«Gibt es etwas Schlimmeres als die Abschaffung der Unschuldsvermutung?»
Es wurde bereits totgeschrieben, doch im letzten Moment scheint das Referendum gegen die neuen «Antiterrorgesetze» zustande zu kommen. Ein Treffen mit der 27-jährigen Juristin Sanija Ameti, die den Widerstand gegen das Gesetz anführt.
Von Daniel Ryser (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 07.01.2021
Sie trägt bei einem unserer Treffen einen Pullover mit der Aufschrift «Neuromancer», dem Cyberpunk-Roman von William Gibson, der den Begriff der Matrix geprägt hat. Sie doktoriert an der Universität Bern zur Frage, was es bedeutet, wenn Staaten im Bereich der Cyber-Defence Aktivitäten an private Sicherheitsfirmen auslagern. Und damit sind wir schon mitten im Thema: beim neuen Gesetz, das sich Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus nennt, oder kurz: PMT.
Sanija Ameti, 27, aus Zürich, sagt, es sei völlig unklar, wer rechtlich schliesslich verantwortlich sei, wenn ein Algorithmus jemanden zum Gefährder erkläre. Wenn die Polizei die Person ohne vorangehende richterliche Prüfung mit administrativen Massnahmen belege, etwa einem Ausreiseverbot, und sich dann herausstelle, dass sich der Algorithmus geirrt hat. Oder der Polizist. Oder der eine des anderen wegen.
Willkommen in der schönen neuen Welt des PMT: Bald sprechen wir über ein anderes Science-Fiction-Meisterwerk, die Kurzgeschichte «The Minority Report» von Philip K. Dick aus dem Jahr 1956, über sogenannte «Precogs», Polizisten mit hellseherischen Fähigkeiten. In dem von Steven Spielberg verfilmten Stoff werden angebliche zukünftige Mörder verhaftet und für immer verwahrt, weil Hellseher-Cops die Tat, das Opfer und den Tatzeitpunkt voraussehen. Irrtümer selbstverständlich vorbehalten, sogenannte Falsch-Positive, wie es in der Geschichte heisst, Kollateralschäden im Namen der Sicherheit, die für immer in Verwahrung verschwinden, Menschen, die bestraft werden für Dinge, die noch gar nicht passiert sind.
«Es ist besser, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird»: Das hat Sir William Blackstone gesagt, englischer Jurist, Richter, Professor und Parlamentarier im 18. Jahrhundert. Karin Keller-Sutter, Justizministerin der Schweiz, verantwortlich für das PMT, sieht das für das 21. Jahrhundert offensichtlich anders.
Ein Verdacht genügt
Im neuen Schweizer Gesetz, dem das Parlament letzten Herbst zugestimmt hat, heissen Menschen, die bestraft werden sollen, weil die Behörden überzeugt sind, dass sie eine schlimme Tat begehen könnten, «Gefährder»: Personen, die nach dem Gesetz unschuldig sind und gegen die auch kein konkreter Tatverdacht vorliegt, von denen aber das Bundesamt für Polizei (Fedpol) davon ausgeht, sie könnten gefährlich werden. Solche Menschen können bis zu 9 Monate unter Hausarrest gestellt werden. Sie werden mit Freiheitsentzug bestraft, ohne dass sie gegen das Strafrecht verstossen haben. Das PMT erlaubt es zudem, eine Meldepflicht, ein Rayon- und ein Ausreiseverbot zu verordnen, und zwar bereits für 12-Jährige.
Diese Massnahmen werden, das Wort «Gefährder» enthält es letztlich, auf blossen Verdacht angeordnet – und zwar nicht von einem Gericht, sondern von der Polizei selbst.
Der Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin hat auf Twitter den Gang nach Strassburg bereits angekündigt, sollte das Gesetz tatsächlich Realität werden, weil es mit Sicherheit gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstosse.
Mit dem Begriff des «Gefährders» werde ein rechtlicher Zwischenraum geschaffen, aus dem man als Betroffener mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr herausfinde, weil die Garantien des Strafprozesses nicht greifen würden, sagt Sanija Ameti.
Dem Strafrecht vorgelagert, Menschen in permanenter Schwebe: Die Republik deckte den Fall eines Quasi-PMT-Testlaufs auf, bei dem der irakische Flüchtling Sami A. aufgrund intransparenter Angaben aus dem Bundesamt für Polizei massive Massnahmen und alltägliche Schikanen erdulden musste, weil er – ohne jeglichen Beweis – «gefährlich» sei, ein Zustand, aus dem er nicht mehr herausfand, der ihn menschlich zermürbte.
Abgesehen davon, dass es höchst problematisch sei, dass der Staat zum Hellseher werde, sagt Juristin Ameti, komme hinzu, und das sei in ihren Augen das Problematischste am ganzen Gesetz, dass die Definition von «Terrorismus» völlig verwässert werde und damit auch die Definition, wer in Zukunft in diesem Land alles ein «Gefährder» sein könne.
Das ist demokratietechnisch politischer Zündstoff.
Die Allmacht des Staats
Bis jetzt habe man quasi wortwörtlich eine Bombe zünden oder eine solche Tat vorbereiten müssen, eine schwere Straftat begehen müssen, um in der Schweiz als Terrorist zu gelten, sagt Ameti. Mit dem neuen Gesetz genüge es, sich die falschen Internetseiten anzuschauen, oder es reiche, wie es im Gesetz heisst, wenn man die staatliche Ordnung durch «Furcht und Schrecken» beeinflussen wolle – so steht das da wirklich –, und was immer das heisse. Sei man eine Gefährderin, zum Beispiel, wenn man vor dem Klimawandel warne? «Das neue Gesetz macht das juristisch möglich», sagt sie. «Furcht und Schrecken verbreiten: Das kann letztlich, wenn eine Polizeibehörde will, jeder Tweet von mir sein. Geschweige denn Interviews mit Christoph Blocher. Rechtsstaat heisst nicht, dass wir darauf hoffen müssen, dass die Polizei das dann schon mit Augenmass auslegen wird.»
Und das sei der entscheidende Punkt gewesen, warum sie als Teil des Komitees «Nein zum Willkürparagraph» das Referendum ergriffen habe: mit dem Chaos Computer Club, den Jungen Grünliberalen, den Juso, den Jungen Grünen, Sektionen der Jungfreisinnigen und der Piratenpartei.
«Ein Rechtsstaat definiert sich über klare rechtliche Grundlagen», sagt Ameti. «Man gibt dem Staat einen Rahmen, der klar abgesteckt ist. Die Menschen wissen: Alles, was nicht innerhalb dieses Rahmens passiert, verletzt unsere Freiheit. Dieses Gesetz verwässert diesen Rahmen und gibt dem Staat eine gewisse Allmacht. Man weiss nicht mehr, wenn man dieses Gesetz liest, wann der Staat in unsere persönliche Freiheit eingreifen kann und wann nicht.»
In der Botschaft des Bundesrats sei im Parlament fälschlicherweise behauptet worden, das Gesetz sei unproblematisch, es übernehme ja die bestehende Definition von Terrorismus aus dem Nachrichtendienstgesetz. «Diese Behauptung ist falsch», sagt die Juristin. «Im neuen Gesetz fehlt ein ganzer, absolut entscheidender Absatz, nämlich jener Absatz aus dem Nachrichtendienstgesetz, der die Definition von Terrorismus eingrenzt auf die Gefährdung von Leib und Leben und der persönlichen Freiheit von anderen und auf die Gefährdung des Funktionierens des Staates, auf schwere Straftaten letztlich.»
Das neue Gesetz hebe diese Beschränkung auf, sagt Ameti. Ein Umstand, der tatsächlich bereits vor der Parlamentsdebatte im September zu einem offenen Brief von 51 Rechtsprofessorinnen geführt hatte, die aufgrund «der unpräzisen Definition» und der «unzulänglichen richterlichen Kontrolle» das Parlament dringend dazu aufriefen, das Gesetz abzulehnen.
Diese neue Definition des Begriffs Terrorismus versetzt Rechtsexperten auf der ganzen Welt seit längerem in Unruhe.
Und sie könnte jeden und jede betreffen, die in diesem Land politisch aktiv ist oder Kinder oder Verwandte oder Freundinnen hat, die politisch aktiv sind, oder jeden, der sich selbst auf den sozialen Netzwerken nicht immer im Griff hat oder sich seltsame Dinge auf Youtube ansieht, und jede Journalistin in diesem Land. Sie alle täten gut daran, das Gesetz genau zu lesen.
So, wie es Fionnuala Ní Aoláin tat, die Uno-Sonderberichterstatterin für den Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten bei der Terrorismusbekämpfung. Die renommierte irische Rechtsprofessorin war entsetzt, als sie den Schweizer Gesetzesentwurf las. Im Gespräch mit der Republik sagte sie: Diese Definition des Begriffs Terrorismus, die in der Schweiz neu zur Anwendung kommen solle, werde bisher einzig von autoritären Staaten verwendet, und zwar, um Oppositionelle und Journalistinnen zu verfolgen.
«Terrorismus soll in der Schweiz tatsächlich nicht mehr gekoppelt sein an eine schwere Straftat», sagte die Uno-Sonderberichterstatterin damals vor der Abstimmung im Nationalrat im Interview. «Neu ist die Rede von Gefährdern, von potenziellen Terroristen. Allein die Sprache des Textes sagt es schon: Es geht nicht mehr um eine terroristische Handlung, sondern um eine potenzielle Gefahr. Gefährder ist ein vager Begriff. Rechtlich ist das hochproblematisch, weil es Missbrauch Tür und Tor öffnet. Umso mehr, weil das Schweizer Gesetz zudem vorsieht, dass diese potenzielle Gefährdung nicht von einem Gericht beurteilt werden soll, sondern von der Bundespolizei. Stellen Sie sich vor, was das in einem autoritären Staat bedeutet. Und das alles ist dann auch noch gekoppelt an administrative Massnahmen, die selbst Kinder treffen können. Massnahmen, die ihre Bewegungsfreiheit massiv einschränken können, obwohl sie keine Straftat begangen haben.»
Diese Science-Fiction von unklarem rechtlichem Rahmen, von Polizisten, die in die Zukunft schauen und Menschen für Dinge bestrafen, die sie womöglich gar nie begangen hätten, von Gesetzen, die es ermöglichen, Journalisten und politische Aktivistinnen zu verfolgen, ist schliesslich trotz zahlreicher mahnender Worte im Herbst 2020 in der Schweiz wahr geworden, als eine bürgerliche Mehrheit im Parlament das Gesetz angenommen hat.
Nur ein Satz von Karin Keller-Sutter
Patrick Walder, der Kampagnenleiter von Amnesty International, hatte monatelang gegen die Gesetzesverschärfungen lobbyiert. «Diese Vorlagen schaffen nicht mehr Sicherheit, sie schwächen vielmehr unseren Rechtsstaat und die Grundrechte», hatte er vor der Abstimmung gesagt. «Parlamentarier sollten die Kritik von Fachpersonen aus dem In- und Ausland ernst nehmen und Nein stimmen. Oder zumindest mit einer Enthaltung eingestehen, dass bei diesen Vorlagen noch zu viele Fragen offen sind.»
Terres des Hommes Schweiz publizierte Anfang Oktober 2020 eine Stellungnahme, wonach die Schweiz angesichts eines weltweit wachsenden Trends der Beteiligung von Kindern an terroristischen Straftaten diese Kinder mit der Negierung eines angemessenen Justizsystems regelrecht verrate. Das neue Gesetz stehe in erschreckendem Widerspruch zur Uno-Kinderrechtskonvention und missachte den doppelten Status von Kindern als Opfer und Täter, und zwar unter der besonderen Berücksichtigung des Status von Kindern als Opfer – und eben nicht als Täter, wie es die Schweiz will. Das Mindestalter für die strafrechtliche Verantwortlichkeit sollte, so Terre des Hommes, vorzugsweise auf 15 oder 16 Jahre festgelegt werden, «aber auf keinen Fall unter 14 Jahren».
Auf diese massive Kritik ging FDP-Bundesrätin und Justizministerin Karin Keller-Sutter während der Debatte im Nationalrat mit einem Satz ein.
Ein Satz.
Die St. Gallerin sagte: «Es ist bekannt, dass auch schon 12-Jährige sich radikalisieren können.»
CVP, FDP und SVP fanden das auch und stimmten Ja.
Von linker und grünliberaler Seite gab es im Parlament massive Kritik an dem Gesetz mit Verweis auf die Bedenken all der Rechtsexperten in der Schweiz und im Ausland. Es half nicht.
Lange wollte niemand das Referendum ergreifen, was diverse linke Nationalrätinnen frustrierte. Es schien, als sei die linke Ratsseite vom Abstimmungsergebnis regelrecht paralysiert. Und womöglich war man auch der Meinung, dass man ein Referendum nur verlieren könne, wenn es als rein linkes Projekt wahrgenommen werde. Und dass eine deutliche Zustimmung dem fragwürdigen Gesetz noch mehr Legitimation geben würde.
Dann kam Sanija Ameti, ohne derartige strategische Gedanken.
Juristisch ein Profi, ist das Mitglied der Geschäftsleitung der Jungen Grünliberalen politisch noch unerfahren. Wie die meisten, mit denen sie das Referendum ergriff. Und das war dann womöglich entscheidend.
Denn was in den letzten Wochen passierte, wird den Abstimmungskampf, wenn das Referendum nun auf den letzten Metern doch noch zustande kommt, womöglich ziemlich interessant machen: Es wurde klar, dass es eben gar kein rein linkes Projekt ist, wie das bei Grundrechtsfragen letztlich häufig der Fall ist. Es wurde angestossen von den Grünliberalen, unterstützt von kantonalen Sektionen der Jungfreisinnigen, dem Chaos Computer Club, dann bald medienwirksam von der Operation Libero, von Anfang an mitgetragen von den jungen Linksparteien Juso und Junge Grüne. Schliesslich, quasi in letzter Minute, begannen auch die Grünen und die SP Referendumsbögen zu verschicken und sammelten Tausende Unterschriften.
Die Pandemie als Einschränkung der Demokratie
Eigentlich hatte das Referendum keine Chance: Denn wie soll man, abgesehen von Aufrufen im Internet und vom Postversand, für ein Referendum sammeln, wenn der Bund in einem demokratietechnisch höchst fragwürdigen Spagat einerseits dazu aufruft, zu Hause zu bleiben, und gleichzeitig die Sammelfrist für ein nationales Referendum nicht sistiert?
«Das ist tatsächlich eine unmögliche Situation», sagt Sanija Ameti. «Wir müssten dringend auf die Strasse, um die Leute anzusprechen, zu überzeugen, aber das können und wollen wir ja auch nicht.»
Und damit wurde es dann richtig schön schräg: Wer sammelt auf der Strasse während einer Pandemie? Exakt: jene, die nicht an sie glauben.
Die sogenannten «Freunde der Verfassung», die in kurzer Zeit das Referendum gegen das Covid-Gesetz mit 70’000 Unterschriften zustande gebracht hatten, engagierten sich plötzlich auch für das Referendum.
Noch im Sommer hatte die Republik den Verschwörungstheoretiker Daniel Stricker, der einen Youtube-Kanal namens «Stricker-TV» unterhält, in einem Telefongespräch gefragt, warum er in den Masken, die uns vor einem Virus schützen sollen, eine Gefahr für die Demokratie sehe, aber nicht im PMT. Da hatte er noch nichts zum Thema zu sagen. Zu sehr schien er damit beschäftigt zu sein, die Gefährlichkeit von Covid-19 in Abrede zu stellen.
Das hat sich offenbar geändert. Gipfel des Durcheinanders von Koalitionen bei dieser Sammelaktion war, als der libertäre Luzerner Ethnologe und FDP-Politiker Nicolas Rimoldi Ende Dezember in einer zweistündigen Sendung bei «Stricker-TV» auftrat und der Twitter-Kanal der Zeitung «Megafon» der Berner Reitschule dazu kommentierte: «Das Schlimmste ist: Es geht zu grossen Teilen ums PMT, und da bin ich mit den Wirrköpfen sogar einig.»
Dieses Durcheinander ist letztlich der Grund, warum das von der «NZZ am Sonntag» bereits totgeschriebene Referendum womöglich doch noch zustande kommt: dass es nicht eine rein linke Sache ist, sondern getragen von einer ziemlich schrägen Mischung aus GLP, Jungfreisinnigen, Grünen, Sozialdemokraten, Umweltaktivistinnen, Verschwörungstheoretikern, der radikalen Linken.
Inzwischen sind über 55’000 Unterschriften zusammengekommen. Am Dienstag verbreitete das «Echo der Zeit» voreilig bereits die Meldung, das Referendum sei zustande gekommen. Was Ameti auf Twitter umgehend dementierte. Damit man beim Ablauf der Frist am 14. Januar nicht an der Verifizierung scheitere, sagt sie, peile man 60’000 Stimmen an.
Wer füttert die Algorithmen?
Sanija Ameti, Doktorandin für Öffentliches Recht an der Universität Bern, sagt, es sei unerträglich, dass man uns vorgaukle, es gebe die totale Sicherheit. «Die Politik ignoriert mit dem Angebot von schnellen, vermeintlichen Lösungen die Tatsache, dass das Fundament von Sicherheit und Freiheit Rechtssicherheit ist, dass die Menschen wissen, wofür sie bestraft werden und wofür nicht», sagt sie.
Im Strafgesetzbuch sei das alles klar geregelt. Im PMT sei das nicht der Fall. Es sei unklar, was es brauche, damit man in der nationalen Gefährderdatenbank lande. Es sei völlig unklar, mit welchen Statistiken die Algorithmen gefüttert würden. «Denn das ist schliesslich das Geschäftsgeheimnis jener privaten Firmen, welche diese Prognostikprogramme an die Polizeibehörden verkaufen», sagt Ameti. Es sei unklar, wie das Fedpol vorgehe, wenn es einen vermeintlichen Gefährder herausgespuckt bekomme.
«Gibt es etwas Schlimmeres, als abgestempelt zu werden als zukünftiger Krimineller, mit Massnahmen belegt zu werden, die sogar einen strafrechtlichen Charakter haben, ohne dass man sich dagegen wehren kann, weil kein Gericht einem sagt, was man eigentlich genau getan hat?», sagt die Juristin. «Gibt es etwas Schlimmeres als die Abschaffung der Unschuldsvermutung? Die Ungewissheit, wie lange man als Gefährder gilt und wann das Verfügen der Massnahmen aufhört? Und warum sie überhaupt verhängt werden? Worauf sich die Beschuldigungen beziehen?»
Womöglich sei sie selbst schon in einer solchen Datenbank gelandet, sagt sie ganz unaufgeregt, ganz ernsthaft, und das ist unfassbar deprimierend, dieser Gedanke, weil nicht von der Hand zu weisen: dass es in einem Land mit einer Vergangenheit der Fichierung seiner Bürgerinnen verhängnisvoll sein kann, wenn man zum Beispiel aus Forschungszwecken die falschen Websites besucht. «Ich heisse Sanija, ich komme aus einer muslimischen Familie, ich bin politisch aktiv, ich habe das Referendum gegen dieses Gesetz ergriffen und habe eine grosse Klappe – bin ich verdächtig?».
Und dann landen wir wieder in der Dystopie, der Science-Fiction, bei den Büchern, den Filmen, die irgendwie nicht mehr zu unterscheiden sind von der Schweizer Realität, wo man bereit ist, für die Illusion einer totalen Sicherheit die Rechtssicherheit und damit die Freiheit aufzugeben.
«Kürzlich fragte mich jemand, warum mir dieses Polizeigesetz mehr Angst mache als beispielsweise der Klimawandel», sagt Sanija Ameti. «Meine Eltern sind aus einem Land geflüchtet, wo die Polizei in der Nacht in unser Haus eingebrochen ist und meinen Vater mitgenommen hat. Und zwar einfach deswegen, weil er als oppositioneller Politiker unliebsam war. Wenige Jahre später, 1995, gab es in diesem Land dann einen Genozid. Mitten in Europa.»