«Die Angst vor dem Virus lähmt die Wirtschaft, nicht die Massnahmen»

Der Ökonom Lorenz Küng versteht die Schweiz nicht mehr. Warum wird nicht stärker gegen die Verbreitung des Virus vorgegangen, auch mit einem Shutdown? Dies, sagt er, wäre die beste Wirtschaftspolitik – und käme langfristig viel günstiger.

Ein Interview von Olivia Kühni (Text) und Adam Higton (Illustration), 01.12.2020

Lorenz Küng ist ein nüchterner Mensch. Der Ökonom lehrt an der Universität Lugano und konzentriert sich üblicher­weise darauf, in hohem Tempo auf inter­nationalem Spitzen­niveau zu forschen. Dabei geht es, wie seine Publikationsliste zeigt, unter anderem darum, wie sich Steuern oder das Finanz­verhalten von Privat­haushalten auf die gesamte Wirtschaft auswirken.

Doch seit Wochen beschäftigt den Wissenschaftler der Umgang der Schweiz mit der Pandemie. So sehr, dass er kürzlich in einem offenen Brief in der FAZ gemeinsam mit 60 anderen Ökonominnen einen Teil-Shutdown ähnlich jenem in der ersten Welle forderte – aus volkswirtschaftlichen Überlegungen, mit ökonomischen Argumenten.

«Was zum Teufel», fragte er kürzlich, «ist nur los mit der Schweiz?»

Auf unsere Interview­anfrage schreibt Küng innert weniger Stunden zurück, er nimmt sich noch am nächsten Tag Zeit und gibt seine Antworten wiederum sofort frei. Für ihn sei eine Lehre aus dieser Krise, hielt Küng ebenfalls vor wenigen Wochen fest, dass Sozial­wissenschaftler wie er viel besser darin werden müssten, ihre Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Herr Küng, Schweizer Wirtschafts­vertreter verlangen regelmässig eine zurück­haltende Politik im Umgang mit dem Corona­virus. Sie fordern in Ihrem offenen Brief das Gegenteil. Warum?
Wenn Sie von Wirtschafts­vertretern sprechen, dann meinen Sie Lobbyisten. Wir sind über 60 Volks­wirtschafts­professoren, also Forscherinnen, die an Schweizer Universitäten in allen Landes­teilen lehren. Wir betrachten die Wirtschaft als Ganzes. Wir schauen uns die gesamte Bevölkerung an, also Arbeit­geberinnen wie Arbeit­nehmer, Selbstständig­erwerbende, Rentnerinnen, Kinder, und wir betrachten die Entwicklung über die Zeit, nicht nur kurzfristig. Das ist eine völlig andere Perspektive.

Und aus dieser Perspektive sind Sie alarmiert?
Bei hohen Fallzahlen, wie wir sie jetzt haben, leidet nicht nur die Gesundheit der Menschen, auch die Volks­wirtschaft nimmt Schaden. Man kann dem nicht ausweichen, indem man zuwartet. Im Gegenteil: Kurzfristig hat man zwar einen Nutzen, weil beispiels­weise Umsätze erhalten bleiben. Gleich­zeitig aber steigen die langfristigen Kosten mit der Ausbreitung des Virus exponentiell – Konsum­einbruch, Arbeits­ausfälle, Gesundheits­kosten und vieles mehr. Die beste Wirtschafts­politik ist darum, das Virus unter Kontrolle zu bringen und die Fallzahlen tief zu halten. Das kostet langfristig weniger.

Eine Mehrheit der Ökonomen weist seit Monaten darauf hin – oft vergeblich –, dass Gesundheit und Wirtschaft in dieser Situation kein Widerspruch seien.
Ja. Es gibt bei Fallzahlen in dieser Höhe keine Güter­abwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft.

Wenn man Ihnen auf Twitter folgt, sieht man: Sie ärgern sich über die Qualität der Debatte in der Schweiz. Was stört Sie?
Ich war bis vor wenigen Wochen nicht aktiv auf Twitter. Das ist sehr neu für mich. Aber es erlaubt mir, die ökonomischen Erkenntnisse zur Pandemie, die wir laufend sammeln – gemeinsam mit Volkswirten aus allen Ländern –, mit einem breiteren Publikum zu teilen. Mich stört sehr, dass die politische Debatte oft von solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen losgelöst ist. Man lässt Aussagen einfach unbelegt im Raum stehen.

Zum Beispiel?
Beispielsweise die Sichtweise, dass es die Massnahmen sind, die der Wirtschaft schaden – und nicht das Virus selber. Dabei zeigen Daten aus verschiedensten Ländern, dass der Konsum eingebrochen ist, bevor Staaten Massnahmen ergriffen. Die Angst vor dem Virus lähmt die Wirtschaft, nicht die Massnahmen, die die Bevölkerung davor schützen. Mir fehlt auch eine stärkere Führung und Kommunikation des Bundesrats unter Mithilfe der Kantone und Bundesämter.

Sie sehen den Bund stärker in der Pflicht?
Ich bin normaler­weise ein grosser Befürworter von Föderalismus. Aber wir haben es hier mit einem Ausnahme­zustand zu tun. Ausserdem mit dem, was Ökonomen «Externalitäten» nennen: Alles, was ein einzelner Kanton tut oder unterlässt, hat starke Auswirkungen auf die Menschen in den jeweiligen Nachbar­kantonen. Er wird auf diese aber wenig Rücksicht nehmen, weil das nicht seine Wähler sind. Also muss man das eine Ebene höher lösen.

Das betrifft auch die Kosten: Jeder Kanton schaut für sich. Müsste der Bund mehr bezahlen?
Ja. Aus ökonomischer Sicht ist klar, dass der Bund die Finanzierung der Krise übernehmen müsste. Wichtig ist insbesondere, dass er das Contact-Tracing und das Testing übernimmt. Jeder Franken, den er in diese Infrastruktur investiert, spart nach konservativer Schätzung der Volks­wirtschaft 200 Franken an Kosten ein. Das sind Zahlen, die sich jeder Unter­nehmer wünschen würde! Hinzu kommt, dass sich der Bund zurzeit zu negativen Zinsen neu verschulden kann – der Finanzmarkt trägt sogar noch einen Teil der Kosten mit. Um diese Pandemie zu überstehen, gibt es keinen besseren Ort und wohl fast keinen besseren Zeitpunkt in den letzten 200 Jahren als die Schweiz im Jahr 2020. Wir sollten diese Ausgangs­lage besser nutzen.

Was die Unternehmen betrifft, ist einer der Schwach­punkte im System: Das Epidemien­gesetz sieht offiziell keine Entschädigungen vor für Betriebe, die schliessen müssen. Das erschwert die Akzeptanz. Und es verkompliziert alles, weil die Politik stattdessen irgend­welche Ersatz­programme wie Subventionen oder Nothilfen verabschieden muss.
Einverstanden. Das ist eine Schwach­stelle des Gesetzes. Aber das ist normal, man kann nicht jede Eventualität im Voraus planen. Da mache ich der Politik keinen Vorwurf. Das lässt sich korrigieren.

Trotzdem: Braucht es eine Entschädigung?
Natürlich. Es braucht eine grosszügige, wenn auch nicht vollständige Entschädigung der betroffenen Branchen. Indem sie geschlossen bleiben, erweisen sie uns allen einen grossen öffentlichen Dienst. Das muss entschädigt werden. Sonst sehen sich Firmen gezwungen, offen zu bleiben, weil sie sonst schlicht in Konkurs gehen. Das ist doch verständlich. Solche flächen­deckenden Konkurse wären eine volks­wirtschaftliche Katastrophe.

Manche Leute argumentieren, man solle jetzt keinesfalls Firmen retten, die sowieso Bankrott gemacht hätten. Wie beurteilen Sie diese Haltung?
Sie ist vollkommen falsch und sehr gefährlich. Sie wird auch nur von einer sehr kleinen Minderheit am Rande unseres Fachs geteilt – wenn auch von vielen Schweizer Politikern und Lobbyisten. Diese Haltung war einer der Gründe, warum aus einer Rezession in den 1930ern eine Weltwirtschafts­krise entstanden ist. Wir sollten keinesfalls den gleichen Fehler wieder machen. Ja, wir unterstützen damit ein paar Firmen, die sonst Bankrott gemacht hätten: In der ersten Welle lagen die Insolvenzen tiefer als im Vorjahr. Dass wir diesen sehr kleinen Teil der Unter­nehmen mitretten, ist der Preis, den wir zahlen müssen, um viel schlimmere Übel zu verhindern.

Sie plädieren für Grosszügigkeit?
Ja, und zwar gegenüber Unter­nehmen wie Arbeit­nehmern. Es gibt aus volks­wirtschaftlicher Sicht keinen Grund, Kapital und Arbeit­nehmerinnen unter­schiedlich zu behandeln.

Bundesrat Ueli Maurer zeigt sich seit Beginn der Pandemie immer wieder besorgt über die hohen Rechnungen, die auf den Staat zukommen. Ist es so falsch, sparen zu wollen?
Man spart unter anderem, um in schlechten Zeiten eine Reserve zu haben. Das ist genau die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Die Schweiz hat in den letzten 20 Jahren stark gespart und hat heute im Vergleich zu ihrer Wirtschafts­kraft eine der tiefsten Staats­verschuldungen. Sie ist halb so hoch wie die von Deutschland, und Deutschland wird vom Rest der Welt für seine fiskal­konservative Haltung beneidet. Nun haben wir ein Jahr­hundert­ereignis. Wann sollten wir uns verschulden, wenn nicht jetzt? Dies ist eine temporäre Krise. Wir versuchen nicht, ein strukturelles Defizit mit Staats­schulden zu decken. Und die Schulden­bremse bleibt weiter in Kraft.

Die Regel, die den Bund verpflichtet, in der Hoch­konjunktur dann wieder die Ausgaben zu senken.
Genau.

Wird es höhere Steuern brauchen, um die Krise zu finanzieren?
Wenn wir von nun an eine gute Politik machen, dann glaube ich nicht, dass das nötig sein wird. Es ist einfach zu sehen, warum nicht. Wir können uns jetzt über die nächsten 50 Jahre zu negativen Zinsen von etwa minus 0,5 Prozent verschulden. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Wirtschaft in normalen Zeiten nach der Krise wieder jährlich um 2 bis 3 Prozent wachsen wird. Das heisst: Der Finanz­markt schenkt uns etwa ein Viertel unserer Schuld, und unser Wirtschafts­wachstum wird mehr als genügend hoch sein, um den Rest zurück­zubezahlen, ohne die Steuer­sätze zu erhöhen.

Zum Schluss dies. Man kommt nicht umhin festzustellen, dass es die SP ist, die eine Konjunktur­politik wie aus dem Lehrbuch vorantreibt – nicht die bürgerlichen Parteien. Sie selber nannten das vor einer Woche «ein Armuts­zeugnis für die liberale Politik». Wie erklären Sie sich das?
Das ist mir auch rätselhaft. Ich bin erst vor einem Jahr in die Schweiz zurück­gekehrt nach 13-jährigem Aufenthalt in den USA, und es hat sich vieles verändert. Auch in der Medien­landschaft. Ich habe meine Theorien, aber ich bin kein Experte, deshalb behalte ich die für mich. Es bringt auch nichts, jetzt mit den Fingern auf andere zu zeigen: Wir sitzen alle im gleichen Boot, das wir nun gemeinsam durch diesen Sturm manövrieren müssen.

Zum Gesprächspartner

Lorenz Küng ist Assistenzprofessor für Ökonomie an der Università della Svizzera italiana (USI) in Lugano. Zuvor war er Assistenz­professor an der Kellogg School of Management und Research Economist bei der Fed in Chicago. Küng ist spezialisiert auf die Ökonomie von Privat­haushalten, öffentliche Finanzen und angewandte Makro­ökonomie. Die Fragen wurden schriftlich gestellt. Die Antworten geben Küngs Meinung wieder, nicht jene der Gruppe von rund 60 Ökonomen, die den offenen Brief unterzeichnet haben.