Entspannt in die Barbarei
Esoterik bildet einen Nährboden für faschistisches Denken, sagt die Soziologin Jutta Ditfurth. Und erklärt, warum Hippies an Anti-Corona-Demos neben Neonazis laufen, Verschwörungsliteratur in Esoterikläden verkauft wird und manche Grüne mit Sozialdarwinismus auf die Pandemie reagieren. Serie «Eyes Wide Shut», Folge 7.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Matthieu Bourel (Illustration/Animation), 27.01.2021
Sie decken sich gerne im Bioladen mit Demeter-Produkten ein? Sie wählen die Grüne Partei, aber eigentlich finden Sie Politik doof und bewirken lieber im kleinen Rahmen was? Spiritualität kommt Ihnen in dieser materialistischen Gesellschaft zu kurz? Bei 5G haben Sie irgendwie ein schlechtes Gefühl? Sie finden alle Religionen doof ausser den Buddhismus? Ein Daniele-Ganser-Vortrag, an den Sie eine Freundin aus dem autogenen Training mitgenommen hat, hat Ihnen die Augen für geopolitische Zusammenhänge geöffnet? «Sieben Jahre in Tibet» ist Ihr Lieblingsfilm? Ihre Partnerin haben Sie an einem Meditations-Intensivworkshop kennengelernt? Ihr Kind wäre letztes Jahr fast an einer Angina gestorben, weil Sie ihm erst Antibiotika gaben, als der Arzt Ihnen klarmachte, dass die Entzündung bald aufs Herz schlage? Masernimpfung für das Kind? Da sagen Sie: Nein, danke?
Die Professionalisierung der Grünen, ihre langjährige Regierungstätigkeit, hat auch dazu geführt, dass ein Teil des grünen Milieus sich von dieser Partei nicht mehr repräsentiert fühlt. Vor allem ist das der anthroposophisch-esoterische Teil des grünen Milieus, Menschen also, die der modernen Industriegesellschaft und der Wissenschaftsgläubigkeit kritisch gegenüberstehen.
Nun, wir haben es immer noch nicht wirklich verstanden: ein Kantonsrat und Ex-Grüner, der glaubt, dass man uns Chips implantieren will? Die Betreiberin eines Veganladens in Winterthur, deren Geschäft von der Polizei geschlossen wird, weil sie sich weigert, die Maskenpflicht umzusetzen? Menschen, die wie Hippies aussehen, die neben Neonazis marschieren, um gegen die Corona-Massnahmen der Regierung zu demonstrieren, die mit Tänzen und Kristallen und Liebe das Virus besiegen wollen? Und warum stiessen wir bei unserem Besuch in einem Zürcher Esoterikladen unmittelbar auf rechtsradikale Verschwörungsliteratur? Wie kommt das alles zusammen?
Wieso ist Verschwörungsglaube während der Pandemie plötzlich allgegenwärtig? Woher kommt er, wie wirkt er, was richtet er an? Zum Auftakt der Serie.
Anruf bei Jo Lang, Historiker, grüner Politiker, GSoA-Mitgründer. Ein Mann, der im Übrigen am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, wenn man in diesem Land nicht mehr frei sprechen kann, wie es die lautstarken Gegner der Corona-Massnahmen um Andreas Thiel für sich heute in Anspruch nehmen: 1981 wurde der Sozialist Lang, ein Lehrer, wegen seiner Kritik am Rohstoffhandelsplatz Zug von der dortigen Kantonsschule mit einem Berufsverbot belegt (weswegen er seit 1982 an der Baugewerblichen Berufsschule Zürich unterrichtete – erst 1996 entschuldigte sich der Zuger Regierungsrat bei Lang für das Berufsverbot).
In der Anti-Atom-Bewegung, wo er sich neben dem Kampf gegen die Schweizer Armee ebenfalls engagiert hat, habe es immer einen Flügel gegeben, der esoterisch war, sagt Lang. «Das hattest du ja auch schon vorher bei den Hippies: Leute mit esoterischer Grundströmung, was ich primär für harmlos hielt. Diese Leute waren nicht bereit für ein weiterführendes Engagement in der Politik, sie zogen sich zurück aufs Land.»
In den Sechziger- und den Siebzigerjahren sei in der Linken ein wissenschaftskritisches Denken aufgekommen, das sich gegen einen «nackten Quantifizierungswahn» und einen «fast fundamentalistischen Glauben an die Naturwissenschaften» richtete. Diese Kritik, auch gegen die Schulmedizin, habe er bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen können. Allerdings sei sie bei gewissen Strömungen in eine Gegenaufklärung und einen Antirationalismus gekippt.
Als Gegenbewegung habe sich dort eine Art Naturvergötterung mit antihumanistischen Zügen breitgemacht. «Es gab Grüne, die die Natur in den Mittelpunkt stellten, die der Natur den Menschen als Feind gegenüberstellten und dabei für die Natur Partei ergriffen», sagt Lang. «Sie sagten: Die Natur steht über dem Menschen. Bei diesem Denken ist man sehr schnell im Bräunlichen drin, im Antihumanismus. Man sagt: Die Natur überlebt auch uns Menschen. Ihre Gesetze sind das Einzige, was zählt. In dieser Anschauung sehe ich die Kontinuität zu den heutigen Impfgegnern und den Menschen, die gegen die Corona-Massnahmen demonstrieren. Sie sagen: Überlassen wir die Entscheidung der Natur. Aber das ist sozialdarwinistisch. Wer stark ist, überlebt.»
Es habe ihn nicht weiter erstaunt, dass grüne Exponenten aus der damaligen Zeit an den Protesten gegen die Corona-Massnahmen aufgetaucht seien, sagt der Historiker.
Anders als in Deutschland aber seien in der Schweiz sowohl in der Anti-Atom-Bewegung wie auch in der frühen grünen Bewegung diese Flügel nie stark gewesen. So habe in der Schweiz zum Beispiel der pazifistische Protest gegen die Armee immer automatisch bedeutet, dass man antinationalistisch sei, was gegen den Versuch der Vereinnahmung durch ökologische rechte Strömungen geholfen habe. «In Deutschland konnte man durchaus gegen die Armee und nationalistisch sein, weil die Bundeswehr dort keine Rolle spielte und sich die Kritik in erster Linie gegen die Nato richtete, also letztlich einfach antiamerikanisch sein konnte», sagt Lang.
Wir recherchieren weiter und stossen auf die Werke der Frankfurter Soziologin Jutta Ditfurth, die Anfang der Achtziger die Grüne Partei Deutschlands mitgegründet hatte, jahrelang deren Bundesvorsitzende war und die Partei schliesslich 1991 aufgrund von Flügelkämpfen verliess.
Unser besonderes Interesse weckt ihr Buch «Feuer in die Herzen». Sowie «Entspannt in die Barbarei», in dem Ditfurth konstatiert, dass inzwischen jedes dritte Buch, das in Deutschland verkauft werde, aus dem Bereich der Esoterik stamme; und dann schleudert sie uns die auf den ersten Blick harte These entgegen, Esoterik sei menschenfeindlich, antisozial, antiemanzipatorisch und in der Summe faschistisch. Esoterik sei in ihrem Wesen elitär und helfe, den Menschen jeden emanzipatorischen Gedanken auszutreiben.
Für ihr Buch «Feuer in die Herzen» von 1992, das nach Erscheinen zum Bestseller avancierte, analysierte Ditfurth Schriften von Rudolf Steiner und gelangte zur Überzeugung, dass es eine direkte Linie von Rudolf Steiner zur rassistischen Ideologie der weissen Vorherrschaft gibt.
Ditfurth verweist in ihrem Buch auf eine Theorie Steiners von sogenannten «Wurzelrassen», in die er Menschen unterteilt. Eine Anti-Evolutionslehre, in der sich Steiner, so Ditfurth, auf die Okkultistin Helena Blavatsky und deren «Geheimlehre» abstützt, bei der es um einen «Decimierungsvorgang» geht, der auf der Welt stattfinde, und zwar «unter jenen Rassen, deren Zeit um ist», deren «Verlöschen» nicht etwa in Zusammenhang stehe mit «von den Kolonisten verübten Grausamkeiten», sondern «eine karmische Notwendigkeit» sei: «Rothäute, Eskimos, Papuas, Australier, Polynesier» würden alle aussterben, «die Flutwelle der inkarnierten Egos ist über sie hinweggerollt». Ditfurth zitiert in dem Buch auch Alice Ann Bailey, eine Anhängerin Rudolf Steiners, die die Ermordung von sechs Millionen Juden als «Feuer der Reinigung» bezeichnete.
An den Lesungen, so erfahren wir, kam es zu Tumulten empörter Anthroposophen, die das alles auf gar keinen Fall hören wollten, und in der Bahn wurde die Soziologin von «wildfremden Männern im Anzug» beschimpft und bedroht.
Anruf in Frankfurt.
Wir fragen Jutta Ditfurth, Soziologin und Expertin für das Grüne, das Esoterische und für deutsche Verhältnisse, ob es sie eigentlich überrascht, dass in der Schweiz ein grüner Kantonsrat Corona vermutlich für eine Erfindung hält; und dass hier wie dort Esoteriker einen erheblichen Teil der Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen ausmachten, und Ditfurth sagt: «Nein, das überrascht mich alles überhaupt nicht.»
«Die Corona-Leugner-Szene in Deutschland ist massiv unterstützt und mitgetragen von der anthroposophischen Szene, die auch ein wesentlicher Bestandteil der Gründungsgeneration der Grünen war», sagt Ditfurth. «Die anthroposophischen Gesellschaften, die Waldorfschulen, die Rudolf-Steiner-Schulen sind einerseits vorsichtig, weil sie Geld vom Staat kriegen wollen. Was in Deutschland massiv der Fall ist. Andererseits stellen sie einen erheblichen Teil dessen, was ich als Corona-Querfront bezeichne. Man findet viele Anti-Corona-Kundgebungen in Deutschland in den letzten Monaten, wo Waldorflehrer Reden gehalten haben. Im süddeutschen Raum sind Anthroposophen sogar die massgeblichen Organisatoren der Kundgebungen. Sie treten dabei nicht offen auf und sagen: Ich bin Anthroposoph. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man: Ach, schon wieder ein Waldorflehrer. Das ist das irrationale bürgerliche Fleisch der Corona-Querfront. Diese Leute, viele von ihnen Impfgegner, stören sich ganz offensichtlich nicht an den Nazis, die da mitlaufen. Man marschiert ja angeblich für einen gemeinsamen, guten Zweck.»
Wir erinnern uns an einen Aufschrei in der Schweiz, als im Frühjahr 2018 in Basel der Paracelsus-Zweig, eine Gruppierung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, verschiedene Verschwörungstheoretiker eingeladen hatte, darunter Daniele Ganser, Ken Jebsen oder Elias Davidsson. Die Zeitungen titelten unter anderem, Verschwörungstheoretiker hätten die Steiner-Bewegung gekapert, was uns schon damals ein bisschen seltsam erschien – immerhin hatten die Anthroposophen die Veranstaltung ja selbst organisiert, zudem waren Daniele Ganser wie auch Ken Jebsen ehemalige Steiner- beziehungsweise Waldorfschüler.
Als wir heute auf der Website des Basler Paracelsus-Zweigs surfen, stossen wir bereits auf der Startseite auf «einige Gedanken in Zeiten des Corona-Virus», in denen von den «karmischen Ursachen» von Epidemien die Rede ist. So erfahren wir in einer Stellungnahme des Stiftungsvorstandes, dass die eigentliche Ursache von Lepra die Angst vor den Hunnen gewesen sei: «Die richtige Reaktion wäre gewesen, dass man den Hunnen mit Mut und Liebe begegnet wäre.»
Ein Zitat von Rudolf Steiner verdeutlicht uns, wie die Lungentuberkulose entstanden sei: «In den letzten Jahrhunderten entwickelte sich bei unserer europäischen Bevölkerung durch die technischen Fortschritte ein Industrieproletariat, und mit demselben hat sich eine Unsumme von Rassenhass und Standeshass gebildet. Die sitzen im Astralleib des Menschen und wirken sich physisch aus als Lungentuberkulose.» Daran erkenne man, und damit wird der Bogen zu Covid-19 gespannt, dass es «für Epidemien auch geistige, seelische oder karmische Ursachen» gebe. «Jetzt spüren viele: die Welt hat eine Art kollektives Burn-out erlebt. Wir müssen uns hinterfragen …», schreibt der Vorstand.
Offenbar kommt an den Corona-Demonstrationen zusammen, was zusammengehört. Dieses Bild zeichnet Jutta Ditfurth im Gespräch: «Verschwörungsideologie und Esoterik haben viele Gemeinsamkeiten.»
«Esoterik ist definiert als eine Geheimlehre, eine Geheimlehre, die nur besonders befähigten, erleuchteten Gestalten in ihrem Kern zugänglich ist. Als Geheimlehre ist sie per Eigendefinition das Gegenteil von Aufklärung. Esoterik ist eine Lehre, die sich nach innen richtet und das Geistige sucht. Es ist eine Lehre, die dem Geistigen besondere Kraft zuspricht und die Materie und das soziale Sein der Menschen nicht akzeptieren will.»
Deswegen sei es typisch für Esoterikerinnen, aber auch Verschwörungsideologen, dass sie sich nicht mit den ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft befassen. «Dass sie sich nicht mit den Ursachen von Armut befassen. Dass sie sich nicht damit befassen, dass Menschen soziale Wesen sind, die andere Menschen brauchen. Sie überlegen sich auch nicht, wie eine Gesellschaft gestaltet sein könnte, dass die Menschen ihre Fähigkeiten entfalten und glücklich miteinander leben.»
Stattdessen gebe es immer den Verweis auf Karma, Reinkarnation, auf höhere Ordnungen. «Es ist immer hierarchisch und auf eine imaginäre Form von Jenseits gerichtet», sagt die Soziologin. «Weg von der in einer Gesellschaft notwendigen sozialen Auseinandersetzung für bessere Lebenszustände.»
In der Esoterik gelte: «Transformiere soziale Probleme ins nächste Leben, auf eine höhere Ebene, auf eine Wolke. Akzeptiere, dass es Eliten gibt, dass es eine gesellschaftliche Ordnung gibt mit Oben und Unten. Akzeptiere, dass es Menschen gibt, die einen grösseren Anschluss an ein geheimes Wissen haben. Und wenn du an all das glaubst, wenn du diese Regeln erfüllst, dann wird dein Leben mit Erfolg gekrönt sein. Esoterik und Verschwörungsideologien überschneiden sich darin, dass sie keinen realistischen Bezug zur Welt haben. Dass man imaginären Zuständen, Geistern, Eliten alle mögliche Kraft zuspricht, die man selber nicht hat.»
«In diesem Geheimen und diesem grossen Anteil von Irrationalismus, dem Wegschieben eigener Verantwortung für soziale Gemeinschaften, liegt eine grosse Verbindung zwischen Esoterik und Verschwörungsideologie», sagt Ditfurth.
Sie erzählt, wie sie einen regelrechten Kampf gegen solche Strömungen in der eigenen Partei geführt habe, und wir fragen sie, wie das denn heute aussehe bei den Grünen. Schliesslich sind wir grosse Fans des Co-Parteivorsitzenden Robert Habeck: Niemand hat die Ära der Postpolitik so stilvoll eingeläutet wie er. Niemand hat die Kunst, schöngeistige Reden ohne Inhalt zu halten, so perfektioniert wie er. Aber wie ein Esoteriker sieht er für uns dann doch nicht aus.
«Ich könnte jetzt viel erzählen, aber ich will euch nicht zu Tode quatschen», sagt Ditfurth.
«In der Grünen Partei schwelt ein Konflikt um Homöopathie. Homöopathie und Esoterik, das hängt ja eng zusammen. Der Bundesvorstand weiss sehr genau, dass ein grosser Teil der grünen Basis, vor allem in den südlichen Bundesländern, auch auf Funktionärsebene, Anthroposophen sind, die der Homöopathie anhängen. Hinter den Kulissen tobte ein starker Konflikt, den die Parteispitze in der Öffentlichkeit herunterspielte. Am Schluss formulierten sie ein völlig verquarktes, unzureichendes Papier, nur um nicht entscheiden zu müssen. So stark ist der Einfluss nicht nur von Anthroposophen, sondern auch von anderen Esoterikern und Homöopathie-Anhängern innerhalb der Grünen Partei immer noch. Das wird komischerweise kaum wahrgenommen.»
Das hänge vermutlich damit zusammen, sagt die Soziologin, dass viele Medien in Deutschland keinen Begriff von Esoterik oder Irrationalismus hätten und deswegen gar nicht in der Lage seien, die jetzige «Corona-Querfront» zu analysieren. Oder die Codes zu lesen. Denn jede erfolgreiche Verschwörungsideologie laufe letztlich auf dasselbe hinaus.
«Welche Codes?», fragen wir Jutta Ditfurth.
«Kürzlich gab es in Berlin eine Demonstration gegen die Corona-Massnahmen, und die Medien waren nicht in der Lage, zu identifizieren, wie viel Antisemitismus in verbalen, zeichnerischen und geschrieben Codes zu hören und auf Transparenten und Plakaten zu sehen waren», sagt die Soziologin.
«Die Medien sind nicht in der Lage, es zu lesen, weil sie sich noch immer nicht damit beschäftigt haben.»
Der Paracelsus-Zweig ist Teil der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, nicht der Allgemeinen Anthropologischen Gesellschaft, wie wir in einer früheren Version geschrieben haben. Wir bitten für den Fehler um Entschuldigung.