Grenzerfahrungen am Rand der Schweiz
Mit der Personenfreizügigkeit verloren die Schweizer Landesgrenzen an Bedeutung. Die Pandemie und die bevorstehende Abstimmung über die Begrenzungsinitiative der SVP rücken sie wieder in den Fokus. Auftakt zur Serie.
Von Bettina Hamilton-Irvine, 25.08.2020
1935 Kilometer: So lange ist die Aussengrenze der Schweiz. 800 Kilometer teilen wir mit Italien (inklusive der Enklave Campione d’Italia), 585 mit Frankreich, 364 mit Deutschland (inklusive der Enklave Büsingen und des Bodensees), 180 mit Österreich und 41 mit Liechtenstein.
Die Grenze markiert die Stelle, wo sich etwas ändert: die Sprache, die Währung, die Telefonvorwahl, die Autokennzeichen, die Steckdosen, die Löhne, die Bräuche, manchmal auch das Essen und der Humor. Trotzdem ist sie meist unsichtbar.
In der Schweiz ist die Grenze zudem in den letzten Jahren auch immer weniger wahrgenommen worden. Mit der Personenfreizügigkeit hat sie an Bedeutung verloren, da wir uns in Europa mittlerweile so frei bewegen können wie EU-Bürger.
Das hat die Pandemie geändert: Plötzlich waren wir wieder von unseren Nachbarn getrennt, plötzlich standen wieder Zäune an den Grenzen, plötzlich waren wir wieder auf uns gestellt, eingegrenzt, ausgegrenzt, säuberlich eine Linie entlang. Liebespaare und Familien wurden getrennt, Kontrollen durchgeführt, Reisen abgesagt. Von einem Tag auf den anderen waren die Landesgrenzen wieder sehr präsent, die Grenzen.
Zumindest dieser Effekt der Pandemie – dass wir uns mehr abschotten und dass die Grenzen zu unseren Nachbarn wieder wichtiger werden – ist ganz im Sinne der SVP, die mit ihrer sogenannten Begrenzungsinitiative ein Ende des freien Personenverkehrs will. Wird die Initiative am 27. September angenommen, muss der Bundesrat die Personenfreizügigkeit beenden, was massive Folgen für die Schweiz, ihre Wirtschaft und ihre Bewohnerinnen hätte. Mit der Initiative würden Bewegungsfreiheit, wirtschaftliche Möglichkeiten und Wohlstand begrenzt, ja, die ganze Schweiz würde neu be-grenzt: mit einer härteren, weniger durchlässigen Grenze.
Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Wie nehmen wir sie wahr im Alltag? Geben sie uns Sicherheit oder engen sie uns ein? Welchen Einfluss haben sie auf unser Leben? Diesen Fragen geht die Republik bis Ende September nach, wenn über die Begrenzungsinitiative abgestimmt wird: Wir schlafen in einem Hotel auf der französischen Grenze, verbringen einen Tag auf einer Raststätte im Tessin, setzen uns mit Grenzstreitigkeiten, Schmuggel und besonderen binationalen Beziehungen auseinander. Begleiten Sie uns auf unserer Reise an den Rand der Schweiz.
Sie lesen: Auftakt
Am Rande der Schweiz
Mit der Personenfreizügigkeit verloren die Schweizer Landesgrenzen an Bedeutung. Die Pandemie und die Begrenzungsinitiative der SVP rücken sie wieder in den Fokus.
Folge 2
Die Geschichte der Grenzen
Sag, wie hast du’s mit der Einwanderung? Die SVP stellt mal wieder die Gretchenfrage der Schweizer Politik. Gespräch mit der Migrationsforscherin Francesca Falk.
Folge 3
Die Tessiner Raststätte Coldrerio
Der Zauber des belanglosen Innehaltens: Die Tessiner Raststätte Coldrerio rühmt sich, die «letzte Tankstelle vor Italien» zu sein. Besuch an einem Ort, an dem die Zeit stehen bleibt.
Folge 4
Fleischliche Versuchung
Rund 200 Tonnen Fleisch werden jährlich in die Schweiz geschmuggelt – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Das hat auch damit zu tun, dass wir eine Fleischessernation sind.
Folge 5
Die deutsche Exklave Büsingen
Umarmt von der Schweiz: Wie lebt es sich in einem Dorf, das komplett von einer Landesgrenze umgeben ist? Ein Besuch in der deutschen Exklave Büsingen nahe Schaffhausen.
Folge 6
Streit am Bodensee
Der Bodensee ist einer von nur zwei Orten in Europa, wo nie völkerrechtlich gültige Grenzen festgelegt wurden – mit absurden und zum Teil tragischen Konsequenzen. Episoden aus dem Dreiländereck.
Folge 7
Gemeinde Balzers, Liechtenstein
Die Beziehung zwischen der Schweiz und Liechtenstein wird immer wieder von seltsamen Missverständnissen belastet – wie damals, als die Armee aus Versehen ins Ländle einmarschierte.