Eine bessere Werbung für Neuseeland gibt es nicht: Premier­ministerin Jacinda Ardern für die «Vogue» vor heimischer Kulisse. Derek Henderson

Her kindness

Machen Frauen die bessere Politik? Viele sehen in Neuseelands Premier­ministerin den Beweis. Jacinda Ardern führt ihr Land bereits durch die zweite tiefe Krise. Und «Jacindamania» ist ein weltweites Phänomen. Was taugt ihre Politik tatsächlich?

Von Solmaz Khorsand, 01.06.2020

Synthetische Stimme
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Jacinda Arderns grösste Stärke ist der Vergleich. Im Vergleich zu anderen Staatschefs macht Neuseelands Premier­ministerin vieles richtig.

Im Vergleich macht sie so ziemlich alles richtig.

Das ist nicht schwer, wenn der Vergleich Donald Trump, Boris Johnson, Narendra Modi, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin heisst. Allesamt Männer, die nicht zu den hellsten Sternen am demokratischen Firmament zählen – im Gegenteil, sie reissen es mit Gebrüll ein. So laut, dass jene, die es zu stützen versuchen, auf der Welt­bühne kaum gehört werden.

Bis auf eine: Jacinda Ardern.

«True leader» – «inspirational leader» – «empathetic leader».

So wird sie rund um den Globus bezeichnet. Von der Presse, von Hollywood, von Feministinnen, von all jenen, die der Davos-Altherren­club längst in die innere Emigration getrieben hat. Und dies nicht erst seit der Corona-Krise, durch die Ardern ihre Lands­leute mit scharfen Massnahmen und sanften Worten navigiert hat, sondern schon seit Beginn ihrer Amts­zeit vor drei Jahren.

Eine Millennial, die mit 39 Jahren einer Regierungs­koalition aus drei Parteien vorsteht. Eine Premier­ministerin, die als erst zweite weltweit – nach Pakistans Benazir Bhutto – in ihrer Amts­zeit ein Kind bekommt und jedem Kommentator, der sich herab­lassend über Mutterschaft und Beruf äussert, elegant das Wort abschneidet. Eine Regierungs­chefin, die als erste im Westen einen Haushalts­plan präsentiert, der nicht das Wirtschafts­wachstum in den Mittel­punkt rückt, sondern das Wohl­befinden der Bevölkerung. Eine weisse Regierungs­chefin, die jeden offiziellen Anlass in Te Reo Māori, der Sprache der diskriminierten Ureinwohner Neuseelands, beginnt.

Und eine Politikerin, die nach einem rechts­extremen Massaker mit 51 Toten die richtigen Worte, Gesten und vor allem Gesetze findet, um einer trauernden Nation den Weg zu weisen.

Skandinavien des Südpazifiks

Es ist eine Bilanz voll von erhebender Symbolik. Respekt flössen sie ein, die Berichte über Ardern, diese boden­ständige Person, die keine Gelegenheit auslässt, ihre Politik der kindness, der Güte, gebetsmühlen­artig unters Volk zu bringen. Wie eine Heilige wird sie auf ein Podest gestellt, wegweisend und vorbildhaft im Meer der politischen Irrlichter.

Das erstaunt in Anbetracht der Grösse, Geografie und Stellung Neuseelands. Ausgerechnet die Premier­ministerin eines kleinen Pazifik­staates am Ende der Welt, der nur zu gern auf Landkarten vergessen wird, gilt als Hoffnungs­trägerin des bankrotten Polit­betriebs. Ist Jacinda Ardern tatsächlich die wegweisende Ikone? Verdient sie das Podest, auf das sie gestellt wird?

Jein, lautet das Urteil von Arderns Lands­leuten. Für sie ist der Vergleich irrelevant. Für sie zählt nicht die Welt­bühne. Für sie zählen einzig und allein die Bedingungen in ihrem Land.

Auf den ersten Blick scheint in diesem alles perfekt zu sein. Neuseeland, eine parlamentarische Monarchie mit der Queen als Staats­oberhaupt, knapp sechsmal so gross wie die Schweiz, mit 5 Millionen Einwohnern, ist aufgeteilt in zwei Hauptinseln, den «Norden» und den «Süden».

Neuseeland gehört zu den Streber­nationen der Welt: sehr reich, sehr transparent, sehr demokratisch. Und zudem sehr progressiv: 1893 hat Neuseeland als erstes Land der Welt das aktive Frauen­wahlrecht eingeführt, wies schon vor Jacinda Ardern mit Jenny Shipley (1997 bis 1999) und Helen Clark (1999 bis 2008) zwei Premier­ministerinnen auf und hat eine lange Tradition sozialer Errungenschaften.

Wegen ihrer Unterstützung der LGBT-Bewegung erfolgte ihr Austritt bei den Mormonen: Jacinda Ardern 2018 an der Auckland Pride Parade. Fiona Goodall/Getty Images

Schon im 19. Jahr­hundert hatte das Land umfassende Weichen für seinen Wohlfahrts­staat gestellt, wofür es als «Soziallabor» von ausländischen Wissenschaftlern und Staats­männern besucht, bestaunt und studiert wurde. «Die Vorstellung von Neuseeland, einer gütigen Sozial­demokratie, eines Skandinaviens des Süd­pazifiks, ist tief verankert in der nationalen Kultur», schreibt der Autor Branko Marcetic im «Jacobin Magazine». Ähnlich wie die Amerikaner an ihrem American Dream festhalten, täten es die Kiwis mit ihrer Vorstellung von einem Neuseeland, in dem ein wohl­wollender Staat sich in jeder Lebens­lage um die Bürgerinnen kümmert.

Doch ähnlich wie der American Dream entspricht auch der Mythos des südpazifischen Skandinaviens nicht ganz der Realität. Neuseeland gehört heute zu den Industrie­nationen mit den grössten Einkommensunterschieden, der höchsten Obdach­losigkeit und der ausgeprägtesten Kinderarmut.

«Neuseeland ist kein Nirwana», sagt der Politik­wissenschafter Bryce Edwards, der zu Neuseelands Innen­politik an der Victoria University of Wellington forscht und unterrichtet. Den Wohlfahrts­staat, auf den alle so stolz seien, gebe es in der Form gar nicht mehr. «Neuseeland gehörte zu jenen Ländern, in denen neoliberale Reformen am radikalsten umgesetzt wurden», sagt Edwards.

Mehr Thatcher als Thatcher selbst

Ausgerechnet eine Labour-Regierung wurde zur Toten­gräberin des sozial­demokratischen Neuseelands. 1984 leitete sie einen radikalen Kurs­wechsel ein. Roger Douglas, Neuseelands damaliger Finanz­minister, war mehr Thatcher als Thatcher selbst. Der freie Markt würde alles regeln, was der träge, hoch verschuldete Staat verbockt hatte, war die Devise. Douglas strich von einem Tag auf den nächsten Subventionen und Steuer­vergünstigungen für die Bauern und verkaufte Staats­betriebe wie die Eisenbahn, die Telecom, Reedereien, die nationale Fluglinie und den Flughafen. «Rogernomics» nannten die Medien die Massnahmen, die nach der Wahl­niederlage von Labour 1990 von der neuen Regierung unter der konservativen National Party die nächsten neun Jahre fortgesetzt wurden. Sie kürzte das Arbeits­losen­geld, strich Sozial­leistungen und «entlastete» Unter­nehmen von den gewerkschaftlich ausverhandelten Kollektiv­verträgen.

Wieder galt Neuseeland als Labor. Wieder wurde es von Ausländern besucht.
Dieses Mal waren es jedoch die Vertreter neoliberaler Denk­schulen, die am Ende der Welt ihr ökonomisches Konzept auf Punkt und Komma umgesetzt fanden. Der Internationale Währungs­fonds und die Welt­bank organisierten Studien­trips nach Neuseeland, damit sich andere Länder ein Beispiel nehmen konnten an diesem schlanken, entschuldeten Staat, in dem alles so effizient zu laufen schien. Die «Financial Times», das «Wall Street Journal» und der «Economist» überschlugen sich in Lobes­hymnen für die grüne Insel.

Die Kehrseite des neoliberalen Traums schaffte es kaum auf die Titel­seiten der internationalen Wirtschafts­presse: Farmer, die nach dem Streichen aller Subventionen plötzlich vor dem Nichts standen und die Suizid­rate in die Höhe schnellen liessen; obdachlose Männer und Frauen, die in Wellington, Auckland und Christchurch in Garagen und Haus­eingängen übernachteten, weil sie sich keine Unter­kunft mehr leisten konnten. Es entstand eine nie da gewesene Einkommens­schere. War der Gini-Koeffizient – die Masszahl zwischen den oberen und den unteren Einkommens­schichten (bei der 0 für geringe Ungleichheit steht und 1 für eine sehr hohe) – von den Sechziger- bis zu den Achtziger­jahren konstant stabil zwischen 0,35 und 0,4, stieg er in den Achtzigern rapide an, bis er 1999 bei einem Höchst­wert von knapp über 0,5 lag.

Das Private textbuchreif politisch

In dieses Neuseeland ist Jacinda Ardern hineingeboren. Das hat sie geprägt, wie sie in Interviews sagt: die Schul­kameraden, deren Eltern nicht genug Geld hatten, ihren Kindern ein Mittag­essen einzupacken; die Nachbarn, die sich in den Alkohol und in Drogen flüchteten; einige, die sich gar das Leben nahmen.

Ein Kind der Achtziger­jahre, ist Ardern aufgewachsen im ländlichen Morrinsville und in Murupara, kleine Dörfer im Landes­inneren der Nord­insel. Die jüngere von zwei Töchtern eines Polizisten und einer Köchin in der Schul­cafeteria galt als Streberin, aktiv in der Schul­politik, im Debattier­klub, in der Gemeinde – «nicht cool, aber auch nie uncool», wie ihre Biografin Madeleine Chapman recherchierte.

Früh engagierte sich Ardern bei der Labour Party, arbeitete nach dem Abschluss ihres Politik- und Publizistik­studiums im Büro der Premier­ministerin Helen Clark, wurde später jüngste Abgeordnete im Parlament. Neun Jahre lang sass sie dort auf der Oppositions­bank, bis der wenig charismatische Labour-Chef Andrew Little wenige Wochen vor der Wahl 2017 zurücktrat und ihr den Vortritt überliess. Fast 37 Prozent holte sie für die Partei, ein dickes Plus von 12 Prozent. Ardern führte die Sozial­demokraten – als Zweitplatzierte hinter der konservativen National Party – in eine Koalition mit den zwei Klein­parteien, den Grünen und der rechts­populistischen New Zealand First.

Familienglück mit der knuddeligen Liebe auf dem Arm: Jacinda Ardern, Clarke Gayford, ein TV-Moderator, und Tochter Neve Te Aroha. Derek Henderson/Office of the Prime Minister of New Zealand via Getty Images

Mit einem Schlag war Ardern die weltweite Schlag­zeile. Jacindamania hatte begonnen. So jung, so Frau, und wenige Monate später auch noch so schwanger. «Vogue» feierte sie als den «Anti-Trump» und setzte sie Vogue-getreu mit viel Couture und Make-up in der neuseeländischen Landschaft in Szene. Amerikanische Talkshows luden sie auf die Couch und wollten sich einmal von einer echten Staats­chefin erklären lassen, was denn jetzt schwieriger sei: ein Land zu führen oder Windeln zu wechseln?

Ardern meistert jeden Auftritt. Bis heute. Nie ist sie genervt, pampig oder arrogant. Sie weiss aus jeder noch so intimen Frage politisches Kapital zu schlagen. Wenn Talkshow­moderatorinnen ihre knuddelige Tochter zum Thema machen, spricht sie über Familien­politik und wie ihre Regierung die bezahlte Eltern­zeit von 18 auf 26 Wochen erhöht hat. Wenn Late-Night-Onkel Stephen Colbert sie nach lustigen Anekdoten fragt, erwähnt sie, dass Wählerinnen sie beim Einkaufen von Schwangerschafts-BHs auf ihre Politik ansprechen, und enttabuisiert damit die Lebens­realität von Millionen von Frauen.

Wenn sie unter Blitzlicht­gewitter wenige Wochen nach der Geburt den Namen ihrer Tochter bekannt gibt, Neve Te Aroha, vergisst sie nicht, die Maori mit ins Rampen­licht zu rücken. Neve Te Aroha – te aroha bedeutet Liebe auf Maori – wird mit beiden Amts­sprachen aufwachsen, Englisch und Maori. 15 Prozent der Bevölkerung machen die Nachkommen von Neuseelands Ureinwohnern aus, aber wenige beherrschen noch ihre Mutter­sprache. Bis 2025 soll Maori jedoch an allen Schulen unterrichtet werden. Ab 2022 steht zudem Neuseelands nationale Geschichte verpflichtend auf dem Lehrplan, nicht nur die weiss­gewaschene, sondern auch die koloniale, die Tausende im Land entrechtet hat.

Kurz: Mit einem einzigen Auftritt macht Jacinda Ardern das Private textbuch­reif politisch.

Ikone für Empathie mit Musliminnen

Der Tag, der Jacinda Ardern zum true leader adelte, war der 15. März 2019, der dunkelste in der jüngsten Geschichte Neuseelands. Ein australischer Rechts­terrorist ermordete an diesem Freitag in zwei Moscheen in Christchurch 51 Menschen. Die Opfer waren Muslime, Flüchtlinge, Migrantinnen. «Sie haben Neuseeland zu ihrem Zuhause gemacht und Neuseeland ist ihr Zuhause. Sie sind wir», sagte Ardern in einer ersten Medien­konferenz nach dem Attentat, «die Person, die Gewalt gegen uns angewendet hat, ist es nicht.»

Ein paar Tage später sendet sie ein Signal, das von Millionen Menschen weltweit so schnell nicht mehr vergessen werden wird. In einem schwarzen Kopftuch mit gold­farbenem Saum besucht sie Vertreterinnen der muslimischen Community. Sie nimmt sie in den Arm, hört zu, tröstet. Im Prinzip eine einfache Geste. Aber so rar. In Zeiten, in denen ein amerikanischer Präsident Muslimen die Einreise in die USA verwehrt und europäische Staats­chefs bei jeder Gelegenheit Stimmungs­mache mit einem Stück Stoff machen, bekommt eine westliche Premier­ministerin, die im Hidschab Muslime umarmt, etwas Ikonenhaftes.

Dieses Mal schaffte es Ardern nicht nur auf das Cover von internationalen Nachrichten­magazinen, sie schaffte es auch auf Häuser­wände, verewigt in Graffiti, projiziert auf Wolkenkratzer. Das war kein hilfloses PR-Rumgestakse in Gummi­stiefeln, wie es für die Kameras praktiziert wird, wenn mal wieder eine Natur­katastrophe Existenzen weggeschwemmt hat. Hier sah ein internationales Publikum eine Politikerin, der Millionen die Empathie auch wirklich abnahmen – und die sogar für den Friedens­nobelpreis vorgeschlagen wurde.

Ein Bild wird zur Ikone: Jacinda Ardern umarmt wenige Tage nach dem Massaker in einer Moschee in Christchurch eine Muslimin. Hagen Hopkins/Getty Images

Es blieb nicht bei Gesten und Worten. Einen Monat nach dem Attentat beschloss Neuseelands Parlament strengere Waffen­gesetze. Fast alle Abgeordneten – 119 von 120 – stimmten für ein Verbot von halb­automatischen Waffen. Ausserdem kippte Neuseeland im Oktober 2019 Teile seiner bis dahin diskriminierenden Flüchtlingspolitik. Die konservative Vorgänger­regierung hatte beschlossen, dass Asyl­bewerber aus dem Nahen Osten und Afrika nur Anträge in Neuseeland stellen können, sofern sie bereits Familie im Land haben. Diese Bedingung erfüllten die wenigsten. Nun fiel diese Klausel. Zudem wurde die Flüchtlings­quote um 50 Prozent angehoben. Ab 2020 werden jährlich 1500 Menschen aufgenommen statt wie bisher 1000.

Mehr Marketing als Substanz

Nicht nur auf dem internationalen Parkett, auch zu Hause wird Ardern für diese Momente gefeiert, für ihre Kommunikation, ihr Krisen­management, ihre Boden­ständigkeit. Auch in Neuseeland ist Jacindamania eingezogen. «Natürlich sind wir stolz, sie so auf der Welt­bühne brillieren zu sehen, und werden ein bisschen nationalistisch», sagt Politologe Edwards. «Aber es besteht die Gefahr eines Backlashs, sobald sie als Teil einer kosmo­politischen liberalen Elite wahrgenommen wird, die sich mehr um Magazin­cover schert als um die Einkommens­unterschiede in ihrem Land.»

Einige ihrer Pläne, die international als Meilen­steine gelten, werden zu Hause als PR wahrgenommen, etwa ihr Wohlfühl-Haushaltsplan.

Als Ardern im Januar 2019 in Davos als erste Vertreterin einer westlichen Nation (Bhutan und die Emirate waren schon früher dran) die Einführung des wellbeing budget angekündigt hat, stand Neuseeland wieder als Pionier­nation da. Die alten ökonomischen Metriken hätten ausgedient, befand sie. Ein hohes Brutto­inland­produkt, eine niedrige Arbeits­losigkeit und ein Budget­überschuss sagten noch lange nicht alles aus über die Lebens­realität der Menschen. «Uns wird ein Wirtschafts­wachstum von 3 Prozent prognostiziert, unsere Arbeits­losen­rate ist bei 4,9 Prozent, wir haben einen Budget­überschuss», sagte Ardern in Davos. «Das sieht gut aus, sagen uns die Leute, aber gleichzeitig haben wir eine gigantische Obdachlosigkeit, und die Suizid­rate unter Jugendlichen gehört zu den höchsten in den OECD. Unsere mentale Gesundheit und unser Wohl­befinden sind nicht dort, wo sie sein sollten.»

Im folgenden Mai präsentierte Grant Robertson, Arderns Finanz­minister, das neue wellbeing budget. 1 Milliarde Franken soll für psychische Gesundheit investiert werden, 500 Millionen für die Beseitigung der Kinder­armut und 185 Millionen für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und Gewalt in der Familie.

Ist Neuseeland nun der Hoffnungs­träger für all die Demokratien, deren Wählerinnen die Eliten und Institutionen zunehmend abschreiben, weil sich ihre Lebens­bedingungen trotz «Prosperität» nicht verbessern? Werden demnächst wieder Delegationen des Internationalen Währungs­fonds nach Neuseeland pilgern, um es zu studieren?

«In Neuseeland weiss kaum einer, was das wellbeing budget sein soll», relativiert der Politologe Bryce Edwards. Zwar stimme die Mehrheit den Prinzipien eines Budgets zum Wohl aller zu, habe aber keine Vorstellung davon, inwiefern das aktuelle Budget wirklich anders sein soll als die bisherigen. Zudem hat Finanz­minister Robertson schon angekündigt, aufgrund der Corona-Krise vom vorgestellten Plan abzuweichen. «Das wellbeing budget ist ein blumiges Konzept ohne programmatische Basis», sagt Edwards. Mehr Marketing als Substanz.

«Sie ist keine Visionärin»

Und genau hier beginnt die Kritik an der «netten» Jacinda. Wo genau ist sie politisch eigentlich zu verorten? Wofür steht Jacinda Ardern ausser für ihre kindness? «Wir wissen es nicht», sagt Edwards. «Sie ist wirklich sehr nett, aber sie ist im Grunde auch sehr konservativ, eine Pragmatikerin, wie man es sein muss, um politisch Erfolg zu haben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie als Vorbild taugt für die westlichen Sozial­demokratien. Dazu ist sie nicht ideologisch genug. Sie ist keine Visionärin.»

Dabei haben ihre Wählerinnen genau das erwartet: Visionen. Doch Ardern – so beurteilen das jedenfalls ihre Kritiker – blieb bisher hinter den Erwartungen. Ihre Biografin Madeleine Chapman betrachtet die bisherigen Leistungen ihrer Regierung als eher bescheiden. Die verlängerte Eltern­zeit, des Verbot von Plastik­tüten, Gratis-Mittag­essen für Kinder aus sozial schwächeren Familien, der verpflichtende Geschichts­unterricht in den Schulen, das Verbot der Öl- und Gas­bohrungen vor Neuseelands Küste seien zwar positive Aktionen einer progressiven Regierung. «Aber», so Chapman im Interview mit dem «Sydney Morning Herald», «das ist nicht wirklich transformativ. Dabei wurde ihren Wählern genau das versprochen.»

Das wichtigste Versprechen, mit dem Arderns Labour Party 2017 in den Wahl­kampf zog, konnte in den vergangenen drei Jahren nicht eingehalten werden: bezahlbares Wohnen für alle.

Neuseelands Wohnungs­markt gehört zu den teuersten der Welt. Auckland, mit 1,4 Millionen Einwohnern die grösste Stadt des Landes, belegt hinter Hongkong, Sydney und Vancouver im Ranking der teuersten Städte der Welt den vierten Platz. Die Einwohner müssen das Zehnfache ihres Jahres­einkommens, das bei durchschnittlich 48’000 Franken liegt, für den Erwerb eines Hauses hinblättern.

Die Folge: miserable Wohn­bedingungen und hohe Obdachlosigkeit. Ardern versprach, in den nächsten zehn Jahren 100’000 Häuser zu bauen. KiwiBuild heisst das Programm. Mit sozialem Wohnungs­bau hat es jedoch nichts zu tun. Private Immobilien­entwickler sollen Häuser bauen und an den Staat verkaufen, der sie dann zu einem günstigen Preis an Interessenten mit einem bestimmten Einkommen weiterverkauft. Bis jetzt ging der Plan nicht auf. Im September 2019 waren gerade einmal 258 Häuser fertig­gestellt worden. Zu wenige Bürger hatten Interesse und das nötige Kapital für die KiwiBuild-Häuser.

Wofür Jacinda Ardern bisher die meiste Kritik zu Hause einstecken musste, war ihre Haltung zur Kapital­ertrags­steuer. Vor allem aus dem linken Lager stiess ihr «mangelnder Mut» auf Unverständnis. Im Wahl­kampf hatte sie Stimmung gemacht für eine Steuer auf Kapital­gewinne. Neuseeland ist eines der wenigen Länder, die eine solche Steuer nicht kennen. Doch als es um die Einführung ging, blockte Ardern abrupt ab.

Und nicht nur das. Sie versprach nicht nur ein temporäres Nein zur Kapital­ertrags­steuer in ihrer Amtszeit als Premier­ministerin, sondern ein generelles Nein. Solange sie den Vorsitz der Labour Party innehabe, werde es diese Steuer nicht geben. Das war ein Schock für die Linke. Bis dahin konnte sich Ardern damit heraus­reden, dass die Junior­partner ihrer Regierung, allen voran die Rechts­populisten, eine Kapital­ertrags­steuer nicht akzeptieren würden. Jetzt wurde klar, dass Ardern selbst davon abgerückt ist.

Zweite Amtszeit für die «Mutter der Nation»?

Bei den derzeitigen Umfrage­werten ist nicht ausgeschlossen, dass die Labour-Partei in Zukunft allein regieren könnte. Im September wird in Neuseeland gewählt. Und Arderns Corona-Krisen­management im Schlabber­pulli über Facetime stösst auf Zustimmung. Schon Mitte März hatte Neuseeland die Grenzen geschlossen und ein Einreise­verbot für Touristinnen, Inhaber befristeter Visa, Studentinnen und Besitzer befristeter Arbeits­bewilligungen verhängt. Kurz darauf rief Ardern den Notstand aus und verkündete den Lockdown. Ihre leadership wurde anerkannt: In den Umfragen liegt sie derzeit bei 65, die Labour Party bei 55 Prozent.

Doch bis zur Wahl sind es noch knapp drei Monate, und Dankbarkeit ist bekanntlich keine politische Kategorie. Eine schwere Rezession steht an. Der Internationale Währungs­fonds prognostizierte einen Einbruch der neuseeländischen Wirtschaft von 7,2 Prozent. Das Finanz­ministerium rechnet mit einem Anstieg der Arbeits­losigkeit auf knapp 10 Prozent. Ob sich leere Taschen und Mägen mit kindness allein abfertigen lassen, ist abzuwarten.

Für den Moment jedenfalls geht die Jacindamania ungebrochen weiter. Selbst Neuseelands Comedians können sich nicht dazu aufraffen, Ardern wirklich anzugreifen. So parodierte etwa Melanie Bracewell auf Tiktok, wie die Premier­ministerin im Lockdown ihre Reden an die Nation hielt – natürlich im Schlabber­look und mit Jacinda-Make-up. Arderns Reaktion war ganz jacinda­mässig: «Du hast mein Make-up besser hingekriegt als ich selbst.»

Bracewell konnte ihr Glück kaum fassen: «Die Mutter der Nation hat mich bemerkt. Ich bin gesegnet», wird sie im «Guardian» zitiert. «Ich mache mich ja eigentlich gar nicht lustig über sie. Ich versuche sie zu sein, weil sie so cool ist.»

Es ist gespenstisch, nicht einmal die Satiriker entkommen dem Ardern-Hype. Sie wissen nur zu gut, was sie an ihrer Premier­ministerin haben, wenn sie nur einmal über den Teller­rand schauen.