Die Eroberung der Westschweiz
Dies ist die traurige Geschichte des angekündigten Todes der Tageszeitung «Le Matin». Nachdem Tamedia den Krieg der Gratispresse gewonnen hat, übernimmt sie die Kontrolle der Westschweizer Edipresse – und setzt auch in der Romandie ihre Renditeerwartungen durch. Tamedia Papers, Kapitel 2.
Von Marc Guéniat (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Berto Martinez (Illustration), 10.12.2020
Der 4. Juli 2018 ist ein strahlender Tag. Die behaglichen Abendtemperaturen hoch über der Waadtländer Riviera bieten ideale Voraussetzungen, um sich in legerer Garderobe auf der Terrasse der Villa von Claude Nobs zu ergehen. Der Gründer des Montreux Jazz Festival verstarb 2013, aber sein Domizil ist heute Sitz der Festivalstiftung und gehört nach wie vor zu den Orten, an denen Macht, Geld, Kultur, Glanz und Glamour sich ein Stelldichein geben.
An jenem Abend begegnet Nuria Gorrite, Vorsitzende des Waadtländer Staatsrats, Tamedia-Verlagschef Pietro Supino. «Ganz zufällig», erzählt sie mit einem verstohlenen Lächeln. Man kommt ins Gespräch, die Atmosphäre ist herzlich, trotz der spannungsgeladenen Situation: Immerhin streiken die zum Zürcher Tamedia-Konzern gehörenden Redaktionen in der Romandie seit zwei Tagen aus Protest gegen die für den 21. Juli geplante Einstellung der Printausgabe von «Le Matin». Liegt es am erlesenen Buffet? Oder an der überwältigenden Aussicht auf den Genfersee und die Ausläufer des Chablais auf der französischen Uferseite? Wie auch immer – die sozialdemokratische Magistratin kann den Zürcher Verleger jedenfalls für die Idee gewinnen, dass die Kantonsregierung im Streit mit den Redaktionen vermitteln wird.
Zur Serie: Tamedia Papers – eine Familie, Geld, Macht und Medien
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.
Gorrites und Supinos Zusammentreffen weckt Hoffnungen. Die Hoffnung auf Deeskalation in einem Arbeitskampf, der bereits in vollem Gange ist. Und die Hoffnung, «Le Matin», einst eine der meistgelesenen Zeitungen der Westschweiz, könnte vielleicht doch noch gerettet werden.
Die Hoffnung währt nicht lange – exakt zwölf Tage. Dann schlägt Tamedia die Tür zu und erteilt den Vermittlungsbemühungen der Waadtländer Regierung eine Absage. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Es endet mit dem Aus der Zeitung mit dem orangefarbenen Logo und 41 Kündigungen.
Das Schicksal der Redaktion war an jenem warmen Juliabend im Sommer 2018 hoch über der Waadtländer Riviera längst besiegelt.
Ohne Rücksicht auf Verluste
Bereits seit Jahren schrieb «Le Matin Semaine» rote Zahlen. Laut Tamedia betrug der Verlust in den vorangegangenen zehn Jahren 34 Millionen Franken, davon 6,3 Millionen allein im Geschäftsjahr 2017. Werbeeinnahmen und Leserschaft, die beiden tragenden Säulen jeder erfolgreichen Zeitung, schrumpften stetig. «Das lässt nur den Schluss zu, dass die Verluste von 2017 nicht konjunkturbedingt waren», heisst es in einem unternehmensinternen Dokument, das die Republik und Heidi.news einsehen konnten.
Die Schwierigkeiten begannen um die Jahrtausendwende und verschärften sich mit dem 2005 einsetzenden «Krieg der Gratiszeitungen». Tamedia bringt zunächst eine Allianz mit Edipresse, dem damaligen Platzhirsch der Westschweizer Presselandschaft, ins Spiel – und schlägt vor, gemeinsam einen französischsprachigen Ableger von «20 Minuten» zu gründen. Edipresse verwahrt sich gegen diesen Einbruch in ihr Revier und geht seinerseits mit dem kostenlosen «Le Matin Bleu» an den Start, der sich an Pendler und junge Leserinnen richtet, während sein orangefarbener Namensvetter vor allem am Kiosk und per Zeitungsbox verkauft und in Cafés und Kneipen gelesen wird.
Der damalige Edipresse-CEO Tibère Adler, der spätere Mitbegründer und Herausgeber von Heidi.news, erinnert sich: «Dass die Gratispresse in die Suisse romande einfallen würde, war klar. Die Frage war nur, ob wir in diesem Markt aktiv mitmischen auf die Gefahr hin, unseren eigenen Titeln Konkurrenz zu machen; oder ob wir passiv bleiben und diesen Angriff von aussen über uns hinwegrollen lassen. Wir wollten Tamedia von der Expansion in die Westschweiz abbringen, denn uns war bewusst, dass der hiesige Markt für zwei Gratiszeitungen zu klein ist. Wäre ‹Le Matin Bleu› allein geblieben, hätte die Zeitung ein Erfolg werden können.»
Doch Tamedia liess sich nicht einschüchtern und brachte wenige Monate nach dem Start von «Le Matin Bleu» seinerseits «20 minutes» auf den Markt. Die Folge waren herbe Verluste für beide Verlagshäuser. Wie alle Zeitungen in der französischsprachigen Schweiz hatten die anderen Edipresse-Titel, allen voran «Le Matin», unter dem Kannibalismus in der Werbeindustrie zu leiden.
Zur verschärften Konkurrenzsituation kam der strukturell bedingte Rückgang der Werbeeinnahmen hinzu, der damals noch keine katastrophalen Ausmasse annahm, aber schon recht weit fortgeschritten war. Der «Krieg der Gratiszeitungen» zwischen «Le Matin Bleu» und «20 minutes» in der Westschweiz endete nach der grossen Transaktion von 2008, als Tamedia die schweizerischen Titel von Edipresse übernahm.
Aufseiten der Westschweizer hatte Tibère Adler die Fäden in der Hand und setzte die Strategie von Edipresse-Chef Pierre Lamunière in die Tat um. Schon bald nach der Transaktion wurde beschlossen, die Teams der beiden Gratiszeitungen unter dem Markennamen «20 minutes» zusammenzulegen, der unter Werbeaspekten im nationalen Massstab mehr Erfolg versprach. «Le Matin Bleu» war somit Geschichte.
Drei Jahre später – man schrieb das Jahr 2011 – übernahm Tamedia effektiv die Kontrolle über die Edipresse-Titel. Das Verhältnis zwischen dem zahlenfixierten Konzern aus Zürich und der aufmüpfigen «Le Matin»-Redaktion verschlechtert sich schon bald zusehends.
Der Vergleich mit Wawrinka und Federer
«Bei seinem ersten Besuch erklärte Pietro Supino, unsere Zeitung sei ‹exotisch›», erinnert sich Ludovic Rocchi, der als investigativer Journalist bei «Le Matin» zur Legende wurde und heute bei RTS arbeitet. Mit diesem Adjektiv benennt man normalerweise einen deutlichen Kulturunterschied, aber «das war spürbar nicht als Kompliment gemeint», sagt die Journalistin Mélina Schröter, heute Gewerkschafterin bei Syndicom.
Ludovic Rocchi war damals Vorsitzender der Redaktions- und Mitarbeitervertretung von «Le Matin». Er berichtet, dass der italienisch-schweizerische Verleger nicht der Einzige war, der sich unglücklich ausdrückte: «Bei einem Treffen sagte Tamedia-CEO Christoph Tonini uns mit einem Lachen: Im Vergleich zu ‹20 minutes› steht ihr so da wie Wawrinka im Vergleich zu Federer. Ihr müsst euch weiter mächtig ins Zeug legen und hart trainieren, wenn ihr am Ende gewinnen wollt.» Rocchi erwiderte Tonini: «Der Unterschied ist der, dass Wawrinka sich seinen Trainer aussuchen kann. Wir dagegen haben denselben Trainer wie Federer und sollen gewinnen. Das wird schwierig.»
Seit März 2013 forderte der Konzern von jedem Titel eine Rentabilität von 15 Prozent (im Finanzjargon «Ebitda», also der operative Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen). Viele halten eine solche Vorgabe für jede einzelne Publikation (statt für das Gesamtunternehmen) für astronomisch überzogen. Darauf kommen wir noch zurück.
In einem ersten Schritt setzte es in der Romandie Sparmassnahmen, die Tamedias Handschrift trugen. Einmal mehr übernahm Ludovic Rocchi die Rolle des Wortführers und reiste mit einem Pulk von Kolleginnen und Kollegen nach Zürich. An der Generalversammlung des Konzerns hielt er aus dem Stegreif eine Rede. Sein Schlusswort war eine Anklage und brachte in zwei Worten auf den Punkt, wie die Tamedia-Strategie von den Teams in Lausanne wahrgenommen wurde: «Etwas gierig.»
Das war 2013.
Am Ende des gleichen Jahres verliess Eric Hoesli, publizistischer Direktor der französischsprachigen Tamedia-Publikationen und ehedem Chefredaktor von «L’Hebdo» und «Le Temps», das Unternehmen urplötzlich. Die Gründe: persönliche Divergenzen mit der Unternehmensleitung und erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die Strategie.
Eric Hoesli soll vor seinem Abgang immerhin noch versucht haben, «Le Matin» zu retten. Er sei jedoch an Serge Reymond gescheitert, der damals als Vorsitzender der Geschäftsleitung von Edipresse und Mitglied der Tamedia-Unternehmensleitung sein Vorgesetzter in Lausanne war. «Um den Titel wieder auf die Beine zu bringen, habe ich mehrere Monate lang an einem Projekt gearbeitet. Serge Reymond fegte das Projekt vom Tisch und sagte: ‹In der Romandie geht es nicht um Innovation. Wir haben hier das Monopol.›» Man gibt Hoesli sehr deutlich zu verstehen, dass alle Kämpfe in der Deutschschweiz ausgefochten werden und die Suisse romande das importiert, was sich dort bewährt.
«Wir sind Söldner»
Die Abfuhr machte zugleich deutlich, dass Lausanne fortan nur noch eine Aussenstelle von Zürich sein und Serge Reymond dort das Sagen haben würde. Der Mathematiker hat einen Algorithmus entwickelt, mit dem sich die Leadership-Qualitäten in einem Team ermitteln lassen, und leitet ein Projekt mit einer Informatikschule in Lausanne. Reymond wurde in seiner Zeit bei Tamedia bisweilen als williger Vollstrecker der Zürcher Vorgaben wahrgenommen. Intern stand er für eine quantitätsorientierte Politik, deren Ziele sich restlos in Zahlen ausdrücken lassen und mit Unterstützung externer Berater festgesetzt werden. Auf Anfrage wollte Reymond unsere Fragen nicht beantworten.
Laut Eric Hoesli «fand sogar Serge Reymond die 15-Prozent-Gewinnvorgabe abwegig. Eines Tages sagte er zu mir: ‹Du und ich, wir sind Söldner. Wir müssen das hinnehmen und damit leben.› Journalismus interessierte ihn nicht im Geringsten.»
Ein führender Ex-Mitarbeiter von Tamedia, der anonym bleiben möchte, ist anderer Meinung: «Reymonds Aufgabe bestand darin, den Rahmen des wirtschaftlich Gangbaren abzustecken. In die redaktionelle Ausrichtung der Titel sollte er sich nicht einmischen. Es kann sein, dass ihm das als Desinteresse ausgelegt wurde. Diese etwas dümmliche 15-Prozent-Vorgabe kam übrigens de facto nie zur Anwendung.»
Was allerdings sehr wohl zur Anwendung kam: die Einschnitte, die sich aus dem anvisierten 15-Prozent-Ziel ergaben.
Unter Serge Reymond mehrten sich die Einschnitte – wie zum Beispiel 2016. In dem Jahr wurden bei «Tribune de Genève» und «24 Heures» 31 Stellen gestrichen, während CEO Christoph Tonini einen Rekord-Bonus von sechs Millionen Franken einstrich. Die Journalisten demonstrierten und schwenkten Transparente mit der Aufschrift «Tamedia tue vos médias» – Tamedia bringt eure Medien um.
2017 beschleunigte sich der Absturz der Werbeeinnahmen noch mehr und traf die gesamte Schweizer Presse. In den Verlagshäusern knirschte es im Gebälk. Im August kündigte Tamedia an, dass die Redaktionen von «Le Matin» und «20 Minutes» zum 1. Januar fusioniert werden. Sechs Mitarbeiter – alle von «Le Matin» – erhielten die Kündigung. «Alles wurde zusammengelegt, ausser der Werbung. Uns war klar, dass wir geschluckt werden», sagt die Journalistin und Gewerkschafterin Mélina Schröter.
Die Überlebenschancen des «Matin» schwanden unaufhaltsam; statt Investitionen gab es Personalabbau. Die Ära der schönen Scoops war vorbei. Dass «Le Matin» 1988 landesweit von sich reden machte, weil die Zeitung ein entscheidendes Puzzleteil in der Affäre um Elisabeth Kopp ans Licht brachte, schien Ewigkeiten her. Nach der Enthüllung in «Le Matin» musste damals die erste Bundesrätin der Schweizer Geschichte zugeben, dass sie ihren Ehemann vor strafrechtlichen Ermittlungen gegen ein von ihm geleitetes Unternehmen gewarnt hatte – und schliesslich zurücktreten.
Kurz vor Weihnachten 2017 bliesen die Westschweizer Redaktionen zum Angriff auf Serge Reymond: 91 Prozent der 198 Beschäftigten sprachen sich für ein symbolisches Misstrauensvotum gegen ihn aus. Ihre Proteste gingen über «Le Matin» hinaus und richteten sich auch gegen die Umstrukturierung von «Tribune de Genève», «24 Heures» und «Le Matin Dimanche», die einen Grossteil ihrer redaktionellen Eigenständigkeit an die «Rédaction T» abgeben mussten. Diese neue Organisation würde zum 1. Januar die Federführung für die Rubriken Welt, Schweiz und Wirtschaft übernehmen. Auch der Sport wurde «synergetisiert».
Die Reaktionen der Konzernleitung auf das Misstrauensvotum stellten die Journalisten des «Matin» nicht zufrieden. Am 27. März 2018 riefen sie die kantonale Einigungsstelle für kollektive Arbeitsstreitigkeiten des Kantons Waadt an. Sie forderten den Erhalt des «Matin». Die Tamedia AG stritt ab, die Printausgabe einstellen zu wollen, doch das nahm ihr niemand ab.
Unverkäuflich
Einen Monat später gingen die Gewerkschaften am Rande der Generalversammlung des Konzerns in die Offensive und rechneten vor: «In den vergangenen Jahren haben die Beschäftigten von Tamedia einen kumulierten Gewinn von 1,5 Milliarden Franken erwirtschaftet.» In Form von Dividenden und Boni «flossen 500 Millionen Franken aus dem Unternehmen ab statt in Investitionen.» Tamedia hingegen will zwischen 2014 und 2018 «im Schnitt» 800’000 Franken pro Jahr in «Le Matin» investiert haben, den Ausgleich der aufgelaufenen Verluste nicht eingerechnet.
Im Mai 2018 feierte Tamedia sein 125-Jahr-Jubiläum mit grossem Pomp in Dübendorf bei Zürich. Die Westschweizer boykottierten die Feierlichkeiten und verschmähten – mit Ausnahme einiger Führungskräfte und anderer Mitarbeiterinnen – den für den hohen Anlass gecharterten Sonderzug.
Bittere Ironie des Schicksals: 2018 feierte auch «Le Matin» (der bis 1984 «Tribune de Lausanne» hiess) sein 125-jähriges Bestehen. Für die Printausgabe sollte es das Abschiedsjahr werden. Am 6. Juni kam der Verwaltungsrat in Lausanne zusammen. Tags darauf rückte die Direktion mit der Schockmeldung heraus: Mit «Le Matin» als gedruckter Zeitung ist es aus und vorbei.
«Manche brachen in Tränen aus, andere verliessen den Saal, knallten die Tür hinter sich zu oder meldeten sich krank. Für mich gab es nur eine Option: kämpfen», erzählt Thierry Brandt, heute Chef vom Dienst bei Arcinfo.ch und einer der wenigen der «41 du Matin», die wieder einen Job im Journalismus gefunden haben.
Noch am gleichen Tag liess Tamedia verlauten, dass «Le Matin» in eine «100-prozentige Onlinemarke» umgewandelt wird – mit einem 15-köpfigen Team. Im Klartext bedeutete das 41 Entlassungen.
Die Redaktion sann über mögliche Lösungen nach, doch alle Vorschläge wurden von der Direktion abgeschmettert. Erhalt der «Le Matin»-Printausgabe? Ein Katalog von 25 schon umgesetzten Massnahmen sollte intern den Beweis liefern, das sei «unmöglich». Mehr Innovation? Der Titel hatte doch mit Sicherheit schon am stärksten von den «internen Synergien» profitiert. Diebstahlsichere Zeitungsboxen installieren? (Der Zeitungsklau, der in der Romandie «coulage» heisst, belief sich auf 85 Prozent.) Bringt nichts ein. Senkung des Einzelverkaufspreises? Würde das Problem verschärfen. Vor allem weigerte Tamedia sich, den Titel zu verkaufen. Schon 2012 hatte sie ein Kaufangebot der Ringier-Gruppe abgelehnt.
Aus den Sitzungsprotokollen geht hervor, dass die Stimmung zwischen den Redaktionen und der Tamedia-Führung extrem angespannt war. Thierry Brandt macht aus seiner Wut, ja seinem «Hass», rückblickend kein Hehl und resümiert: «Es war keinerlei Dialog möglich. Sie wollten den Stecker ziehen.»
Am 27. Juni wurden die Gespräche beendet. Tamedia wollte den Prozess beschleunigen und einen Sozialplan aushandeln. Tags darauf wurden an zwei Tagen nacheinander die Mitarbeiterinnen einzeln über ihre Kündigung informiert.
Nachdem man alle Beschäftigten entlassen hatte, wurden sie ermuntert, sich auf eine der 15 Stellen in der künftigen Redaktion von lematin.ch zu bewerben. Warnend wurde gleich dazugesagt: «Wir wollen niemanden, der sich nur bewirbt, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Wir wollen motivierte Leute.»
Zwei Journalisten, denen ein besonders wichtiger Stellenwert zugeschrieben wurde, bekamen eine sogenannte Änderungskündigung: Ihnen wurde angeboten, die gleiche Arbeit künftig für 80 statt 100 Prozent des bisherigen Gehalts zu erledigen. «Mir wurde schnell klar, dass ich dieses Angebot nicht annehmen konnte. Implizit hätte das bedeutet, dass ich die Firma 31 Jahre lang über den Tisch gezogen hätte», erklärt einer der beiden, der einst für die Auto- und Motorsportseiten verantwortliche Philippe Clément.
Wilde Drohungen
Die hell empörten Westschweizer Redaktionen stellten Tamedia daraufhin ein Ultimatum. Bis zum 3. Juli sollte das Unternehmen seine Beschlüsse rückgängig machen und vor allem die Kündigungen zurücknehmen. Ansonsten werde man die Arbeit niederlegen. Die Direktion blieb hart, und es kam zum angedrohten Streik.
Die Konfrontation wurde öffentlich ausgetragen: Demonstration, Pressemitteilungen, politische Vorstösse. Bei Tamedia brannte die Hütte. Die Journalistin Mélina Schröter erinnert sich: «Die Reaktion war heftig. Wir bekamen eine giftige Mail. Von der Chefetage kamen wilde Drohungen.» Mehrere Gesprächspartner äusserten Zweifel, ob der Streik überhaupt rechtmässig sei und einer Klage standhalten würde.
So war die Sachlage, als Nuria Gorrite am Rande des Montreux Jazz Festival Pietro Supino über den Weg lief und ihn dafür gewinnen konnte, einem Vermittlungsversuch der waadtländischen Regierung zuzustimmen. Tags darauf begab sie sich zusammen mit ihrem Staatsratskollegen Philippe Leuba in einen Saal unweit der Place de la Riponne in Lausanne, hier hatten sich die zum Weiterstreiken entschlossenen Redaktionen versammelt. Die Staatsrätin konnte sie dazu bewegen, wieder an die Arbeit zu gehen. Im Gegenzug setzte Tamedia die Kündigungsfrist der Entlassenen aus.
Im Juli fanden mehrere Mediationssitzungen statt. Nach der letzten Sitzung äusserten sich Nuria Gorrite und Philippe Leuba frustriert, die Gespräche seien festgefahren. Da die Ferien vor der Tür standen und die Sommerferien lockten, wurde das nächste Treffen für den 2. August anberaumt. Die Terminwahl war nicht unerheblich, denn sie kam Tamedia teuer zu stehen: Jeder Monat, der ins Land ging, bedeutete einen Monat Kündigungsaufschub.
Hatte der Konzern den Eindruck, in eine Falle getappt zu sein? Jedenfalls erklärte Tamedia am 16. Juli in einem Schreiben an den Staatsrat die Vermittlung einseitig für beendet und verlor in dem Schreiben kein Wort des Dankes an die Regierung; als gelte es, den Affront auf die Spitze zu treiben.
«Das legt den Schluss nahe, dass das Verlagshaus den Staatsrat benutzt hat, um dem Streik ein Ende zu setzen», glaubt Nuria Gorrite heute.
Vier Monate später geisselte der Staatsrat in der Antwort auf eine Interpellation in öffentlicher Sitzung des Grossen Rates das Verhalten von Tamedia. So hart wie in dieser Sitzung ist wohl noch keine kantonale Exekutive mit einem «Sozialpartner» ins Gericht gegangen. «Soweit die Erinnerung zurückreicht, wurde der Staatsrat noch nie mit einer solchen Haltung konfrontiert», wetterte Nuria Gorrite. Nach Aussage der Behörden wurde die Vermittlung «abrupt» aufgekündigt. Das Verlagshaus habe sich gegen jeden Vorschlag gesperrt, für den es von seinen ursprünglichen Beschlüssen hätte abrücken müssen. Das Fazit fiel vernichtend aus: «Das Unternehmen verhielt sich gleichgültig und respektlos gegenüber der Belegschaft, von der Geringschätzung der Institutionen ganz zu schweigen.»
Kein Millimeter
Am Samstag, dem 21. Juli 2018, erschien «Le Matin» ein letztes Mal – mit der sachlichen Schlagzeile «Chagrin», Kummer.
Der Konflikt ging weiter und wurde alles andere als sachlich geführt.
Ende August hatte Tamedia den Streik noch immer nicht verwunden und wollte den Streikenden in allen Redaktionen die Gehälter kürzen. Der Chefredaktor der «Tribune de Genève», Pierre Ruetschi, weigerte sich, die Namen an die Konzernleitung in Zürich weiterzugeben. Das war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Wenige Tage später wurde er vor die Tür gesetzt, nachdem er zwölf Jahre lang an der Spitze der «Tribune» gestanden und den Grossteil seiner Laufbahn bei dieser Zeitung verbracht hatte. Noch in derselben Woche nahm die Investigativjournalistin Sophie Roselli den Hut. Sie hatte drei Monate zuvor die Affäre um den Genfer Staatsrat Pierre Maudet ans Licht gebracht. Roselli erklärte im Kündigungsschreiben, sie könne nicht länger für einen Konzern arbeiten, dessen Werte sie nicht mehr teile.
Im Herbst 2018 war immer noch kein Sozialplan verabschiedet, obwohl «die 41 von Le Matin» bereits auf der Strasse standen. Es galt, die Entscheidung des Schiedsgerichts im August 2019 abzuwarten.
«Ich habe lange für das IKRK gearbeitet, in Kriegsgebieten», erklärt Michel Chavanne, der «die 41» anwaltlich vertrat. «Selbst in extrem angespannten Situationen gab es immer eine Tür, die offen blieb für Verhandlungen. Nicht so bei Tamedia: Zwischen Ende Juni 2018 und dem Schiedsgerichtsurteil hat das Unternehmen sich keinen Millimeter bewegt.»
Das Schiedsgericht urteilte, dass die 41 Beschäftigten von «Le Matin» Anspruch auf einen besseren als den von Tamedia angebotenen Sozialplan haben. Die Kosten wurden auf 3,5 Millionen Franken veranschlagt; das waren 2,7 Prozent der Gewinne, die der Konzern 2018 erwirtschaftet hatte. Ganz ausgestanden ist der Streit allerdings bis heute noch nicht. Uneinigkeit besteht nach wie vor in der Frage, wie der Sozialplan angewendet werden soll. Tamedia stellt sich auf den Standpunkt, die Sozialabgaben müssten von den Entschädigungssummen abgezogen werden.
Pietro Supino erklärte im Oktober 2019 auf RTS, der Arbeitskampf sei «von allen Beteiligten nicht gut ausgetragen» worden. Serge Reymond war im Mai 2019 aus dem Konzern ausgeschieden.
Weder die TX Group noch Pietro Supino antworteten auf unsere Fragen.
Eine Auskunftsperson dieses Beitrags, der ehemalige publizistische Direktor der französischsprachigen Tamedia-Publikationen, Eric Hoesli, steht wegen einer Enthüllungsgeschichte über seine Nähe zum schwedischen Milliardär Frederik Paulsen (dessen Firma Ferring International Center SA Heidi.news eine nicht zweckgebundene Schenkung von 250’000 Franken zukommen liess) mit der Tamedia-Zeitung «24 Heures» in einem zivilrechtlichen Verfahren, das noch läuft. Hoesli wird ab 2021 nach dem Zusammenschluss von «Le Temps» und Heidi.news Verwaltungsratspräsident des Unternehmens.