Der Superschläfer
Wie der Schweizer Nachrichtendienst einen islamistischen Gefährder konstruierte. Und wie die Schweizer Regierung damit die schärferen Antiterrorgesetze rechtfertigte, die derzeit im Parlament debattiert werden. Was genau geht hier vor? Ein Behördenskandal im Zeitalter des «War on Terror».
Eine Recherche von Daniel Ryser (Text) und Goran Basic (Bilder), 15.06.2020
Er steht vor mir mit einem Stofftier im Arm, einem Hasen, der eine Rübe umklammert, und sagt, dass er Stofftiere sammle, denn Stofftiere seien frei von Hass. Ich habe mir den verurteilten IS-Terroristen irgendwie anders vorgestellt.
Sami A., einer von drei Verurteilten der «Schaffhauser IS-Zelle». Ein Mann, der wegen einer Facebook-Nachricht ab 2014 drei Jahre im Gefängnis sass, nach der Haftentlassung stationär in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Und dort, wie sich jetzt zeigt, mit einem unzulässigen Gutachten zum Gefährder konstruiert wurde. Ein Mann, der für so gefährlich erklärt wurde, dass seinetwegen der National- und der Ständerat über neue Antiterrorgesetze diskutieren. Die Gesetzesentwürfe sollen dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) so viele Kompetenzen geben, dass sie von mehreren Uno-Sonderbeauftragten scharf kritisiert werden: Aus Angst vor islamistischen Terroristen drohe die Schweiz grundlegende Freiheitsrechte aufzugeben.
Geht es nach dem Bundesrat, sollen sogenannte Gefährder in Zukunft präventiv unter Hausarrest gestellt werden können, wenn das Bundesamt für Polizei ihnen eine Straftat zutraut. Die Sicherheitskommission des Nationalrats will Präventivhaft möglich machen.
Sami A. steht vor dem Haus am Bodensee, in dem er ein Zimmer bewohnt, und zeigt mir seine Fischerausrüstung. «Ich fische gerne.» Zeigt Selfies von einem Ausflug mit einem Gummiboot mit einem Kollegen. Er sagt, er bereue, was alles passiert sei. Er wolle ein normales Leben führen. Er fragt, warum ihn die Schweiz so hasse. Er habe nichts gegen die Schweiz.
Wir spazieren über einen Steg. Kinder springen ins Wasser. Ein Sturm zieht auf. A., der damals kein Wort Deutsch sprach, scheint nicht begriffen zu haben, in welchem Kontext und zu welcher Zeit er vom Bundesstrafgericht verurteilt wurde. Und welche politische Dimension der Fall später erhalten hat: als Iraker in der Schweiz, Mitglied einer Zelle des Islamischen Staates, im März 2016, vier Monate nach den Anschlägen von Paris.
Das Strafmass: vier Jahre und acht Monate. Obwohl es am Schluss, nach einem halben Jahr Zusammenarbeit der Bundesanwaltschaft mit den US-Justizbehörden, in keinem der Fälle um konkrete Verbrechen oder strafbare Vorbereitungshandlungen ging. Sondern um Fanatismus auf Facebook.
Im Fall von A. ging es letztlich auf einer Seite Anklageschrift um eine wirre Facebook-Nachricht, in der von «Filialen» und «Firmen» die Rede war, was das Gericht als Codewörter deutete und deshalb als Beleg für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation.
Als wir im Thurgau zusammen einen Tag verbringen – er zeigt mir den Laden, wo er gratis arbeitet und Lebensmittel verteilt –, wirkt der IS-Gefährder auf mich in erster Linie selbst gefährdet: traumatisiert und isoliert.
1. Der Weg von Sami A.: Vom Kellner eines Restaurants in Damaskus zum Flüchtling mit verätzten Fingerkuppen in Kreuzlingen und Verfasser einer Facebook-Botschaft, die ihn in der Schweiz zum Staatsfeind macht
Wir stehen irgendwo am Seeufer, und A. erzählt die Geschichte einer Flucht. Er hat diese Geschichte in den letzten Jahren Hunderte Male erzählt, Beamten der Bundesanwaltschaft, den Richtern in Bellinzona, Polizisten, einem Gutachter. Wie er in Kirkuk im Irak in guten Verhältnissen aufwuchs, wie er 2006 während der Besetzung des Irak von kurdischen Milizen entführt und zwei Jahre gefangen gehalten und gefoltert worden sei, wie er nach Bagdad gebracht wurde und dort ein weiteres Jahr im Gefängnis gesessen habe. Dann die Flucht nach Syrien, wo ihn das UNHCR als Flüchtling anerkannte.
Ab 2009 Arbeit als Kellner in einem Restaurant in Damaskus. Flüchtige Bekanntschaft mit einem Mann namens Abu Hajer, der im Restaurant als Gast verkehrte und wohlhabend schien. Später wird Hajer von der Schweizer Bundesanwaltschaft als IS-Pate bezeichnet, obwohl sich seine Identität bis heute nie geklärt hat.
Bekanntschaft auch mit einem Mann namens Osama, ein Kriegsversehrter im Rollstuhl, den er eine Zeit lang bei sich aufnahm, bis es zum Streit kam, weil Sami A. gerne nächtelang mit Frauen chattete im Internet, und überhaupt, die Arbeit als Kellner: sündhaft. Osama, der Mann im Rollstuhl, flüchtet 2012 in die Schweiz, wird später bekannt als «Chef der Schaffhauser IS-Zelle», als Mann in Schaffhausen, der in seiner Sozialwohnung auf Facebook Massakervideos des Islamischen Staates verbreitete und sich freute, wenn «Ungläubige» ermordet wurden. Er verachtete die Schweiz, weil sie ja schon das Kreuz im Wappen trage, dieses verachtenswerte Land, das ihm Asyl vor der Verfolgung im Irak gewährt hatte.
Sami A. wiederum sagt, das Kreuz sei der Grund gewesen, warum er selber im Herbst 2013, als der Bürgerkrieg in Syrien immer stärker eskalierte, in die Schweiz habe flüchten wollen: In seinen Augen war die Schweiz eine Art Hafen der Menschenrechte, «wegen dem Roten Kreuz und so». Sami A. lieh bei seinem Nachbarn zweitausend Dollar und bezahlte einem Schlepper sechstausend Dollar, damit der ihn nach Italien brachte, wo bei der Einreise seine Fingerabdrücke registriert wurden.
«Sie fragten mich, woher ich sei», sagt A. «Ich behauptete, ich sei aus Syrien. Aber ein Beamter sagte zu mir: ‹Nein, du bist Iraker. Ich höre das. Wir werden dich in den Irak zurückschicken.›»
Ein Schulfreund, der bereits 2004 in die Schweiz geflüchtet war und im Kanton Aargau Asyl erhalten und geheiratet hatte, schmuggelte A. am 5. Oktober 2013 in die Schweiz. Sagte ihm: Du Idiot, du hast in Italien deine Fingerabdrücke abgegeben, jetzt wird dich die Schweiz zurückschicken, und in Italien schicken sie dich in den Irak, das haben sie dir ja schon gesagt, und dann ist dein Leben vorbei.
«Ich kriegte Panik», sagt A. «Ich stand in dieser Wohnung meines Schulfreundes in einem Ort namens Baden und wusste, in ein paar Tagen wird die Anhörung sein. Ich googelte, was ich tun könnte. Ich fand im Netz eine Seite, da stand: wenn man die Hände zwei Stunden lang in Whisky aufweicht und sie dann mit voller Kraft auf ein glühend heisses Backblech presst, dass dann die Fingerkuppen verätzen und keine Spuren mehr nachzuweisen sind. So würde ich in der Schweiz bleiben können. Also tat ich es.»
Ein paar Tage später erkannte das System beim Termin in Kreuzlingen trotz schwerer Verbrennungen seine Fingerabdrücke. Er sei bereits in Italien registriert, sagte man ihm. Er habe fünf Tage Zeit, das Land zu verlassen.
Ein Anwalt habe ihm gesagt, wenn er drei Monate untertauche, würden im Schengen-System seine Daten gelöscht und er könne sich neu registrieren. Also tauchte er bei seinem Schulfreund in Baden unter. «Aber der war frisch verheiratet», sagt A. «Die Wohnung war klein. Er bot an, mich zu Osama nach Schaffhausen zu bringen. Später sagten sie, ich sei Osama in die Schweiz gefolgt, um hier eine IS-Zelle aufzubauen. Aber das war nie meine Absicht. Ich hatte Tausende Dollar Schulden bei meinem Nachbarn und dem Schlepper und sass zwei Monate in dieser Wohnung fest, bei diesem Mann, Osama, den ich nicht mochte und der mich nicht mochte. Osama hatte mir verboten, die Wohnung zu verlassen, weil meine Anwesenheit seinen Asylstatus gefährden würde. Das Einzige, was ich hatte, war mein Handy. Ich schaute mir alle möglichen Dinge an, auch viele IS-Videos, und wenn ich heute die Nachrichten lese, die ich damals geschrieben habe: Ich weiss nicht, was ich damals getan habe. Ich kann es mir nur so erklären, dass ich unbedingt an Geld rankommen wollte, um meine Schulden zu bezahlen, und bereit war, dafür eine Lügengeschichte zu erzählen.»
Im Januar 2014 schrieb A. eine Nachricht nach Syrien, an den reichen Mann, den er aus seinem Restaurant kannte, Abu Hajer. Das Bundesgericht teilte später die Einschätzung der Bundesanwaltschaft, die Abu Hajer beschuldigte, ein IS-Pate zu sein. A. erzählte Abu Hajer von seinen Schulden und bat ihn um 5000 Dollar. Abu Hajer reagierte nicht. Sami A. schrieb: «Ich leite dir gute Nachrichten weiter, die unter uns bleiben sollen. Mit Gottes Erlaubnis werde ich hier eine Filiale der Firma eröffnen, nachdem ich meine Angelegenheiten organisiert habe und weil hier gute Arbeiten gemacht werden können.»
Im April 2014 wurden der Schulfreund aus Baden, Sami A. und Osama vor dessen Wohnung in Schaffhausen verhaftet und der Mitgliedschaft im Islamischen Staat angeklagt. Sie sassen zwei Jahre in Untersuchungshaft und wurden im März 2016 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Im März 2017 hob das Bundesgericht das Urteil des Bundesstrafgerichts gegen Sami A. auf: «Die Einsatzstrafe von vier Jahren und acht Monaten für die mit einer Höchststrafe von fünf Jahren bedrohte Beteiligung an einer kriminellen Organisation ist gemessen an den herkömmlichen und zulässigen Strafzumessungskriterien auffallend hoch.»
Weiter schreibt das Bundesgericht, aus dem Entscheid der Vorinstanz «geht nicht klar hervor, ob der Beschwerdeführer in der Schweiz oder in irgendeinem anderen europäischen Land eine Zelle des IS aufbauen wollte».
Am 29. März 2017 verfügte das Bundesstrafgericht die Freilassung von A., und zwar ohne Auflagen. Der Gesuchsteller befinde sich seit drei Jahren in Haft, wo er «sich im vorzeitigen Strafvollzug wohlverhält», schrieb das Gericht und weiter, dass «aus dem Verhalten des Gesuchsstellers wie auch aus dem Umstand, dass er die Beteiligung an einer kriminellen Organisation zuletzt bestritten hat, nicht geschlossen werden kann, dass er auch in Zukunft weitere, gleichartige Straftaten begehen werde».
Sami A. war ein freier Mann und wurde noch am selben Tag im Rahmen seines laufenden Asylverfahrens dem Kanton Thurgau zugewiesen.
2. Die Thurgauer Behörden schicken Sami A. ohne Grundlage in die Psychiatrie und konstruieren aus ihm einen Gefährder: «Dieses Gutachten ist aus rechtlicher Sicht unverwertbar», sagt Strafrechtsprofessorin Marianne Heer
Im Thurgau herrschte Unruhe. Man ging davon aus, dass man es hier nicht mit einem normalen Straftäter zu tun hat, der eine zweite Chance verdient habe. Sondern mit einem Mann, der immer noch gefährlich war.
Denn der Nachrichtendienst des Bundes beurteilte die Sache anders als das Bundesstrafgericht. So steht es in Bulletins und Berichten, die der Republik auszugsweise vorliegen.
In einem Bericht vom 24. November 2016 geht der Nachrichtendienst davon aus, dass Sami A. auch nach seiner Haftentlassung «das bestehende Netzwerk im dschihadistischen Milieu nutzen werde». Und auch in einem Bericht vom 12. Januar 2018 heisst es, der Mann verhalte sich zwar seit seiner Haftentlassung unauffällig, stelle aber «aufgrund seiner Taten und seines manipulativen Verhaltens» ein Risiko für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz dar.
Belege dafür erbrachte der Nachrichtendienst nicht, doch statt sich auf den Entlassungsentscheid aus Bellinzona abzustützen – keine Auflagen, keine Gefährdung –, führte die Thurgauer Kantonspolizei umgehend «einen intensiven Austausch mit den für die innere Sicherheit zuständigen Bundesbehörden», wie sie auf Anfrage schreibt. «In erster Linie ging es darum, dort verfügbare Informationen zur Person und seinem damaligen Umfeld zusammenzutragen, nachdem der Mann nach seiner kurzfristig erfolgten Haftentlassung dem Kanton Thurgau zugewiesen worden war.»
Es war nicht nur die Kantonspolizei Thurgau, die beschloss, die Informationen des Nachrichtendienstes dem Entscheid des Bundesstrafgerichts vorzuziehen. Geprägt von der Debatte um die Freilassung von Sami A., präsentierte der Bundesrat im Dezember 2017 den Entwurf für die neuen Antiterrorgesetze, die «präventiv-polizeiliche Massnahmen» ermöglichen sollten, wie SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga im September 2018 vor dem Nationalrat sagte: «Wir sprechen hier von den sogenannten Gefährdern. Diese haben ihre Strafe verbüsst oder keine Straftat begangen, befinden sich nicht in einem Strafverfahren, aber sie sind gefährlich für unser Land, und das stört. Das stört nicht nur Sie, das stört mich auch.»
Im Dezember verteidigte FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter vor dem Ständerat das neue Polizeigesetz «mit dem bekannten Fall der fünf Iraker»: «Was machen wir, wenn ausländische Gefährder (…) nicht ausgeschafft werden können (…), weil ihnen im Heimatland Tod oder Folter droht? Oder was, wenn es sich um Schweizer handelt, von denen eine terroristische Gefährdung ausgeht, die Verdachtsmomente jedoch nicht für ein Strafverfahren ausreichen?»
Ebenfalls mit Blick auf Sami A. und dessen laut Nachrichtendienst und Fedpol anhaltende Gefährlichkeit hatte der Ständerat im März 2019 eine Motion angenommen, den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung bei drohender Folter oder Todesstrafe zu ignorieren, wenn es sich dabei um verurteilte Terroristen handle. «Wir foltern nicht, und wir lassen auch nicht foltern», hatte sich FDP-Ständerat Andrea Caroni vergeblich gegen die Motion gewehrt.
Nach dem Austausch «mit den für die innere Sicherheit zuständigen Bundesbehörden» wird im Thurgau der Entlassungsentscheid des Bundesstrafgerichts ausgehebelt: Am Tag nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt Pöschwies weist die Thurgauer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Sami A. am 30. März 2017 in die Psychiatrie Münsterlingen ein – zur stationären Beobachtung für sechs Wochen.
Ein Entscheid, der gegen das Gebot der Verhältnismässigkeit verstösst. Das sagt Thierry Urwyler, promovierter Jurist beim Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich und unter anderem auf Verfahrensrechte bei psychiatrischen Gutachten spezialisiert.
«Eine stationäre Begutachtung in solch einem Fall ist nur als letztes Mittel möglich. Insbesondere muss ausgeschlossen sein, dass die betroffene Person sich kooperativ für die Begutachtung zeigt», sagt Urwyler. «So, wie sich die betroffene Person laut Bundesstrafgericht im Strafvollzug verhielt, scheint es gut möglich, dass sie auch bei einer ambulanten Begutachtung kooperiert hätte. Ist dies der Fall, wäre eine stationäre Begutachtung nicht verhältnismässig.»
Das zivilrechtliche Gutachten über Sami A., in Auftrag gegeben von der Kesb nach einer Sitzung mit Vertretern der Kantonspolizei und des Migrationsamts, entsteht während dreier Sitzungen in der Psychiatrie Münsterlingen. Der Gutachter: ein leitender Arzt aus einem anderen Kanton, der das Gutachten «nach bestem Wissen und Gewissen verfasst» hat. Die Ausgangsfrage lautet: «Liegt bei Sami A. eine psychische Störung vor?»
Bald geht es nur noch um die Frage eines möglichen Risikos. Und dabei verstösst das Gutachten gegen das Grundprinzip des rechtlichen Gehörs.
«Schon aus diesem Grund wäre das Gutachten unverwertbar», sagt Marianne Heer, Luzerner Kantonsrichterin und Lehrbeauftragte am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. Sie hat das Gutachten für die Republik analysiert.
Im Gutachten tauchen viele neue Informationen auf, die nicht aktenkundig und nicht belegt sind. Statt sich auf die Fakten – das Urteil, den Entlassungsentscheid, die Führungsberichte aus der Justizvollzugsanstalt Pöschwies – abzustützen, ruft der Gutachter einen Polizisten an, um eine Drittmeinung einzuholen: Christoph Reifler, Chef der Thurgauer Sicherheitspolizei. Das Gespräch dauert dreissig Minuten. Was Reifler erzählt, steht im Widerspruch zum Entlassungsentscheid des Bundesstrafgerichts, wonach sich der Mann in Haft «wohlverhalten» habe.
Sami A., so sagt Reifler, sei «bereits im Irak im Einsatz gewesen», «habe sich nie zu einer Aussage über seinen Hintergrund bewegen lassen», «sei unter den Kämpfern sehr beliebt und angesehen gewesen», habe in einer Einvernahme «Enthauptungsvorstellungen» ausgesprochen und anlässlich seines Gefängnisaufenthalts versucht, «andere zum Mitmachen bei seiner Gruppierung zu bewegen».
3. «Das Erschreckende am vorliegenden Fall ist, dass sich die Kesb für derartige Dinge instrumentalisieren lässt», sagt Anwalt Stephan Bernard. Und was sagt die damalige Präsidentin der Thurgauer Behörde? Sie schweigt
«Ein Gutachter hat auf der Basis von Fakten zu arbeiten», sagt Strafrechtsprofessorin Marianne Heer. «Er hat nicht den Sachverhalt aufzuarbeiten, soweit es sich nicht um rein psychiatrische Fragen handelt. Es erschliesst sich mir nicht, warum der Gutachter aufgrund der vorliegenden Faktenlage überhaupt Fremdauskünfte einholt. So oder so aber ist die im Gutachten stark gewichtete, telefonisch eingeholte Drittauskunft bei einem Thurgauer Polizisten nicht zulässig. Dieser Mann hätte als Zeuge einvernommen werden müssen, ein Rechtsvertreter hätte vor Ort sein müssen, um eine formell korrekte Befragung zu gewährleisten und Ergänzungsfragen zu stellen. Die Aussagen hätten verifiziert werden müssen. Es ist völlig unklar, woher diese Informationen über Enthauptungsvorstellungen und die Anwerbung von Insassen im Gefängnis überhaupt stammen. Und der Gutachter muss gewusst haben, dass er so nicht vorgehen darf, denn genau zu dieser Frage gibt es einen Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2010: ein Gutachter, der telefonisch bei einem Sozialarbeiter weitere Auskünfte eingeholt hat – das Bundesgericht hat daraufhin den ganzen Fall gekippt.»
Weiter, und das steht in diesem Fall zuvorderst: Für dieses Gutachten, das aus politischer Perspektive einen Gefährder von nationaler Relevanz kreierte, «gab es überhaupt keinen Anlass, denn der Mann hatte seine Strafe ja abgesessen».
Das sagt Jérôme Endrass, Professor für Psychologie und stellvertretender Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug in Zürich.
Das Kesb-Gutachten kommt zum Schluss, dass keine psychische Störung vorliegt. Und fragt dann: «Wie äussert sich ein allfälliges Gefährdungspotenzial von Sami A.?»
«Die Kesb hat einen Schutzauftrag zugunsten des Betroffenen und nicht zugunsten der Allgemeinheit», sagt Anwalt Stephan Bernard, spezialisiert auf Massnahmenrecht. «Die eindeutige Schlussfolgerung im Gutachten lautet: Der Mann ist nicht selbstgefährdend. Womit der Fall für die Kesb erledigt wäre. Aber dann setzt der Gutachter zum grossen Sprung bezüglich Gefährlichkeit des Betroffenen an, was in der Form gar nicht Gegenstand eines Kesb-Verfahrens ist. Das Erschreckende am vorliegenden Fall ist, dass sich die Kesb für derartige Dinge instrumentalisieren lässt.»
Dieser Punkt sei das grundsätzlich Perfide am vorliegenden Gutachten, sagt Jérôme Endrass vom Zürcher Amt für Justizvollzug: dass die Einweisung in die Psychiatrie durch die Kesb erfolgt sei, die für Selbstgefährdung zuständig sei. «Am Schluss, nach sechs Wochen Begutachtung für 800 Franken am Tag, stellt man fest, der Person fehlt ja gar nichts. Sie ist nicht suizidal. Sie ist nicht selbstgefährdend. Aber nebenbei, als überraschenden Nebenbefund, hat man herausgefunden, dass die Person im übrigen gefährlich ist. Das wiederum leitet man einzig und allein aus dem Umstand ab, der von Anfang an bekannt war: dass diese Person wegen Mitgliedschaft beim IS verurteilt wurde. Aber dafür hat sie eine Strafe abgesessen. Dafür wurde sie ohne Auflagen entlassen. Es gab offenbar keine konkreten Anhaltspunkte für gefährdendes Verhalten, sonst wäre ein Strafverfahren eingeleitet worden. Kurz: Es gab keinen Anlass, die Person auf Gefährlichkeit zu untersuchen und sie sechs Wochen in die Psychiatrie zu stecken.»
Die damalige Verantwortliche der Thurgauer Kesb wollte sich auf Anfrage nicht äussern.
Auf die Frage, wie sich ein allfälliges Gefährdungspotenzial von Sami A. äussere, schreibt der Kesb-Gutachter: «Die Art und Weise, wie der Explorand für die hiesige Gesellschaft gefährlich werden könnte, richtet sich in erster Linie danach, welche Konzepte auf IS-Führungsebene für die Entfaltung terroristischer Aktivitäten in seinem Zuständigkeitsbereich bestehen. Solche konkreten Pläne kamen jedoch bei dieser Untersuchung nicht zur Sprache; denkbar sind demnach alle typischen jihadistischen Aktivitäten von der Rekrutierung und Radikalisierung weiterer IS-Novizen, über das Einschleusen von IS-Leuten sowie weiteren logistischen Aufgaben zu Handen von Nachbarregionen bis hin zum Terroranschlag mit unabsehbaren Folgen.»
Ist das die Antwort eines Psychiaters, der, so der Auftrag, eine psychische Störung zu untersuchen hat? Oder die Antwort eines Nachrichtendienstes, der Terror abzuwehren hat?
4. «Der Gutachter hat die Prämisse geschluckt, dass vor ihm ein islamistischer Terrorist sitzt, und damit wird es kafkaesk: Der Begutachtete kann machen, was er will, aus dieser Nummer kommt er nicht mehr raus», sagt der forensische Psychiater Frank Urbaniok
Wir haben das Gutachten über Sami A. neben der Richterin und Strafrechtsprofessorin Marianne Heer und Forensiker und Psychologieprofessor Jérôme Endrass weiteren Fachleuten vorgelegt, darunter Frank Urbaniok, ehemaliger Chefarzt des Psychologisch-Psychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich, und Friederike Höfer, stellvertretende Leiterin des Zentrums für Ambulante Forensische Therapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK).
Und irgendwann landeten wir immer bei derselben Frage: Was geht hier vor?
Bei der Untersuchung wird offenbar alles, was möglich ist, gegen Sami A. verwendet – den Mann, der soeben ohne Auflagen aus der Haft entlassen wurde.
Er gibt zwar zu allen Fragen, die der Kesb-Gutachter stellt, Auskunft – zu seiner Herkunft, seiner Familie, seiner Sexualität, seinem Drogenkonsum, seinen religiösen Ideen –, doch der Gutachter schreibt, «dass es der Explorand bei dieser Untersuchung stark an Transparenz hat mangeln lassen».
Oder er distanziert sich vom Islamischen Staat, was ihm als mangelnde Reue ausgelegt wird: «Trotz erdrückender Beweislast fühlt er sich nur des widerrechtlichen Aufenthalts überführt, was wiederum als Hinweis darauf gewertet werden könnte, dass er sein zukünftiges Leben weiterhin innerhalb seines Netzwerkes fortzusetzen gedenkt und nicht zu einem Ausstieg entschlossen ist.» Der Mann führe ein Rollenspiel zwischen «Asylant und IS-Aktivist».
Ist es legitim, auf diese Art und Weise ein mögliches erhebliches Risiko für die Gesellschaft herzuleiten?
«Nein», lautet die Antwort von den befragten Expertinnen immer.
Was heisst das?
«Wenn Sie als Gutachter von Anfang an eine Matrix im Kopf haben, eine implizite Theorie, dann hat das Gegenüber keine Chance», sagt Frank Urbaniok. «Weil Sie von Anfang an wissen, was mit dem los ist. Und egal, was das Gegenüber jetzt macht, Ihre These als Gutachter wird immer bestätigt. Diesen Kipppunkt darf ein Gutachten nie erreichen. Aber diesen Kipppunkt hat das Gutachten überschritten. Der Gutachter hat die Prämisse geschluckt, dass vor ihm ein islamistischer Terrorist sitzt, und damit wird es kafkaesk: Der Begutachtete kann machen, was er will – aus dieser Nummer kommt er nicht mehr raus. Äussert er sich islamistisch, sagt man: Da haben wir es. Äussert er sich zurückhaltend, ist das genauso verdächtig. Er kann aber auch das Gegenteil machen wie im vorliegenden Fall und sagen, dass er mit dem IS nichts zu tun hat. Dann ist klar: Der verstellt sich. Was ja mindestens so gefährlich ist. Als Gutachter muss man alles in Bewegung setzen, eine Person ergebnisoffen und differenziert abzubilden, Dinge zu plausibilisieren, und nicht einfach einen Menschen in eine Schublade packen, aus der er nicht mehr rauskommt.»
Der Gutachter schreibt, es sei bekannt, «dass sich überzeugte Islamisten auch nicht immer zur Offenheit und authentischen Selbstdarstellung bemüssigt fühlen, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen befinden. So wird in Übereinstimmung mit der religiösen Literatur dieses Kulturkreises die Zuhilfenahme von List und Täuschung gegenüber Andersgläubigen ausdrücklich erlaubt oder sogar bestärkt, insbesondere wenn man selbst in eine bedrängte Situation geraten ist.»
Kann man mit solchen Allgemeinplätzen ein Risiko beurteilen, das vom Einzelnen ausgeht?
«So darf ein Gutachten nicht operieren», sagt Marianne Heer, die in ihrer Funktion als Richterin viele Risikoentscheide abzuwägen hat. «Der Gutachter arbeitet fast ausschliesslich mit Allgemeinplätzen, ist extrem tendenziös. Er spricht von ‹üblicherweise›, ‹von diesem Kulturkreis›, vom ‹typischen demografischen Profil des Terroristen›. Das ist für mich absolut unverständlich und nicht nachvollziehbar. Denn in einem Gutachten zählt nur der konkrete Fall: Wenn ich als Richterin beurteilen muss, ob ein Mann wieder seine Frau schlagen wird, kann ich mich nicht auf Allgemeinplätze oder angebliche kulturelle Bedingtheiten abstützen. Ich kann Ihnen hier und jetzt sagen: Männer zwischen 18 und 25 sind statistisch gesehen am meisten gewalttätig. Aber hat deswegen jeder Mann in diesem Alter automatisch ein erwiesenes Rückfallrisiko? Jeder Mensch ist konkret aufgrund einer Einzelfallbeurteilung und einer Gesamtwürdigung effektiver Fakten zu beurteilen.»
Das Kesb-Gutachten kommt zum Schluss, dass bei Sami A. «ein mittleres bis eher hohes Risiko besteht», weshalb «eine konsequente Separation von weiteren terrorverdächtigen Individuen im Asylwesen» angezeigt sei.
Die knapp vierzig Seiten sagen das Gegenteil von dem, was im Entlassungsentscheid des Bundesstrafgerichts steht, nämlich, dass der Mann ohne Risikogefahr aus der Haft entlassen werden kann.
A. wird stattdessen zum terroristischen Gefährder erklärt. Politische Folgen: Eine Debatte über schärfere Gesetze, die jetzt im Parlament verhandelt werden. Repressive Konsequenzen: «Monitoring». Zeitlicher Rahmen: Unbestimmt. Psychiatrische Zweitmeinung: Keine.
Juristische Grundlage: Nicht vorhanden.
5. Die Gefährlichkeit von Sami A. als Argument für neue Anti-Terrormassnahmen: Dabei sei ein tatsächliches Risiko nie untersucht worden, sagt Forensiker Jérôme Endrass. Die zentrale Annahme für eine Gefährlichkeit im Gutachten könne «empirisch leicht widerlegt werden»
Eine Frage an die Forensiker: Wie kann ein psychiatrisches Gutachten im direkten Nachgang einen Entscheid eines Gerichts umstossen?
«Wenn man ernstliche Befürchtungen für ernsthafte Gefährdungen gehabt hätte, dann hätte das Gericht ja sehr wahrscheinlich vor der Haftentlassung selber eine Begutachtung in Auftrag gegeben, um eine ernsthafte Gefährlichkeit für Dritte abzuklären», sagt Friederike Höfer von der PUK. «Das wäre der ordentliche Rechtsweg gewesen. Aber das Gericht hat das in diesem Fall nicht gemacht. Sie haben den Mann ohne Auflagen entlassen. Wer darf danach die Frage der Gefährlichkeit aufgrund von ja – nichts – überhaupt aufwerfen? Diese Frage drängt sich hier auf. Er hätte eigentlich ein freier Mann sein müssen, der einfach noch sein Flüchtlingsprozedere juristisch zu verfolgen hätte.»
«Wir sind keine Richter», sagt Frank Urbaniok. «Sachverhaltswertung und gutachterliche Beurteilung müssen strikt getrennt sein. Das ist eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf. Wir sind nicht dazu da, zu sagen, dieser Mann ist IS-Terrorist oder nicht. Wir sind dazu da, aus den möglichen und klar ausgewiesenen Sachverhaltshypothesen Bewertungen abzuleiten. Welcher Sachverhalt zutrifft, muss das Gericht entscheiden, nicht der Gutachter. Diese beiden Rollen wurden im Gutachten vermischt. Das ist ein fundamentaler handwerklicher Fehler.»
Keine Grundlage und kein Anlass. Und offenbar auch wissenschaftlich unhaltbar. Das ist das Fazit der Expertinnen und Experten, die das Gutachten studierten.
«Das Gutachten geht von der Frage aus, ob eine psychische Störung vorliegt», sagt Friederike Höfer. «Dafür gibt es genügend Anhaltspunkte. Wenn es stimmt, was der Mann schildert – eingesperrt, gefoltert, verschuldet bei Schleppern und dann, was wir ja wissen, wieder drei Jahre in der Schweiz eingesperrt –, dann hat er einen grossen Stress. Das alles wurde allerdings nicht untersucht.»
«Im vorliegenden Fall müsste man, wollte man überhaupt eine Beurteilung eines möglichen Risikos machen, drei Szenarien ausarbeiten», sagt Frank Urbaniok. «Erstens: Das ist ein total gewaltbereiter Persönlichkeitstäter, ein tötungsbereiter Islamist, der über Jahre hinweg und unter falscher Identität darauf wartet, zuzuschlagen. Das ist grundsätzlich der seltene Fall. Zweitens: Es gibt Menschen, die sich in Kriegswirren, im Kontext eines Umfelds, einer Organisation anschliessen und kriminell werden. Sogenannte Situationstäter. Wenn diese Menschen dem Umfeld entzogen werden, ändert sich mit grosser Wahrscheinlichkeit ihr Verhalten. Drittes Szenario: Es ist so, wie der Mann es uns erzählt. Dann müsste zum Beispiel eine Traumafolgestörung untersucht werden. Wenn Sie diese Szenarien erarbeitet haben, leiten Sie sorgfältig ab, welches Szenario das wahrscheinlichste ist. Aus wissenschaftlicher Sicht kann ich Ihnen zumindest sagen, welches grundsätzlich das unwahrscheinlichste Szenario ist: das Szenario des Superschläfers, von dem der Gutachter hier automatisch ausgeht.»
«Der beste Anhaltspunkt für zukünftige Gefährlichkeit ist vergangene Gefährlichkeit – wobei die Beurteilung dieses Begriffs sowieso juristisch normativer Natur ist», sagt Friederike Höfer von der PUK. «Im Gutachten wird aber nicht hergeleitet, wie sich die Gefährlichkeit in der Vergangenheit gezeigt hat. Bei einer Risikoabklärung muss das zwingend die zentrale Frage sein: Was ist der Anknüpfungspunkt für ein potenzielles Risiko? In diesem Fall wäre es eine Facebook-Nachricht. Darauf basierend bildet man Hypothesen. Inwiefern ist dieser Mann gefährlich? Versucht er junge Menschen zu radikalisieren? Will er Geld für seine Sache gewinnen? Einen Anschlag vorbereiten? Oder wieder eine Facebook-Nachricht schreiben? Und wie kann das verhindert werden? Dass das im Gutachten nicht diskutiert wird, ist ein inhaltlicher Fehler. Dann wird ihm längerfristig ein eher hohes Risiko zugesprochen, ohne zu definieren, was ‹längerfristig› und ‹eher hoch› heisst. Alles ist offen formuliert und somit extrem willkürlich. Bei einer Risikoabklärung muss das ganze Gutachten wie ein Trichter auf die Frage der Gefährlichkeit zulaufen. Dazu gehört, dass der Forensiker mit derselben Sorgfalt auch die andere Hypothese ausarbeitet: Es gab diesen einen Facebook-Post vor langer Zeit, von dem er sich inzwischen klar distanziert. Und wenn das glaubhaft ist, dann ist er nicht mehr gefährlich.»
Was bedeutet das also?
«Wichtige Elemente aus diesem Gutachten sind nicht haltbar», sagt Psychologieprofessor Jérôme Endrass. Die zentrale Schlussfolgerung im Gutachten nämlich, dass der Mann gefährlich sei, weil er IS-Mitglied war, könne «empirisch leicht widerlegt werden». Man wisse das aus der Nachkriegszeit in Deutschland, Jugoslawien, Ruanda oder Eritrea: «Menschen begehen in gewissen Kontexten Monstrositäten, kehren in die Zivilgesellschaft zurück und fallen nie mehr auf.»
«Ich habe Leute exploriert, die beim IS waren, irgendwelche Mitläufer, die ganz klar kein hohes Risiko hatten», sagt Endrass. Man könne einen Europäer, der ausgereist sei, um sich dem IS anzuschliessen, nicht mit jemandem vergleichen, der sich im Irak im Kontext eines Bürgerkriegs dem IS anschliesse. Es sei gut untersucht, dass in kriegerischen Kontexten der soziale Druck eine viel grössere Rolle spiele, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschliessen, als die persönliche Motivation.
«Ob die Person hier nun wirklich ein Risiko darstellt oder nicht, kann ich nicht beurteilen», sagt Endrass. Klar sei aber, dass die Gründe, womit die Gefährlichkeit im Gutachten exploriert werde, empirisch nicht abgestützt seien. Dabei gehe es nicht nur um die IS-Mitgliedschaft, sondern auch darum, dass die Glaubhaftigkeit der Aussagen beurteilt werde. «Das hat in einem forensischen Gutachten nichts zu suchen. Auf knappen vierzig Seiten Glaubhaftigkeit und Risiko zu beurteilen, das ist nicht zulässig.» Zudem sei es falsch, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Wahrheitsgehalt der Aussagen und einem möglichen Risiko. Denn ob jemand die Wahrheit sage, beeinflusse zwar, wie gut man mit der Person arbeiten könne, nicht aber, wie hoch das Rückfallrisiko sei. «Das ist eine Konstruktion, die moralisch ist und nicht wissenschaftlich. Überspitzt gesagt: Jemand, der die Wahrheit sagt, ist gut, und jemand der lügt, der ist schlecht und somit auch gefährlich.»
Was in dem Gutachten ebenfalls verwischt werde: Eine jihadistische Ideologie zu haben, sagt Endrass, bedeute noch kein Risiko. «Es ist in der Extremismusforschung bekannt: Nur eine Handvoll der Menschen, die weltweit das Konzept eines gewaltbereiten Jihad unterstützen, sind bereit, die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten. Wir als Forensiker haben aber einzig das zu prüfen: Besteht bei einer Person ein konkretes Risiko, dass sie auf andere Menschen losgehen wird?»
6. Was genau geht hier vor? Der Chef der Thurgauer Sicherheitspolizei zwingt Sami A., eine GPS-Uhr zu tragen, und behauptet, er werde «dringend verdächtigt», einen Anschlag zu begehen. Auf Anfrage sagt seine Dienststelle: Sie habe zu keinem Zeitpunkt Erkenntnisse gehabt, Sami A. könnte gefährlich sein
Am 16. November 2018 übernimmt Christoph Reifler, Chef der Sicherheitspolizei der Thurgauer Kantonspolizei, Formulierungen aus dem Gutachten, in dem er selbst als zentrale Drittauskunft auftritt, und klopft mit einem schriftlichen Entscheid in der Hand in einem kleinen Thurgauer Dörfchen mitten in einem Familienquartier bei Sami A. an die Zimmertür.
Sicherheitspolizist Reifler zwingt ihn zum Tragen einer GPS-Uhr, weil, so steht es im von Reifler verfassten Schreiben, Sami A. – eineinhalb Jahre nach seiner Haftentlassung – «dringend verdächtigt wird», einen «terroristischen Anschlag mit unabsehbaren Folgen zu begehen».
Ich frage die Thurgauer Kantonspolizei in einer Mail, worauf dieser schwere Verdacht gründete. Ob die Staatsanwaltschaft über diesen dringenden und schwerwiegenden Verdacht orientiert wurde? Ob Untersuchungshaft wegen Ausführungsgefahr angeordnet wurde? Und ob eine GPS-Uhr ausreiche, um «einen Anschlag mit unabsehbaren Folgen und Schäden für die Schweizer Bevölkerung» zu verhindern?
«Bei schwersten Delikten – und dazu gehören Anschläge mit Toten oder Schwerverletzten – beginnt die Straftat schon bei der Vorbereitungshandlung», sagt der Jurist Thierry Urwyler vom Amt für Justizvollzug in Zürich. «Wenn jemand tatsächlich ‹dringend verdächtig› war, müsste die Grundlage dieses Verdachts in einem Strafverfahren offengelegt werden, damit die Person sich verteidigen kann. Der Staat muss Beweise vorlegen, die sein Handeln legitimieren, und die betroffene Person muss die Möglichkeit haben, sich gegen diese Beweise zu wehren. Das ist der Kerngehalt des rechtlichen Gehörs: dass man zu allem Stellung nehmen kann, was relevant ist für einen Entscheid. Ansonsten besteht die Gefahr eines Schattenverfahrens mit verdeckten Beweisen, die nur einer Seite bekannt sind und eine effektive Verteidigung massiv erschweren oder gar verunmöglichen.»
Die Antwort der Thurgauer Kantonspolizei auf meine Mail folgt einen Tag später: Die Formulierungen im Entscheid seien tatsächlich «nicht genügend präzise» gewesen: Es habe sich gar nicht um einen tatsächlich bevorstehenden Anschlag gehandelt, sondern um eine abstrakte Gefährdungslage. Und dann, und jetzt klingt alles plötzlich noch einmal ganz anders: «Wir betonen: Es resultierten zwischen März 2017 und heute, Stand Juni 2020, aus den genannten Massnahmen keinerlei Erkenntnisse, die darauf hindeuten oder hindeuteten, dass A. eine schwere Gewalttat planen oder begehen könnte.»
Die Geschichte wird immer kafkaesker – und aus rechtsstaatlicher Sicht immer beunruhigender: hier der potenzielle terroristische Gefährder, von dem weder das Bundesstrafgericht noch die zuständige Thurgauer Kantonspolizei ausgehen, dass er gefährlich ist. Dort die Bundespolitik, die seine Gefährlichkeit – abgeleitet aus einem Gutachten, das diese Gefährlichkeit nicht geprüft hat und stattdessen mit nicht transparenten Informationen des Nachrichtendienstes operiert – zum Anlass nimmt, neue Gesetze zu fordern, die dem Bundesamt für Polizei mehr Kompetenzen geben sollen.
Der vorliegende Fall ist eine Blaupause für die Befürchtungen von fünf Uno-Sonderberichterstatterinnen – darunter Ahmed Shaheed, Uno-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, Fionnuala Ní Aoláin, Sonderberichterstatterin für den Schutz der Menschenrechte in der Terrorbekämpfung, und Nils Melzer, Sonderberichterstatter für Folter. Sie warnten in ihrem kürzlichen Schreiben an FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter vor willkürlichen Freiheitsentzügen, wenn in Zukunft Annahmen von Polizei und Nachrichtendienst genügen sollen, um schon gegen 12-Jährige vorzugehen: «Wir befürchten, dass die Anwendung dieses Gesetzes zu erheblichen Verletzungen der Menschen- und Grundrechte führt.»
7. Im rechtlichen Niemandsland: Das Kesb-Gutachten wird zum Hauptargument des Bundesrats beim Ausweisungsentscheid für den Iraker. Hier bleiben kann er nicht, aber wegen drohender Folter und Todesstrafe kann er auch nicht weg
Ein Mann, der den Fall inzwischen minutiös aufgearbeitet hat, ist Ahmed Ajil, Kriminologe an der Universität Lausanne. Er doktoriert zu Werdegängen politisch-ideologischer Mobilisierung und Gewalt und führte dazu unter anderem Dutzende Interviews mit Jihadisten in der Schweiz und im Libanon. Ajil war es, der mich vor ein paar Wochen kontaktierte, weil er das Gutachten infrage stellte und die Verhältnismässigkeit der ganzen Geschichte rund um Sami A. und die «Schaffhauser IS-Zelle».
«Osama, der Hauptangeklagte der IS-Zelle, wollte mich nicht treffen, als ich vor einem Jahr für ein Interview anfragte», sagt Ajil. «Er rede nur mit Sunniten. Was man als problematische Haltung bezeichnen könnte.»
Sami A. wiederum sei bereit gewesen, ihn zu treffen, und habe beim ersten Interview in einem Thurgauer Café umgehend drauflosgeplaudert. «Er erzählte dabei immer und immer wieder dieselbe Geschichte. Was mich bald stutzig machte: Er zeigte keinerlei Ideologisierung, keinerlei Politisierung. Nach dem zweiten Gespräch fragte ich mich: Kann einer wirklich so gut schauspielern? Aber was wäre sein Motiv? Er hat ja bereits drei Jahre gesessen, die Ausweisung aus der Schweiz ist definitiv. Bei allen Personen, die ich bisher für meine Forschung interviewte, hast du ein Bekenntnis für die Sache, einen gewissen Jargon, klare religiöse Standpunkte, eine Politisierung oder Ideologisierung, die vorhanden ist, selbst wenn sie heruntergespielt wird. Aber hier: einfach nichts. Stattdessen die Geschichte eines Mannes, der sagt, er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen mit den falschen Leuten. Ein Mann, der eine ziemlich normale Fluchtgeschichte erzählt.»
Der Fall steche heraus, weil die Diskrepanz zwischen der Geschichte von Sami A. und der repressiven Antwort des Staates in keinem Verhältnis stehe: «Der Fall wird heute als Argument geführt, dass es noch mehr Kompetenzen für den Nachrichtendienst brauche. Was im Widerspruch steht zu dem, was passiert ist: kein Anschlag. Eine Kesb, die aufgrund von Geheimdienstinformationen einen Mann in die Psychiatrie steckt, dabei das rechtliche Gehör verletzt und ihn zum Gefährder erklärt. Und die Erkenntnis, dass man bereits bei der jetzigen Gesetzeslage jemanden für eine Facebook-Nachricht drei Jahre einsperren kann. Und das unter Bedingungen, die die Uno als Folter einstuft: Die Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen sagen, dass man Menschen aufgrund der verheerenden Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit nicht länger als zwei Wochen in Isolationshaft stecken darf. Sami A. sass in der Schweiz zwei Jahre in Isolationshaft.»
Bei einem unserer Treffen stellt mir Sami A., verurteiltes Mitglied der «Schaffhauser IS-Zelle», einen seiner wenigen Freunde vor. Einen älteren Herrn, nennen wir ihn Peter, wiedergeborener Christ, der ihn zusammen mit einem anderen evangelikalen Christen in Deutsch unterrichtet und mit ihm die Bibel liest. «Ich weiss, dass Sami im Gefängnis sass», sagt Peter. «Er hat es mir mal erzählt. Aber mehr wollte ich gar nicht wissen: Als wiedergeborener Christ interessiert mich das Jetzt.»
«Was soll ich tun? Was kann ich tun?», fragt mich der verurteilte IS-Terrorist und Gefährder, als wir uns schliesslich das letzte Mal treffen.
Im Mai 2019 führten das vom Bundesgericht als «auffallend hoch» eingestufte Urteil des Bundesstrafgerichts, aus dem nicht klar hervorgehe, ob der Beschwerdeführer mit dem IS überhaupt etwas zu tun gehabt habe, sowie das nach der Haft erstellte Kesb-Gutachten zu einem definitiven Ausweisungsentscheid des Bundesrats für Sami A., der nicht anfechtbar ist.
In seiner fünfseitigen Argumentation stützt sich der Bundesrat dabei zu einem erheblichen Teil auf das Gefährder-Gutachten. Sami A. befindet sich in einer Art rechtlosem Zustand: In der Schweiz darf er nicht bleiben, aber verlassen kann er sie wegen des völkerrechtlichen Prinzips der Nicht-Zurückführung auch nicht, weil ihm wegen des Urteils im Irak Folter und die Todesstrafe drohen.
Er finde keine Arbeit, sagt Sami A. Einmal im Monat müsse er Polizisten treffen, die ihn nach allen sozialen Kontakten fragten.
Das Kesb-Gutachten, das ihm eine nebulöse allgemeine Gefährlichkeit attestiert und die definitive Ausweisung besiegelte, hat den Mann nicht im Ansatz resozialisiert, sondern plattgewalzt.
Mir fallen die Worte von Frank Urbaniok ein: «Aus dieser Nummer kommt er nicht mehr raus.»
«Womöglich wäre es am besten, wenn du dich umbringst», sage ich.
Ahmed Ajil, der Kriminologe, der den Kontakt herstellte, der fliessend Arabisch spricht und deshalb bei den Treffen als Übersetzer fungierte, schaut mich entgeistert an. «Das übersetze ich nicht», sagt er.
Aber eine andere ehrliche Antwort fällt mir auf die Schnelle nicht ein.
Hinweis: Der vollständige Titel von Fionnuala Ní Aoláin lautet in der deutschen Übersetzung «Sonderberichterstatterin zum Schutz von Menschenrechten in der Terrorbekämpfung». Der letzte Teil fehlte in einer früheren Version, wir haben ergänzt.