Der Feind, äh Freund an meiner Grenze
Die Beziehung zwischen der Schweiz und Liechtenstein wird immer wieder von seltsamen Missverständnissen belastet – wie damals, als die Armee aus Versehen ins Ländle einmarschierte. Serie «Grenzerfahrungen», Folge 7.
Von Ronja Beck (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 02.10.2020
Wir sitzen im Büro von Hansjörg Büchel an einem langen Tisch, ein Messmeter liegt auf der Tischplatte, jawoll, der nötige Abstand ist eingehalten, und gelüftet wird auch noch. Büchel trägt ein kurzärmliges Karohemd, das so gebügelt ist, wie ein Hemd nur gebügelt sein kann, er spricht ruhig, es ist angenehm, als hinter uns die Bomben niedergehen.
«BHO-BHRROMMMMM!»
Das Fenster zeigt eine Wand aus Wald, nicht weniger dicht als vor dem Knall, und leise sich im Wind wiegende Bäume. Dorfidylle mit der Tonspur eines Spielberg-Blockbusters.
«Das ist das Militär», sagt Büchel so, als wäre das für ihn immer noch sehr angenehm. «Das ist unser Berührungspunkt mit der Schweiz.»
«Und, ähm, das hören Sie jeden Tag?»
«Immer, wenn sie schiessen. Der Waffenplatz soll sehr gut ausgebucht sein.»
«RÄTÄTÄTÄTÄ!» Dröhnende Sturmgewehr-Salven untermalen Büchel.
«Stört Sie das nicht?»
«Es ischd halt äfach aso.»
Hansjörg Büchel, gebügelter Vorsteher der Gemeinde Balzers (in Liechtenstein sagt man Vorsteher und nicht Präsident), gibt sich irgendwas zwischen ergeben und resignierend, es ist schwierig zu deuten. Es ist auf jeden Fall keine Aufregung zu spüren beim bald 60-Jährigen. Mit locker gefalteten Händen sitzt er in seinem Büro, während hinter ihm die Fenster wackeln.
Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.
Folge 2
Die Geschichte der Grenzen
Folge 3
Die Tessiner Raststätte Coldrerio
Folge 4
Fleischliche Versuchung
Folge 5
Die deutsche Exklave Büsingen
Folge 6
Streit am Bodensee
Sie lesen: Folge 7
Gemeinde Balzers, Liechtenstein
Die Schweizer lieben das Ballern an der Grenze, und das schon über Generationen hinweg. Hansjörg Büchel erinnert sich, wie er als Kind vom Stubenfenster aus die Leuchtspurmunition bewunderte. Vermutlich vom Alpdorf Guscha hätten sie diese hinabgefeuert.
Damals war das faszinierend. Heute: Es ischd äso.
Dumm nur, dass es gleich bei der Grenze äso ischd.
Auf einem Pass in Graubünden, umgeben von Bergen, die das Geballer vom Waffenplatz St. Luzisteig in einer schönen Schneise direkt nach Balzers geleiten, diese Arschlochberge.
Das sind nicht Büchels Worte. Dabei hätte der Gemeindevorsteher allen Grund zu fluchen, verdammt!
Denn so eng sich die beiden Kleinstaaten wirtschaftlich und rechtlich stehen mögen: In Sachen Militär ist es kompliziert. Liechtenstein hat grundsätzlich keine Armee, wie übrigens rund 25 Staaten auf der Welt. Und dann gab es in der Vergangenheit diese, nun, Vorfälle.
Zum Beispiel, als das Schweizer Militär den grössten Waldbrand in der Geschichte des Ländles entfacht hat.
Alles wegen 50 ballernder Offiziere
Ein Versehen, natürlich. Aber in Kauf genommen hat man den Brand irgendwo schon.
Es ist der 5. Dezember 1985. Hansjörg Büchel, damals 24-jährig und Lehrer, ist als Samichlaus verkleidet in Balzers unterwegs. Ein Föhn geht, Balzers ist dafür ja bekannt, «für den Föhn und das langsame Sprechen», sagt Büchel ziemlich langsam, aber an diesem Tag ist der Wind fieser als gewöhnlich.
In Vaduz misst man Böen von bis zu 95 Kilometern pro Stunde. Ein veritabler Föhnsturm. Auf 22,2 Grad hoch peitscht er das Thermometer an diesem Dezembertag.
Samichlaus Büchel macht in Balzers seine Tour wie geplant. Von Haus zu Haus geht er, von Familie zu Familie, um den Kindern in der Stube aus seinem grossen Buch zu lesen. Und draussen, da brennt der Wald.
Hansjörg Büchel erzählt: «Da war diese riesige Feuerwand den Wald hinauf. Die Kinder hatten Angst, ich würde nicht kommen, weil das Haus des Nikolaus vielleicht abgebrannt sei. Immer, wenn ich eine Familie verlassen habe, hab ich in den Wald geschaut: Ist das Feuer gewachsen? Nach meiner Tour habe ich die ganze Nacht im damaligen Hotel Restaurant Post verbracht. Leute von Militär und Feuerwehr haben sich dort verpflegt.»
Einen eigenen Radiosender hatten die Liechtensteiner damals noch nicht. Und so habe man sich halt «von Mund zu Mund» Gerüchte und Werweissungen weitergereicht. Was wirklich geschehen war: unklar. Sicher war: «Die Leute hatten eine riesige Wut aufs Militär», sagt Hansjörg Büchel.
Am Morgen des 6. Dezember bricht der Föhn zusammen. «Gott sei Dank», sagt Büchel noch heute. Die Flammen hatten sich bis 30 Meter vor die ersten Wohnhäuser von Balzers gekämpft. Auf ihrem Weg töteten sie keinen Menschen, dafür frassen sie sich durch 115 Hektaren Wald. Das entspricht 160 Fussballfeldern, die meisten auf Schweizer Boden, aber in Balzner Besitz – eine historisch bedingte Aussergewöhnlichkeit.
Gut 1000 Einsatzkräfte waren im Einsatz, ein leidenschaftlicher Liechtensteiner stieg gar trotz Sturm in den Helikopter und liess das Löschwasser aus der Luft hinab.
Danach brauchte es 30 Jahre, mehrere Bundesratsbesuche, eine Sonderkommission für den Waffenplatz und gesamthaft fast 6 Millionen Franken aus der Bundeskasse, bis die Schäden annähernd wieder eliminiert waren.
Und das alles wegen 50 ballernder Offiziere. Zu Übungszwecken hatten sie auf dem Waffenplatz bei der Kaserne St. Luzisteig Raketen aus ihren Rohren geschossen. So weit, so normal. Dafür war der Waffenplatz ja da, daran waren die Balzner gewöhnt. Auch wenn ihnen der Argwohn zwischen den Rippen zwickte.
Das Zeuseln der Schweizer gefiel den Balznerinnen noch nie. Die Region hatte wegen des teuflischen warmen Windes immer wieder mit Feuersbrünsten zu kämpfen. Die Schweizer Armee hatte bereits vor jener im Jahr 1985 Wiesen und ein kleineres Waldstück in Brand gesetzt.
1969, also 16 Jahre vor dem Waldbrand, hatte man die Schiesszeiten auf St. Luzisteig eingeschränkt und scharfe Munition verboten. Die Gespräche zwischen Eidgenossenschaft und Fürstentum liefen deutlich flüssiger, nachdem die Armee 1968 das Liechtensteiner Bergdorf Malbun mit fünf Granaten beschossen hatte. Die Rohre in Sargans waren falsch ausgerichtet gewesen. Die Granaten detonierten glücklicherweise 300 Meter über dem Boden, als Metallsplitter rieselten sie auf die Dorfbewohner hinab.
Das Abkommen zum Waffenplatz sollte nun für etwas Entspannung sorgen. Bis zum Jahr 1985, als ein erstarkter Föhn über die flammenden Wiesen fegte und die Funken in den trockenen Nadelwald trug.
«Jetzt schiessen sie halt»
Und wie steht es um das Verhältnis zum Schweizer Militär heute? «Wenn man anruft, wird man freundlich behandelt», sagt Büchel. Er könne nichts Negatives sagen, so generell. Ein Waldbrand wie 1985 sei dank neuen Massnahmen wie einem Verantwortlichen beim Militär, der bei starkem Wind die Übungen absagt, praktisch ausgeschlossen.
Der Waffenplatz ennet der Grenze ist aber noch da. Unüberhörbar. «Wer will schon einen Waffenplatz neben sich haben», fragt Büchel rhetorisch. Und schiebt, er ist ein Diplomat, folgenden Satz nach: «Nach meinem Geschmack müssten sie nicht auf der Luzisteig schiessen. Aber jetzt schiessen sie halt. Und ich meine, es ist vermutlich ihr gutes Recht, das zu tun.»
Der Pragmatismus des Gemeindevorstehers übertönt an diesem Morgen selbst die lautesten Maschinengewehrsalven. Dabei ist der Waffenplatz für die Balzner gleich doppelt ärgerlich. Sie haben nur den Lärm, aber nicht den Umsatz, den Soldaten normalerweise bei ihren Ausgängen so generieren. Schliesslich trinken keine Schweizer Soldaten ihr Bier in Liechtenstein – sie dürfen für gewöhnlich in Grün doch nicht über die Landesgrenze.
Wobei, mindestens einmal taten sie das trotzdem.
Die Invasion
2007 war das. In einer Märznacht machten sich 170 Soldaten von der Kaserne St. Luzisteig auf zur Bündner Grenzgemeinde Fläsch. Es war dunkel, Landschaft war Landschaft, ob Eidgenossenschaft oder Ländle, es sah nun mal alles gleich aus. Es dauerte zwei Kilometer, bis der Kommandant realisierte, dass er hier gerade eine Invasion befehligte: Seine Kompanie marschierte, upsi, auf Liechtensteiner Boden.
Der «Blick» nahm die Geschichte dankbar auf. Im Titel das glorreiche Zitat eines Soldaten: «Es war alles so dunkel dort!»
Im Ländle sah mans gelassen. «Es ist ja nicht so, als wären sie mit Kampfhelikoptern hierhergestürmt», sagte ein Sprecher des Innendepartements. Der verantwortliche Kommandant entschuldigte sich trotzdem noch in einem Brief beim Fürstentum. Und der Rest der Welt, der amüsierte sich im «Guardian» oder bei der australischen ABC ob der kuriosen Schlagzeile zur Strebernation Schweiz. Oder in der «New York Times», die titelte: «Swiss Miss», Schweizer Fehlschuss (geschrieben übrigens vom Schweizer Schriftsteller Peter Stamm).
«In den internationalen Medien wurde mehr darüber geschrieben als in Liechtenstein selber», sagt Christian Frommelt und hält zwei seiner Finger eine Daumenlänge auseinander. «So viel stand bei uns in der Zeitung.»
Wir sitzen in einem kleinen Forschungsinstitut auf einem Hügel in einem Weiler namens Bendern. Christian Frommelt, stechender Blick, ist Politikwissenschaftler und Direktor des Liechtenstein-Instituts. Sein Auftrag: zu einem «besseren Verständnis des liechtensteinischen Staates» beitragen. So steht es auf der Website des Instituts. Beste Adresse für gwundrige Schweizerinnen also.
«Das Thema Schweizer Militär trifft im Land nicht auf eine grosse Resonanz», sagt Frommelt nun.
Augenfällig, findet er.
Ja, augenfällig, so in Anbetracht von Granatenbeschuss und Waldbrand. Und in Anbetracht dessen, was uns zum nächsten Vorfall bringt: des Stück Landes, um das die Schweiz ihre Nachbarn vor über 70 Jahren geprellt hat.
Gebt uns euren Felsvorsprung
Es war in den Dreissigerjahren, die Nazis in Deutschland gelangten gerade an die Macht, als der Blick der Schweizer vermehrt auf einen Felsvorsprung an der südwestlichen Spitze Liechtensteins fiel: das Ellhorn. Dieser war für die Armee strategisch wichtig, sollte der Feind aus dem Osten kommen. Eine Gefahr, die mit Österreichs Anschluss ans Dritte Reich 1938 imminent wurde.
Während nun die Schweiz die Festung Sargans, eine der wichtigsten Festungen, in derselben Ecke baute, feilschte sie mit den Liechtensteinern um ihr Ellhorn. Am Ende erfuhren dummerweise die Deutschen von den Gesprächen und drohten mit einer Intervention.
Nach Kriegsende lief die Diskussion ums Ellhorn wieder heiss. Liechtenstein stand da mit 2,6 Millionen Franken in der Kreide, für den Kleinstaat eine Unmenge. Die Eidgenossenschaft hatte das Ländle in den Kriegsjahren zum Teil auf Pump mit Lebensmitteln versorgt und brachte jetzt die Rechnung zu Tisch.
Nachdem die Schweiz gedroht hatte, Liechtenstein aus ihrem Zollgebiet zu werfen, unterschrieben die beiden Staaten 1948 schliesslich den Grenzvertrag. Die Schweiz erliess Liechtenstein dabei zwei Drittel ihrer Schuld – und erhielt, zum Unmut der Balzner, dafür das Ellhorn.
Dass die Schweiz Liechtenstein zusätzlich eine genau gleich grosse Fläche überschrieb, die, anders als das Ellhorn, sogar bebaubar war: egal. Die Schweiz hatte Liechtenstein erpresst, diese Geschichte war geschrieben.
Und die politischen Folgen im Fürstentum, die waren – inexistent. «Die Verstimmung wurde nicht für irgendeine Form der Anti-Schweiz-Bewegung instrumentalisiert», sagt Christian Frommelt. «Die Liechtensteiner sind in solchen Sachen sehr pragmatisch.»
Da ist er wieder, dieser Pragmatismus. Der sich, um beim Militär zu bleiben, schon 1868 in ganzer Grösse zeigte, als Liechtenstein beschloss, das mit der Armee einfach sein zu lassen, ja, weg damit. Die 80 Mann hatte man sowieso nur, weil das der Deutsche Bund verlangte, dem man angehörte. Als der Staatenbund 1866 passé war, war die Liechtensteiner Armee wenig später auch passé. Sie war einfach zu teuer.
Schwierig, so aus Schweizer Warte.
Keine eigenartigen patriotischen Reflexe
Frommelt, der für eine 2016 erschienene Studie die Sicherheitspolitik im Land untersucht hat, erklärt: «Wenn ich sage, dass die Schweiz und Liechtenstein sich in ihrer Identität sehr ähnlich sind, gilt das für zwei Aspekte nicht: für die Bahninfrastruktur. Und für das Militär.»
Im Ländle verstehe man oft nicht, was die Schweizerinnen da für einen Wind machen würden um ihr Militär. Diese eigenartigen patriotischen Reflexe, sobald die Sprache darauf falle, sagt Frommelt: «Diese Reflexe fehlen den Liechtensteinern natürlich vollkommen.»
Trotzdem wäre es falsch zu sagen, dass die Liechtensteinerinnen keinerlei Wertschätzung hegten für die Männer und Frauen in Grün. Vor allem beim Bevölkerungsschutz, so Frommelt, existieren Arrangements, um welche die Liechtensteiner froh sind. Dank einem Abkommen von 2005 kann Liechtenstein bei der Schweizer Armee um Hilfe bitten, bei Erdrutschen zum Beispiel oder – Waldbränden.
Erst vergangenen April gelobte die Schweiz, bis zu 16 Sanitätssoldaten nach Liechtenstein zu schicken, sollten diese im Kampf gegen Covid-19 benötigt werden.
Hilfe von den Schweizern in Grün – die erhoffte man sich in Liechtenstein schon vor 80 Jahren. Im Zweiten Weltkrieg war ein Gedanke im Ländle weitverbreitet: Sollte es hart auf hart kommen und die Nazis plötzlich vor der Tür stehen, würden die Schweizer Soldaten schon helfen kommen.
Nun – dem war nicht so.
Erst nach der Jahrtausendwende wurde dank Recherchen des renommierten Historikers Peter Geiger öffentlich, dass es eine solche Abmachung nie gab. Die Schweiz hätte nur Truppen über die Grenze geschickt, hätte sie das Land zu Verteidigungszwecken gebraucht.
Aber Liechtenstein allein zu Hilfe eilen? Ha, Neutralität, vergesst es.
Daran geglaubt wurde trotzdem. Vielleicht war auch dieser Glaube dem Pragmatismus der Liechtensteiner geschuldet. Vielleicht macht er die Geschichte ums Schweizer Militär erst komplett.
Weil er bedeutete, dass man im Ländle nicht nur die Eigenheiten seiner Freunde ertrug. Sondern weil man glaubte, dass sie einem irgendwann doch noch nützen würden. Auch wenn dem nicht immer so war.