Her kindness
Machen Frauen die bessere Politik? Viele sehen in Neuseelands Premierministerin den Beweis. Jacinda Ardern führt ihr Land bereits durch die zweite tiefe Krise. Und «Jacindamania» ist ein weltweites Phänomen. Was taugt ihre Politik tatsächlich?
Von Solmaz Khorsand, 01.06.2020
Jacinda Arderns grösste Stärke ist der Vergleich. Im Vergleich zu anderen Staatschefs macht Neuseelands Premierministerin vieles richtig.
Im Vergleich macht sie so ziemlich alles richtig.
Das ist nicht schwer, wenn der Vergleich Donald Trump, Boris Johnson, Narendra Modi, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin heisst. Allesamt Männer, die nicht zu den hellsten Sternen am demokratischen Firmament zählen – im Gegenteil, sie reissen es mit Gebrüll ein. So laut, dass jene, die es zu stützen versuchen, auf der Weltbühne kaum gehört werden.
Bis auf eine: Jacinda Ardern.
«True leader» – «inspirational leader» – «empathetic leader».
So wird sie rund um den Globus bezeichnet. Von der Presse, von Hollywood, von Feministinnen, von all jenen, die der Davos-Altherrenclub längst in die innere Emigration getrieben hat. Und dies nicht erst seit der Corona-Krise, durch die Ardern ihre Landsleute mit scharfen Massnahmen und sanften Worten navigiert hat, sondern schon seit Beginn ihrer Amtszeit vor drei Jahren.
Eine Millennial, die mit 39 Jahren einer Regierungskoalition aus drei Parteien vorsteht. Eine Premierministerin, die als erst zweite weltweit – nach Pakistans Benazir Bhutto – in ihrer Amtszeit ein Kind bekommt und jedem Kommentator, der sich herablassend über Mutterschaft und Beruf äussert, elegant das Wort abschneidet. Eine Regierungschefin, die als erste im Westen einen Haushaltsplan präsentiert, der nicht das Wirtschaftswachstum in den Mittelpunkt rückt, sondern das Wohlbefinden der Bevölkerung. Eine weisse Regierungschefin, die jeden offiziellen Anlass in Te Reo Māori, der Sprache der diskriminierten Ureinwohner Neuseelands, beginnt.
Und eine Politikerin, die nach einem rechtsextremen Massaker mit 51 Toten die richtigen Worte, Gesten und vor allem Gesetze findet, um einer trauernden Nation den Weg zu weisen.
Skandinavien des Südpazifiks
Es ist eine Bilanz voll von erhebender Symbolik. Respekt flössen sie ein, die Berichte über Ardern, diese bodenständige Person, die keine Gelegenheit auslässt, ihre Politik der kindness, der Güte, gebetsmühlenartig unters Volk zu bringen. Wie eine Heilige wird sie auf ein Podest gestellt, wegweisend und vorbildhaft im Meer der politischen Irrlichter.
Das erstaunt in Anbetracht der Grösse, Geografie und Stellung Neuseelands. Ausgerechnet die Premierministerin eines kleinen Pazifikstaates am Ende der Welt, der nur zu gern auf Landkarten vergessen wird, gilt als Hoffnungsträgerin des bankrotten Politbetriebs. Ist Jacinda Ardern tatsächlich die wegweisende Ikone? Verdient sie das Podest, auf das sie gestellt wird?
Jein, lautet das Urteil von Arderns Landsleuten. Für sie ist der Vergleich irrelevant. Für sie zählt nicht die Weltbühne. Für sie zählen einzig und allein die Bedingungen in ihrem Land.
Auf den ersten Blick scheint in diesem alles perfekt zu sein. Neuseeland, eine parlamentarische Monarchie mit der Queen als Staatsoberhaupt, knapp sechsmal so gross wie die Schweiz, mit 5 Millionen Einwohnern, ist aufgeteilt in zwei Hauptinseln, den «Norden» und den «Süden».
Neuseeland gehört zu den Strebernationen der Welt: sehr reich, sehr transparent, sehr demokratisch. Und zudem sehr progressiv: 1893 hat Neuseeland als erstes Land der Welt das aktive Frauenwahlrecht eingeführt, wies schon vor Jacinda Ardern mit Jenny Shipley (1997 bis 1999) und Helen Clark (1999 bis 2008) zwei Premierministerinnen auf und hat eine lange Tradition sozialer Errungenschaften.
Schon im 19. Jahrhundert hatte das Land umfassende Weichen für seinen Wohlfahrtsstaat gestellt, wofür es als «Soziallabor» von ausländischen Wissenschaftlern und Staatsmännern besucht, bestaunt und studiert wurde. «Die Vorstellung von Neuseeland, einer gütigen Sozialdemokratie, eines Skandinaviens des Südpazifiks, ist tief verankert in der nationalen Kultur», schreibt der Autor Branko Marcetic im «Jacobin Magazine». Ähnlich wie die Amerikaner an ihrem American Dream festhalten, täten es die Kiwis mit ihrer Vorstellung von einem Neuseeland, in dem ein wohlwollender Staat sich in jeder Lebenslage um die Bürgerinnen kümmert.
Doch ähnlich wie der American Dream entspricht auch der Mythos des südpazifischen Skandinaviens nicht ganz der Realität. Neuseeland gehört heute zu den Industrienationen mit den grössten Einkommensunterschieden, der höchsten Obdachlosigkeit und der ausgeprägtesten Kinderarmut.
«Neuseeland ist kein Nirwana», sagt der Politikwissenschafter Bryce Edwards, der zu Neuseelands Innenpolitik an der Victoria University of Wellington forscht und unterrichtet. Den Wohlfahrtsstaat, auf den alle so stolz seien, gebe es in der Form gar nicht mehr. «Neuseeland gehörte zu jenen Ländern, in denen neoliberale Reformen am radikalsten umgesetzt wurden», sagt Edwards.
Mehr Thatcher als Thatcher selbst
Ausgerechnet eine Labour-Regierung wurde zur Totengräberin des sozialdemokratischen Neuseelands. 1984 leitete sie einen radikalen Kurswechsel ein. Roger Douglas, Neuseelands damaliger Finanzminister, war mehr Thatcher als Thatcher selbst. Der freie Markt würde alles regeln, was der träge, hoch verschuldete Staat verbockt hatte, war die Devise. Douglas strich von einem Tag auf den nächsten Subventionen und Steuervergünstigungen für die Bauern und verkaufte Staatsbetriebe wie die Eisenbahn, die Telecom, Reedereien, die nationale Fluglinie und den Flughafen. «Rogernomics» nannten die Medien die Massnahmen, die nach der Wahlniederlage von Labour 1990 von der neuen Regierung unter der konservativen National Party die nächsten neun Jahre fortgesetzt wurden. Sie kürzte das Arbeitslosengeld, strich Sozialleistungen und «entlastete» Unternehmen von den gewerkschaftlich ausverhandelten Kollektivverträgen.
Wieder galt Neuseeland als Labor. Wieder wurde es von Ausländern besucht.
Dieses Mal waren es jedoch die Vertreter neoliberaler Denkschulen, die am Ende der Welt ihr ökonomisches Konzept auf Punkt und Komma umgesetzt fanden. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank organisierten Studientrips nach Neuseeland, damit sich andere Länder ein Beispiel nehmen konnten an diesem schlanken, entschuldeten Staat, in dem alles so effizient zu laufen schien. Die «Financial Times», das «Wall Street Journal» und der «Economist» überschlugen sich in Lobeshymnen für die grüne Insel.
Die Kehrseite des neoliberalen Traums schaffte es kaum auf die Titelseiten der internationalen Wirtschaftspresse: Farmer, die nach dem Streichen aller Subventionen plötzlich vor dem Nichts standen und die Suizidrate in die Höhe schnellen liessen; obdachlose Männer und Frauen, die in Wellington, Auckland und Christchurch in Garagen und Hauseingängen übernachteten, weil sie sich keine Unterkunft mehr leisten konnten. Es entstand eine nie da gewesene Einkommensschere. War der Gini-Koeffizient – die Masszahl zwischen den oberen und den unteren Einkommensschichten (bei der 0 für geringe Ungleichheit steht und 1 für eine sehr hohe) – von den Sechziger- bis zu den Achtzigerjahren konstant stabil zwischen 0,35 und 0,4, stieg er in den Achtzigern rapide an, bis er 1999 bei einem Höchstwert von knapp über 0,5 lag.
Das Private textbuchreif politisch
In dieses Neuseeland ist Jacinda Ardern hineingeboren. Das hat sie geprägt, wie sie in Interviews sagt: die Schulkameraden, deren Eltern nicht genug Geld hatten, ihren Kindern ein Mittagessen einzupacken; die Nachbarn, die sich in den Alkohol und in Drogen flüchteten; einige, die sich gar das Leben nahmen.
Ein Kind der Achtzigerjahre, ist Ardern aufgewachsen im ländlichen Morrinsville und in Murupara, kleine Dörfer im Landesinneren der Nordinsel. Die jüngere von zwei Töchtern eines Polizisten und einer Köchin in der Schulcafeteria galt als Streberin, aktiv in der Schulpolitik, im Debattierklub, in der Gemeinde – «nicht cool, aber auch nie uncool», wie ihre Biografin Madeleine Chapman recherchierte.
Früh engagierte sich Ardern bei der Labour Party, arbeitete nach dem Abschluss ihres Politik- und Publizistikstudiums im Büro der Premierministerin Helen Clark, wurde später jüngste Abgeordnete im Parlament. Neun Jahre lang sass sie dort auf der Oppositionsbank, bis der wenig charismatische Labour-Chef Andrew Little wenige Wochen vor der Wahl 2017 zurücktrat und ihr den Vortritt überliess. Fast 37 Prozent holte sie für die Partei, ein dickes Plus von 12 Prozent. Ardern führte die Sozialdemokraten – als Zweitplatzierte hinter der konservativen National Party – in eine Koalition mit den zwei Kleinparteien, den Grünen und der rechtspopulistischen New Zealand First.
Mit einem Schlag war Ardern die weltweite Schlagzeile. Jacindamania hatte begonnen. So jung, so Frau, und wenige Monate später auch noch so schwanger. «Vogue» feierte sie als den «Anti-Trump» und setzte sie Vogue-getreu mit viel Couture und Make-up in der neuseeländischen Landschaft in Szene. Amerikanische Talkshows luden sie auf die Couch und wollten sich einmal von einer echten Staatschefin erklären lassen, was denn jetzt schwieriger sei: ein Land zu führen oder Windeln zu wechseln?
Ardern meistert jeden Auftritt. Bis heute. Nie ist sie genervt, pampig oder arrogant. Sie weiss aus jeder noch so intimen Frage politisches Kapital zu schlagen. Wenn Talkshowmoderatorinnen ihre knuddelige Tochter zum Thema machen, spricht sie über Familienpolitik und wie ihre Regierung die bezahlte Elternzeit von 18 auf 26 Wochen erhöht hat. Wenn Late-Night-Onkel Stephen Colbert sie nach lustigen Anekdoten fragt, erwähnt sie, dass Wählerinnen sie beim Einkaufen von Schwangerschafts-BHs auf ihre Politik ansprechen, und enttabuisiert damit die Lebensrealität von Millionen von Frauen.
Wenn sie unter Blitzlichtgewitter wenige Wochen nach der Geburt den Namen ihrer Tochter bekannt gibt, Neve Te Aroha, vergisst sie nicht, die Maori mit ins Rampenlicht zu rücken. Neve Te Aroha – te aroha bedeutet Liebe auf Maori – wird mit beiden Amtssprachen aufwachsen, Englisch und Maori. 15 Prozent der Bevölkerung machen die Nachkommen von Neuseelands Ureinwohnern aus, aber wenige beherrschen noch ihre Muttersprache. Bis 2025 soll Maori jedoch an allen Schulen unterrichtet werden. Ab 2022 steht zudem Neuseelands nationale Geschichte verpflichtend auf dem Lehrplan, nicht nur die weissgewaschene, sondern auch die koloniale, die Tausende im Land entrechtet hat.
Kurz: Mit einem einzigen Auftritt macht Jacinda Ardern das Private textbuchreif politisch.
Ikone für Empathie mit Musliminnen
Der Tag, der Jacinda Ardern zum true leader adelte, war der 15. März 2019, der dunkelste in der jüngsten Geschichte Neuseelands. Ein australischer Rechtsterrorist ermordete an diesem Freitag in zwei Moscheen in Christchurch 51 Menschen. Die Opfer waren Muslime, Flüchtlinge, Migrantinnen. «Sie haben Neuseeland zu ihrem Zuhause gemacht und Neuseeland ist ihr Zuhause. Sie sind wir», sagte Ardern in einer ersten Medienkonferenz nach dem Attentat, «die Person, die Gewalt gegen uns angewendet hat, ist es nicht.»
Ein paar Tage später sendet sie ein Signal, das von Millionen Menschen weltweit so schnell nicht mehr vergessen werden wird. In einem schwarzen Kopftuch mit goldfarbenem Saum besucht sie Vertreterinnen der muslimischen Community. Sie nimmt sie in den Arm, hört zu, tröstet. Im Prinzip eine einfache Geste. Aber so rar. In Zeiten, in denen ein amerikanischer Präsident Muslimen die Einreise in die USA verwehrt und europäische Staatschefs bei jeder Gelegenheit Stimmungsmache mit einem Stück Stoff machen, bekommt eine westliche Premierministerin, die im Hidschab Muslime umarmt, etwas Ikonenhaftes.
Dieses Mal schaffte es Ardern nicht nur auf das Cover von internationalen Nachrichtenmagazinen, sie schaffte es auch auf Häuserwände, verewigt in Graffiti, projiziert auf Wolkenkratzer. Das war kein hilfloses PR-Rumgestakse in Gummistiefeln, wie es für die Kameras praktiziert wird, wenn mal wieder eine Naturkatastrophe Existenzen weggeschwemmt hat. Hier sah ein internationales Publikum eine Politikerin, der Millionen die Empathie auch wirklich abnahmen – und die sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde.
Es blieb nicht bei Gesten und Worten. Einen Monat nach dem Attentat beschloss Neuseelands Parlament strengere Waffengesetze. Fast alle Abgeordneten – 119 von 120 – stimmten für ein Verbot von halbautomatischen Waffen. Ausserdem kippte Neuseeland im Oktober 2019 Teile seiner bis dahin diskriminierenden Flüchtlingspolitik. Die konservative Vorgängerregierung hatte beschlossen, dass Asylbewerber aus dem Nahen Osten und Afrika nur Anträge in Neuseeland stellen können, sofern sie bereits Familie im Land haben. Diese Bedingung erfüllten die wenigsten. Nun fiel diese Klausel. Zudem wurde die Flüchtlingsquote um 50 Prozent angehoben. Ab 2020 werden jährlich 1500 Menschen aufgenommen statt wie bisher 1000.
Mehr Marketing als Substanz
Nicht nur auf dem internationalen Parkett, auch zu Hause wird Ardern für diese Momente gefeiert, für ihre Kommunikation, ihr Krisenmanagement, ihre Bodenständigkeit. Auch in Neuseeland ist Jacindamania eingezogen. «Natürlich sind wir stolz, sie so auf der Weltbühne brillieren zu sehen, und werden ein bisschen nationalistisch», sagt Politologe Edwards. «Aber es besteht die Gefahr eines Backlashs, sobald sie als Teil einer kosmopolitischen liberalen Elite wahrgenommen wird, die sich mehr um Magazincover schert als um die Einkommensunterschiede in ihrem Land.»
Einige ihrer Pläne, die international als Meilensteine gelten, werden zu Hause als PR wahrgenommen, etwa ihr Wohlfühl-Haushaltsplan.
Als Ardern im Januar 2019 in Davos als erste Vertreterin einer westlichen Nation (Bhutan und die Emirate waren schon früher dran) die Einführung des wellbeing budget angekündigt hat, stand Neuseeland wieder als Pioniernation da. Die alten ökonomischen Metriken hätten ausgedient, befand sie. Ein hohes Bruttoinlandprodukt, eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein Budgetüberschuss sagten noch lange nicht alles aus über die Lebensrealität der Menschen. «Uns wird ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent prognostiziert, unsere Arbeitslosenrate ist bei 4,9 Prozent, wir haben einen Budgetüberschuss», sagte Ardern in Davos. «Das sieht gut aus, sagen uns die Leute, aber gleichzeitig haben wir eine gigantische Obdachlosigkeit, und die Suizidrate unter Jugendlichen gehört zu den höchsten in den OECD. Unsere mentale Gesundheit und unser Wohlbefinden sind nicht dort, wo sie sein sollten.»
Im folgenden Mai präsentierte Grant Robertson, Arderns Finanzminister, das neue wellbeing budget. 1 Milliarde Franken soll für psychische Gesundheit investiert werden, 500 Millionen für die Beseitigung der Kinderarmut und 185 Millionen für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und Gewalt in der Familie.
Ist Neuseeland nun der Hoffnungsträger für all die Demokratien, deren Wählerinnen die Eliten und Institutionen zunehmend abschreiben, weil sich ihre Lebensbedingungen trotz «Prosperität» nicht verbessern? Werden demnächst wieder Delegationen des Internationalen Währungsfonds nach Neuseeland pilgern, um es zu studieren?
«In Neuseeland weiss kaum einer, was das wellbeing budget sein soll», relativiert der Politologe Bryce Edwards. Zwar stimme die Mehrheit den Prinzipien eines Budgets zum Wohl aller zu, habe aber keine Vorstellung davon, inwiefern das aktuelle Budget wirklich anders sein soll als die bisherigen. Zudem hat Finanzminister Robertson schon angekündigt, aufgrund der Corona-Krise vom vorgestellten Plan abzuweichen. «Das wellbeing budget ist ein blumiges Konzept ohne programmatische Basis», sagt Edwards. Mehr Marketing als Substanz.
«Sie ist keine Visionärin»
Und genau hier beginnt die Kritik an der «netten» Jacinda. Wo genau ist sie politisch eigentlich zu verorten? Wofür steht Jacinda Ardern ausser für ihre kindness? «Wir wissen es nicht», sagt Edwards. «Sie ist wirklich sehr nett, aber sie ist im Grunde auch sehr konservativ, eine Pragmatikerin, wie man es sein muss, um politisch Erfolg zu haben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie als Vorbild taugt für die westlichen Sozialdemokratien. Dazu ist sie nicht ideologisch genug. Sie ist keine Visionärin.»
Dabei haben ihre Wählerinnen genau das erwartet: Visionen. Doch Ardern – so beurteilen das jedenfalls ihre Kritiker – blieb bisher hinter den Erwartungen. Ihre Biografin Madeleine Chapman betrachtet die bisherigen Leistungen ihrer Regierung als eher bescheiden. Die verlängerte Elternzeit, des Verbot von Plastiktüten, Gratis-Mittagessen für Kinder aus sozial schwächeren Familien, der verpflichtende Geschichtsunterricht in den Schulen, das Verbot der Öl- und Gasbohrungen vor Neuseelands Küste seien zwar positive Aktionen einer progressiven Regierung. «Aber», so Chapman im Interview mit dem «Sydney Morning Herald», «das ist nicht wirklich transformativ. Dabei wurde ihren Wählern genau das versprochen.»
Das wichtigste Versprechen, mit dem Arderns Labour Party 2017 in den Wahlkampf zog, konnte in den vergangenen drei Jahren nicht eingehalten werden: bezahlbares Wohnen für alle.
Neuseelands Wohnungsmarkt gehört zu den teuersten der Welt. Auckland, mit 1,4 Millionen Einwohnern die grösste Stadt des Landes, belegt hinter Hongkong, Sydney und Vancouver im Ranking der teuersten Städte der Welt den vierten Platz. Die Einwohner müssen das Zehnfache ihres Jahreseinkommens, das bei durchschnittlich 48’000 Franken liegt, für den Erwerb eines Hauses hinblättern.
Die Folge: miserable Wohnbedingungen und hohe Obdachlosigkeit. Ardern versprach, in den nächsten zehn Jahren 100’000 Häuser zu bauen. KiwiBuild heisst das Programm. Mit sozialem Wohnungsbau hat es jedoch nichts zu tun. Private Immobilienentwickler sollen Häuser bauen und an den Staat verkaufen, der sie dann zu einem günstigen Preis an Interessenten mit einem bestimmten Einkommen weiterverkauft. Bis jetzt ging der Plan nicht auf. Im September 2019 waren gerade einmal 258 Häuser fertiggestellt worden. Zu wenige Bürger hatten Interesse und das nötige Kapital für die KiwiBuild-Häuser.
Wofür Jacinda Ardern bisher die meiste Kritik zu Hause einstecken musste, war ihre Haltung zur Kapitalertragssteuer. Vor allem aus dem linken Lager stiess ihr «mangelnder Mut» auf Unverständnis. Im Wahlkampf hatte sie Stimmung gemacht für eine Steuer auf Kapitalgewinne. Neuseeland ist eines der wenigen Länder, die eine solche Steuer nicht kennen. Doch als es um die Einführung ging, blockte Ardern abrupt ab.
Und nicht nur das. Sie versprach nicht nur ein temporäres Nein zur Kapitalertragssteuer in ihrer Amtszeit als Premierministerin, sondern ein generelles Nein. Solange sie den Vorsitz der Labour Party innehabe, werde es diese Steuer nicht geben. Das war ein Schock für die Linke. Bis dahin konnte sich Ardern damit herausreden, dass die Juniorpartner ihrer Regierung, allen voran die Rechtspopulisten, eine Kapitalertragssteuer nicht akzeptieren würden. Jetzt wurde klar, dass Ardern selbst davon abgerückt ist.
Zweite Amtszeit für die «Mutter der Nation»?
Bei den derzeitigen Umfragewerten ist nicht ausgeschlossen, dass die Labour-Partei in Zukunft allein regieren könnte. Im September wird in Neuseeland gewählt. Und Arderns Corona-Krisenmanagement im Schlabberpulli über Facetime stösst auf Zustimmung. Schon Mitte März hatte Neuseeland die Grenzen geschlossen und ein Einreiseverbot für Touristinnen, Inhaber befristeter Visa, Studentinnen und Besitzer befristeter Arbeitsbewilligungen verhängt. Kurz darauf rief Ardern den Notstand aus und verkündete den Lockdown. Ihre leadership wurde anerkannt: In den Umfragen liegt sie derzeit bei 65, die Labour Party bei 55 Prozent.
Doch bis zur Wahl sind es noch knapp drei Monate, und Dankbarkeit ist bekanntlich keine politische Kategorie. Eine schwere Rezession steht an. Der Internationale Währungsfonds prognostizierte einen Einbruch der neuseeländischen Wirtschaft von 7,2 Prozent. Das Finanzministerium rechnet mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf knapp 10 Prozent. Ob sich leere Taschen und Mägen mit kindness allein abfertigen lassen, ist abzuwarten.
Für den Moment jedenfalls geht die Jacindamania ungebrochen weiter. Selbst Neuseelands Comedians können sich nicht dazu aufraffen, Ardern wirklich anzugreifen. So parodierte etwa Melanie Bracewell auf Tiktok, wie die Premierministerin im Lockdown ihre Reden an die Nation hielt – natürlich im Schlabberlook und mit Jacinda-Make-up. Arderns Reaktion war ganz jacindamässig: «Du hast mein Make-up besser hingekriegt als ich selbst.»
Bracewell konnte ihr Glück kaum fassen: «Die Mutter der Nation hat mich bemerkt. Ich bin gesegnet», wird sie im «Guardian» zitiert. «Ich mache mich ja eigentlich gar nicht lustig über sie. Ich versuche sie zu sein, weil sie so cool ist.»
Es ist gespenstisch, nicht einmal die Satiriker entkommen dem Ardern-Hype. Sie wissen nur zu gut, was sie an ihrer Premierministerin haben, wenn sie nur einmal über den Tellerrand schauen.