Wie ein Biss ins Meer
Die Reise auf die Kanaren fällt dieses Jahr aus. Also wird daraus ein Trip in die Erinnerung. Das Ziel: «papas arrugadas», legendäre Kartoffeln mit Natriumchlorid. «Geschmacksache», Folge 11.
Von Michael Rüegg (Text) und Silvio Knezevic (Bilder), 01.12.2020
Erst hatte ich Hoffnung, dann fuhr ich diesen Herbst doch nicht wie geplant auf die Kanarischen Inseln. Die Gründe dafür überlasse ich der Leserin. Meine letzte Reise auf die Inselgruppe im Atlantik liegt siebzehn Jahre zurück. Damals, mitten im Winter, war ich kurz davor, eine neue Stelle anzutreten. Wie üblich lag da noch Guthaben auf meinem Ferienkonto. Doch wohin, im Januar? Mein damaliger Partner und ich fuhren nicht Ski. Wollten an die Wärme, aber nicht zu weit weg. Und Wärme findet sich in vernünftiger Distanz eigentlich nur vor Westsahara, auf ein paar Inseln, die zu Spanien gehören.
Das Hotel war alles andere als eine Augenweide, das Essen im Speisesaal ungeniessbar, und das Publikum auf Teneriffa bestand mehrheitlich aus zwei Gruppen: Pauschalreisende, die sich am unteren Ende der Maslowschen Bedürfnispyramide orientierten, sowie etwas gediegenere ältere Ehepaare, die konsequent nur die Farbe Beige trugen, dafür in allen Schattierungen. Letztere waren angenehm, weil unauffällig. Sie machten ausschliesslich lange Spaziergänge am Wasser.
Wir begegneten der Trostlosigkeit unseres Daseins, indem wir ein Auto mieteten und die Hotelburgen hinter uns liessen. Der Rest der Insel entpuppte sich als charaktervoll. Wir besuchten alte Dörfer, irre Landschaften und Cafés, in denen die Zeit vor Jahrzehnten stehen geblieben war.
Ein Kaffee wie gutes Opium
Meine Reise ist nun um ein Jahr verschoben, ich setze grosse Hoffnungen in die Impfindustrie. Um mir emotional etwas über die Runden zu helfen, trinke ich täglich einen cortado leche y leche. Diesen Kaffee hatten wir damals auf Teneriffa entdeckt. Er besteht aus einer Schicht Kondensmilch, einem Espresso und etwas Milchschaum. Meist lasse ich den Milchschaum aus Bequemlichkeit weg, dann heisst das Getränk eigentlich café bonbon. Aber leche y leche, «die zwei Milche», klingt lustiger. Und ja, Milche ist der Plural von Milch.
So geht das: Einfach einen Fingerbreit Kondensmilch in ein sehr kleines Glas geben, langsam den Espresso drüberlaufen lassen. Fortgeschrittene pappen eine dünne Schicht Milchschaum drauf. Und nun versuchen Sie mal, nicht nach dem ersten Schluck süchtig zu werden.
Schon während der Serie «Corona-Cooking» im Frühling wies ich darauf hin, dass Lebensmittel gegen Fernweh helfen. Jetzt, wo wir alle mehrheitlich daheimbleiben, müssen wir uns die Erinnerungen an grössere und kleinere Sehnsuchtsorte halt auf den Teller oder ins Glas holen.
Klein, hässlich und deliziös
Auf Teneriffa entdeckten wir damals eine Zubereitungsart für Kartoffeln, die uns sehr entzückte. Das Resultat heisst papas arrugadas, also runzlige Kartoffeln. Es handelt sich dabei um im Meerwasser gekochte Härdöpfeli. Falls Sie keinen Ozean zur Hand haben, stellen Sie Ihr Salzwasser selber her, mit Meersalz. Das heisst in Übersee übrigens kosher salt, weil es frei ist von Zusätzen wie Jod. Der Salzgehalt des Kochwassers ist sehr hoch, dieser Umstand macht die Kartoffeln runzlig. Am Ende lässt man das Restwasser verdampfen, und es bildet sich eine sehr dünne Salzschicht. Dazu isst man roten oder grünen mojo, eine Salsa, die mehrheitlich aus Peperoni besteht.
Leider eignen sich längst nicht alle Kartoffeln für diese Zubereitung. Und das hat System. In den Nullerjahren haben die Grossverteiler in der Schweiz Millionen in Kampagnen investiert, um der Schweizer Bevölkerung beizubringen, dass es zwei Arten von Kartoffeln gibt: die in der grünen und die in der blauen Verpackung. Die einen sind festkochend, die anderen mehligkochend.
Dieser penetrante Hang zur Vereinfachung war verheerend für die Artenvielfalt (zumal schon bald auch rote und braune Verpackungen wieder gang und gäbe waren). Meine Grossmutter wusste noch, dass sich Bintje und Désirée für Härdöpfelstock eignen. Welche festkochenden Sorten es damals gab, entzieht sich meinem Wissen. Es scheint, als ob immer weitergezüchtet worden wäre. Die Vielfalt ist dabei nicht wirklich vorangekommen, der Geschmack hatte sich wohl Produktions- und Lagerfaktoren unterzuordnen.
Auf den Kanarischen Inseln hingegen ist die Kartoffel heilig. Seit dem 16. Jahrhundert werden dort allerlei alte Sorten angebaut, einige so klein wie Kirschen – und nichts für geizige Menschen. Damit kann der Schweizer Kartoffelmarkt nicht im Geringsten mithalten.
Für papas arrugadas suchte ich kleine Kartoffeln, möglichst rund und mit einer etwas robusteren Haut. Supermärkte schloss ich zum Vornherein aus. Ausser «Amandine» und «La Ratte» findet man dort selten kleine Kartoffeln. Und die beiden haben eine zu dünne Haut. Auf dem grossen Wochenmarkt in Zürich-Oerlikon war die Ausbeute nicht besser. Ich ging von Stand zu Stand, meine Laune sank im Minutentakt. Dann fand ich einen Anbieter aus dem Tessin, der kleine, runde, rötlich violette Kartoffeln mit weissem Fleisch anbot. Nach dem Namen der Sorte fragte ich jedoch vergeblich, zuckende Schultern. Nicht mal mehr der Fachhandel weiss noch, dass Kartoffeln Namen tragen.
Last Exit Feinkostabteilung
Hätte der Markt nichts hergegeben, wäre ich wohl gezwungen gewesen, mein Sparkonto zu leeren und zur Jelmoli-Foodabteilung an der Zürcher Bahnhofstrasse zu fahren. Soweit ich das beurteilen kann, ist sie das einzige Geschäft weit und breit, das ein wirklich schönes Angebot an Härdöpfeli hat und auch diverse urtümliche Sorten führt. Wer im Raum Zürich wohnt und auf Märkten nicht fündig wird, kann sein Glück dort versuchen. (Wer weitere Einkaufstipps für Kartoffelfetischistinnen zur Hand hat, ist eingeladen, sie unter den Kommentaren mit Mitleidenden zu teilen.) Ich betrete den Jelmoli übrigens nicht besonders gern. «Ich bin ein Globus-Kind», sage ich immer.
Auf alle Fälle liegen in der Feinkostabteilung die Kilopreise um ein Vielfaches höher als anderswo. Doch reden wir hier auch nicht von einem profanen Grundnahrungsmittel, sondern von einer Delikatesse: der Kartoffel in ihrer vollendeten Zubereitungsform. Einfach nur mit Wasser und Meersalz. Da ist der Eigengeschmack von enormer Bedeutung.
Papas arrugadas mit mojo lassen sich einfach so essen. Oder mit Fleisch und Fisch vom Grill als Beilage dazu. Ich habe eine Kalbsnuss im Ofen gegart, mit Butter. Wer angeben und beim Thema Spanien bleiben möchte, kann ein Schweinsfilet von der iberischen Pata-Negra-Sau kaufen und es am Stück garen. Zwar die falsche Inselgruppe, aber Covid macht ja heutzutage alles gleich, was hinter St. Margrethen liegt.
Das unten stehende Rezept reicht für vier Personen, sofern man noch Proteine dazu serviert. Andernfalls lieber etwas grosszügiger rechnen.
Rezept: Zwei Mojos, einmal rot, einmal grün, und die Papas
Zutaten für mojo rojo: 2 rote Peperoni, 3–4 grosse Peperoncini, ca. 1 dl Olivenöl, 4 Knoblauchzehen, 1 EL Tomatenmark, 2 EL Weinessig, 1 EL Kreuzkümmel, 1 EL scharfes Paprikapulver, Salz und schwarzer Pfeffer.
Für mojo verde: 2 grüne Peperoni, 1 Bund Peterli, 1 Bund Koriander, 1 TL getrockneter Thymian, ca. 1 dl Olivenöl, 2 EL Weinessig, Salz und schwarzer Pfeffer.
Für die papas arrugadas: 1,2 kg sehr kleine, festkochende, aromatische, nicht zu dünnschalige Kartoffeln sowie 300 g Meersalz.
Für beide mojos verfährt man gleich: Peperoni (und beim rojo Peperoncini) entkernen, mit den restlichen festen und flüssigen Zutaten im Mixer pürieren. Lieber zu Beginn etwas weniger Öl und Essig nehmen und bei Bedarf nachjustieren.
Mit Salz und Pfeffer würzen, bis der Geschmack als befriedigend wahrgenommen wird. (Vorsicht beim Salz, die Kartoffeln werden auch noch was davon auf den Teller tragen.) In Gläser oder Schüsseli abfüllen und einige Stunden kühl stellen. Etwa eine Stunde vor dem Servieren aus dem Kühlschrank nehmen, damit sie nicht zu kalt sind.
Die Kartoffeln gut waschen, vor allem, wenn noch Erde an der Schale sein sollte. In einen hohen Topf geben und Salz dazuleeren. Wasser so weit auffüllen, dass die Kartoffeln gerade bedeckt sind.
Zum Kochen bringen. Nach einer Weile probieren, ob sie gar sind. Das sollten sie sein, aber noch nicht zu weich, sonst gibts Kartoffelmatsch.
Nun das Salzwasser abgiessen, ein ganz kleiner Rest sollte auf dem Topfboden verbleiben. Zurück auf den Herd stellen, bei mittelhoher Temperatur. Das restliche Wasser wird nun verdampfen, es entsteht eine dünne Schicht «Salzsirup» auf dem Topfboden.
Während das Restwasser verdampft, zwei-, dreimal vorsichtig mit dem Deckel auf dem Topf schütteln, damit sich der Salzsirup auf allen Kartoffeln etwas verteilt.
Auf dem warmen Herd noch zwei Minuten trocknen lassen. Die Kartoffeln sollten runzlig sein, eine weissliche Salzschicht sollte sie umgeben.
Zusammen mit den mojos sowie allfälligem Fleisch oder Fisch servieren.
Die Zunge dankt fürs Salz
Natriumchlorid ist eine grossartige Substanz. Sie bringt nicht nur den Eigengeschmack einer Speise hervor, sie pimpt auch Wein auf. Wenn zum Beispiel Ihr Schwippschwager wieder einmal einen viel zu jungen Bordeaux auftischt, dessen Tannine sich wie Schmirgelpapier auf Ihre Zunge legen – lassen Sie ein paar Körnchen Fleur de Sel im Mund zergehen, der Wein wird gleich viel umgänglicher.
Zu unseren papas arrugadas bieten sich jedoch vor allem Weissweine an. Der Versuch, diesen Herbst einige kanarische Weisse zu verkosten, scheiterte natürlich an dem Erreger, über den viel zu viel geschrieben wird. Vielleicht finden wir im Keller noch einen Verdejo von herausragender Qualität, oder wir lassen irgendwo eine Flasche Galizier aus der Region Rías Baixas mitgehen, während das Personal mit der SAP-Kundenhotline telefoniert. Aus Rías Baixas kommt die Albariño-Traube. Aus ihr gibt es klare, vibrierende Tropfen, die wie ein Pfeil in die Mitte treffen. Manche simpel, andere komplex. Nie falsch ist zu den Peperoniaromen, wie sie in den mojos sind, ein Sauvignon blanc. Auch in Spanien erfreut sich die Traube mittlerweile einer gewissen Beliebtheit.