich hat in den 1980ern auch nicht jeder wie in der opulenten TV-Serie «Der Denver-Clan» ausgesehen.
«It’s a Sin» kommt aber nicht ganz weder an gängigen Klischees noch an pädagogisch allzu forcierten Botschaften vorbei. So stirbt – Achtung, Spoiler! – die sexuell am wenigsten aktive Figur als erste, wohl um zu zeigen, dass es jeden treffen kann. Und ausgerechnet über die weibliche Hauptfigur, die als frühe Aids-Aktivistin ihren Freunden stets zur Seite steht, erfährt man so gut wie gar nichts Privates. Gegen Ende verliert die Serie auch ein wenig das Gesamtbild aus den Augen, vertieft sich zu sehr in Familiengeschichten. Dabei würde man doch gern mehr über die homophobe Politik von Premierministerin Margaret Thatcher erfahren, die nur einmal kurz von hinten zu sehen ist.
Andererseits: Es ist sicher gut, dass «It’s a Sin» einen anderen Weg geht als der promibesessene Netflix-Bestseller «The Crown», dessen letzte Staffel völlig zu Recht viel Kritik für ihren Umgang mit der (jüngeren) Geschichte einstecken musste.
Natürlich kämpfen historische Serien immer damit, dass sie umstrittener werden, je näher sie an unsere Gegenwart und unseren Kenntnisstand heranrücken. Wer weiss schon, wie ein Zar gelebt hat? Viele von uns waren aber Zeitzeugen, als Prinzessin Diana und Prinz Charles geheiratet und sich danach ein veritables Ehedrama vor den Medien geliefert haben.
«The Crown» reinszeniert Diana (in der 4. Staffel famos gespielt von Emma Corrin) aber einmal mehr bloss als Opfer einer verknöcherten Palast-Etikette. Charles ist nicht der Playboy und Sportler, der er in jungen Jahren durchaus war, sondern ein früh gebückter Intellektueller. Und Gillian Anderson verkörpert Margaret Thatcher als blosse Karikatur. Irgendwie beschleicht einen dabei das ungute Gefühl: Geschichte ist komplexer, vielfältiger und überraschender, als uns diese Serie weismachen will.
Dabei sind solche voyeuristischen Schlüsselloch-Perspektiven gar nicht nötig, wie zahlreiche andere Serien beweisen. Als Geschichtsstunde taugen Serien nur bedingt, sie sind aber ideal dazu geeignet, unser Geschichtsverständnis zu hinterfragen und herauszufordern. Auch wenn die Fakten nicht zur Gänze stimmen, erfährt man dabei unter Umständen mehr über sich selbst, als einem lieb ist.
Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kulturpolitik im Wochenmagazin «Profil» sowie Reise- und Modegeschichten für «Rondo», die Beilage der Tageszeitung «Der Standard». Für die Republik schrieb sie zuletzt über die Wiederentdeckung der Surrealistinnen.