Schmuggler, Seeschlachten und «Sauschwaben»
Der Bodensee ist einer von nur zwei Orten in Europa, wo nie völkerrechtlich gültige Grenzen festgelegt wurden – mit absurden und zuweilen tragischen Konsequenzen. Episoden über ein Kuriosum im Dreiländereck. Serie «Grenzerfahrungen», Folge 6.
Von Dennis Bühler, 29.09.2020
1. Dort Krieg, hier Gleichgültigkeit
Quizfrage: Welche Gemeinsamkeit haben die Emsmündung zwischen dem niederländischen Groningen und Ostfriesland – und der Bodensee? Antwort: Es sind die einzigen beiden Orte in Europa, an denen nie völkerrechtlich gültige Grenzen festgelegt wurden.
Dennoch ist es im Dreiländereck Schweiz–Österreich–Deutschland nie zu einem Grenzkrieg gekommen, geschweige denn zu einer Annexion. Anders als bei den Konflikten zwischen China und Indien, zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen der Türkei und Griechenland, die in diesem Sommer wieder aufflammten, herrscht hier seit Jahrhunderten Ruhe.
Vollkommen friedlich aber war das Auskommen der drei Bodensee-Anrainer nicht immer. Und deshalb kann, wer vom ungeklärten Grenzverlauf berichtet, auch von einem nur knapp vor der Sprengung bewahrten Passagierschiff erzählen, von einem lukrativen Duty-free-Boot und rechtlich umstrittenen Corona-Bussen für Sportfischer.
2. Seeschlachten
Lange ists her, da kommt es auf dem Bodensee tatsächlich zu einer militärischen Konfrontation: Im Jahr 15 vor Christus liefern sich Römer und Kelten eine kurze Seeschlacht. Länger dauert der Dreissigjährige Krieg, der von 1632 bis 1648 auch auf dem Bodensee wütet. In Friedrichshafen konstruieren die Schweden erst die «Drottning Kristina», ein Kriegsschiff mit 22 Kanonen; später bauen sie von dort ihre seebeherrschende Stellung derart aus, dass sie nicht nur Lindau und Konstanz blockieren, sondern auch Zoll- und Steuereinnahmen auf das wichtige Salz erheben können. Populärer, als sich Seeschlachten zu liefern, ist es zu jener Zeit aber, reich beladene Schiffe des Feindes zu kapern.
3. Kriegsgurgeln
1499 kommt es in der Bodenseeregion zum Schwabenkrieg (an den in Deutschland bis heute als «Schweizerkrieg» erinnert wird): Die Schweizerische Eidgenossenschaft kämpft gegen das Haus Habsburg und den Schwäbischen Bund um die Vorherrschaft im Grenzgebiet. Die am Seeufer ausgetragenen Schlachten sind derart blutig, dass der elsässische Humanist Jakob Wimpfeling kritisiert, selbst Türken und Böhmen kämpften anständiger als «diese Waldbewohner, Rohlinge, Hitzköpfe, Prahler und Kriegsgurgeln, die von der Wiege an zum Kämpfen erzogen werden».
Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.
Folge 2
Die Geschichte der Grenzen
Folge 3
Die Tessiner Raststätte Coldrerio
Folge 4
Fleischliche Versuchung
Folge 5
Die deutsche Exklave Büsingen
Sie lesen: Folge 6
Streit am Bodensee
Folge 7
Gemeinde Balzers, Liechtenstein
4. «Kuhschweizer» und «Sauschwaben»
Trotz Zehntausender Toten verändert sich durch den Schwabenkrieg territorial wenig. Immerhin: Seit damals ist klar, dass der Rhein und der Bodensee die Eidgenossenschaft im Norden begrenzen – auch wenn der genaue Grenzverlauf im See offenbleibt. Zudem überleben zwei Schimpfwörter jener Zeit die Jahrhunderte: Die Soldaten des Schwäbischen Bundes provozieren die Eidgenossen, indem sie laut muhen und ihnen «Kuhschweizer» zurufen: Damit implizieren sie, der Feind vergreife sich auf der Alp und in den Ställen an Kühen. Die der Sodomie bezichtigten Eidgenossen kontern mit Waffen und dem Schimpfwort «Sauschwaben».
5. Butterknappheit
Nach dem Krieg rücken die Streithähne rund um den Bodensee schnell wieder zusammen. 1548 bittet der Bürgermeister von Überlingen den Rat der Stadt St. Gallen in einem Brief, sein deutsches Städtchen zu «beschmalzen». Sprich: mit Butter zu versorgen.
Wirtschaftlich kooperieren die Nationen im Mittelalter eng. St. Gallen exportiert Leinwand und Stickereien über den See, im Gegenzug erhält es Korn geliefert – die Staatsgrenzen trennen genauso wenig wie die konfessionellen Unterschiede zwischen dem katholischen Süddeutschland und der reformierten Ostschweiz.
6. Weinselige Schiffsleute
Im 16. Jahrhundert beraten die Bodenseestädte bei regelmässigen Treffen, wie sie mit betrunkenen Schiffsleuten umgehen sollen. Ein altes Recht erlaubt diesen, beim Weintransport aus den mitgeführten Fässern zu trinken – ein Recht, dass sie mit ihren «Stichnäpperli» oft über Gebühr beanspruchen. Dabei handelt es sich um ein Instrument, das sowohl als Bohrer wie auch als Trinkhalm dient. Die halb geleerten Fässer füllen die Matrosen mit Seewasser auf.
Zunächst begrenzt die «Konstanzer Ordnung» die Tagesration pro Schiffsmann auf 8 (!) Liter pro Tag. Schliesslich wird das Trinken aus den Fässern grenzüberschreitend untersagt. Nicht wegen der Qualitätsminderung des Weins – den Bodenseeanliegern ist es herzlich egal, wenn die an Bier gewöhnten Allgäuerinnen und Bayern gepanschten Wein trinken –, sondern wegen der Gefährdung der Sicherheit. Immer wieder ist es zu Kollisionen und Schiffshavarien gekommen.
7. Sehnsuchtsort Konstanz
Der Wiener Kongress ordnet Europa im Jahr 1815 neu. Die Schweizer Gesandtschaft verfehlt ihr Ziel, die Stadt Konstanz hinzuzugewinnen. Dafür erreicht sie die Anerkennung der immerwährenden bewaffneten Neutralität und der Unabhängigkeit von jedem Einfluss durch die europäischen Grossmächte. Zwei Jahrhunderte später wird Konstanz erneut zum Sehnsuchtsort der Schweizerinnen: Nach der Aufhebung des Euro-Franken-Mindestkurses floriert der Einkaufstourismus. Für rund 11 Milliarden Franken kaufen Schweizer 2015 im grenznahen Ausland ein.
8. Deutsche Währung
Der Trend, auf der anderen Seite der Grenze einzukaufen, ist allerdings viel älter: Ab den 1870er-Jahren strömen Woche für Woche Hunderte Schweizerinnen an die Märkte und Messen in Konstanz – der Einfachheit halber erhalten die Kreuzlinger Gemeindeangestellten damals einen Teil ihres Gehalts gleich in deutscher Währung ausbezahlt.
9. Feurige Blicke
Und auch die Offiziere kennen keine Berührungsängste – von 1875 bis 1914 treffen sie sich alljährlich zu «Reunionen», die sich mit der Zeit von rein militärischen Treffen zu regelrechten Volksfesten entwickeln.
Die Schriftstellerin Lilly Braumann-Honsell erinnert sich:
An einem Sommertag kamen die Offizierskorps aus den Garnisonen der fünf Uferstaaten freundnachbarlich zusammen. Auf der Mitte des Sees trafen sich die fünf reich mit den Fahnen der fünf Länder Baden, Bayern, Österreich, Schweiz und Württemberg geschmückten Dampfschiffe unter den Klängen der Regimentsmärsche und Nationalhymnen. Dann zogen die Schiffe hintereinander jeweils jener Stadt zu, die in diesem Jahr die Gastgeberin war. Dort beteiligte sich die ganze Bevölkerung an dem Empfang, besonders auch die Jugend. Die jungen Mädchen machten sich schön und warfen Blumen in den Festzug, und die Offiziere warfen feurige Blicke und Kusshände. Aber damit war die Rolle der Weiblichkeit beendet; denn es war ein Männerfest mit Männerreden und Männertrunk und Verbrüderung. Arm in Arm, oft in vertauschten Uniformen, zogen die Offiziere durch die festlich geschmückten Strassen ins Kasino. (…) In freiem Gedankenaustausch bei allerhand Aufführungen verging der Tag, und in der Sommernacht fuhren die Schiffe wieder über den See – der nicht trennte, sondern verband.
10. Saccharin-Schmuggel
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wird die Bodenseeregion zur Schmugglerzone. Auf dem Landweg und übers Wasser wird Saccharin im grossen Stil illegal nach Deutschland und Österreich gebracht. Mit Ausnahme des Schokoladenlandes Schweiz haben alle europäischen Staaten den künstlichen Süssstoff kurz zuvor verboten, um die eigene rübenverarbeitende Zuckerindustrie zu schützen. Die Zeitschrift «Schweizerisches Archiv für Volkskunde» hält 1993 fest:
So wie heute Medellín das Zentrum des internationalen Kokainhandels ist, so war Zürich vor dem Ersten Weltkrieg das Zentrum des illegalen Handels mit Saccharin: Hier, in der Nähe der deutschen und österreichischen Grenze, hatte die Hermes AG, die Verkaufsstelle des Syndikats, ihren Sitz, hier, in der grössten Schweizer Stadt, war eine gewisse Anonymität gewährleistet, hier gab es auch viele Deklassierte, die sich für den Schmuggel rekrutieren liessen. Die Zahl der in Zürich wohnhaften Personen, die ausschliesslich vom Saccharinschmuggel lebten, wurde 1912 von amtlicher Seite auf über tausend geschätzt.
11. Geweihte Kerzen
Die Schmuggler sind kreativ: Sie füllen flüssiges Saccharin in Champagnerflaschen oder verstecken es als Pulver in Fahrradreifen. Und eine besonders findige Bande giesst den Süssstoff jahrelang in Wachs und lässt die Kerzen im Wallfahrtsort Einsiedeln weihen, bevor sie sie via Deutschland nach Österreich schickt, wo am meisten Geld mit Saccharin zu verdienen ist. Geweihte Kerzen inspizieren? Davor schrecken die frommen Zöllner zurück.
12. Der Leichenzug
Schneller fliegt der Trick mit den Leichen auf. Am 13. September 1913 berichtet die NZZ über einen Vorgang an der badisch-schweizerischen Grenze:
Ein düsterer Leichenzug bewegte sich an einem der letzten Tage über die schweizerische Grenze. Den deutschen Zollwächtern war es wiederholt aufgefallen, dass seit einiger Zeit merkwürdig viele tote Schweizer auf deutschem Boden begraben wurden. Diesmal nahmen sie sich nun die Freiheit, den Zug anzuhalten und den Sarg zu öffnen; aber welche Überraschung, als sie den Deckel in die Höhe hoben: Statt des Toten fanden sie mehrere Zentner wohlverpackten Saccharins darin. Nun mussten wohl oder übel auch die «trauernden Hinterbliebenen» eine Durchsuchung ihrer Taschen und Kleider über sich ergehen lassen und da jeder von ihnen zollpflichtige Waren mit sich trug, wurde der ganze Schmuggler-Leichenzug festgenommen und hinter Schloss und Riegel gesetzt.
13. Der Bursche im Bordell
Als ein 15-jähriger Gymnasiast 1922 im Konstanzer Bordell «Rote Laterne» erwischt wird, ist die öffentliche Aufregung gross. Gegenüber der Polizei versichert eine der Prostituierten, der Kunde habe wie ein 20-Jähriger ausgesehen, da er «lange Hosen und einen Hut getragen» habe. Der Fall illustriert die Doppelmoral der damaligen Zeit: Einerseits wird der Verfall der Sitten beklagt, andererseits die «Rote Laterne» nach den Vorschriften der kommunalen «Dirnenordnung» betrieben.
Bis heute bleibt Konstanz das Rotlicht-Mekka der Bodenseeregion und lockt vor allem Kunden aus dem nahen Ausland an, auch wenn Bordelle in der Schweiz seit 1992 nicht mehr verboten sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg berichten Boulevardblätter regelmässig über das Konstanzer «Bums-Bonanza», verruchte Lokale wie das «Klein Venedig», das «Täuble» und das «Arabella-Haus» sind in Deutschland und in der Schweiz bestens bekannt.
14. Bundesfeier im internationalen Gewässer
1923 kaufen die Rorschacherinnen günstiges Holz aus Deutschland, das sie zu einem riesigen Scheiterhaufen aufrichten, um es an der Bundesfeier am 1. August zu verbrennen. Ihre Lust, den dafür fälligen Zollbetrag zu entrichten, hält sich jedoch in Grenzen. Und so lassen sie das Schiff mit der Holzladung nicht entladen, sondern stationieren es in einiger Entfernung zum Ufer und entziehen es so den Zollbehörden. Im internationalen Gewässer lassen sie das Holz abbrennen.
15. Die Sache mit der Seemitte
Internationales Gewässer? In der Tat. Zwar sind sich die Anrainerstaaten gewohnheitsrechtlich einig, dass jeder von ihnen den Uferbereich bis zu einer Seetiefe von 25 Metern – dort verläuft die sogenannte Haldengrenze – für sich beanspruchen darf. Doch wem die Dutzende Quadratkilometer dahinter gehören, ist umstritten.
Die Schweiz vertritt die Auffassung, dass das Seegebiet entsprechend der jeweiligen Uferlänge aufgeteilt wird und die Grenze durch die Seemitte verläuft. Damit entfielen 32 Prozent der Seefläche auf sie, 10 Prozent auf Österreich und 58 Prozent auf Deutschland. Wien hingegen stellt sich auf den Standpunkt, dass sämtliches Gebiet, das weiter als 25 Meter vom Ufer entfernt ist, allen Anrainern gemeinsam gehört. Deutschland hat im vergangenen Jahrhundert verschiedene Positionen vertreten, neigt aber eher zur österreichischen Auffassung.
16. Zerstritten bis heute
Der Bodensee ist der weltweit einzige See, in dem der Grenzverlauf bis heute ungeklärt ist. Über den Grenzverlauf im Kaspischen Meer, dem grössten See der Erde, stritten sich Russland, Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan und der Iran lange: Von 1991 bis 2017 standen nicht weniger als fünfzig Verhandlungsrunden an. Vor zwei Jahren erzielten die fünf Anrainerstaaten eine grundsätzliche Einigung. Am Bodensee ist dies noch nicht gelungen.
17. 7750 Liter Wasser pro Sekunde
Der ungeklärte Grenzverlauf im Obersee – dem grösseren der beiden Seen – betrifft 90 Prozent des Bodensees. In der Praxis wirkt er sich aber nur selten negativ aus. Dies garantieren verschiedene grenzüberschreitende Gremien und Vereinbarungen. So verpflichteten sich die drei Anrainer beispielsweise 1966 in einem Abkommen, die Interessen der anderen Anliegerstaaten nicht übermässig zu beeinträchtigen, wenn sie Wasser entnehmen. Heute dürfen pro Tag insgesamt 670’000 Kubikmeter Wasser entnommen werden, im Mittel sind das 7750 Liter pro Sekunde.
18. Rettung der «MS Ostmark»
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs will die nationalsozialistische SS das damals grösste Bodensee-Passagierschiff «MS Ostmark» versenken, damit es nicht den rasch vorrückenden Franzosen in die Hände fällt. Doch der für die Schifffahrt zuständige Sachbearbeiter bei der Reichsbahndirektion verweigert den Befehl. Klammheimlich hat er schon seit Monaten mit den Schweizer Behörden verhandelt. Mit Erfolg: In der Nacht auf den 26. April 1945 ziehen Schweizer Dampfschiffe die «MS Ostmark» und zehn weitere deutsche Motorschiffe nach Romanshorn, Rorschach und Arbon. Gemäss Vereinbarung fahren sie «im deutschen Hoheitsgebiet» verdunkelt, anschliessend sind sie mit der «nötigen üblichen Beleuchtung wie im Frieden» und mit weisser Beflaggung statt der Nationalfarben unterwegs.
In der neutralen Schweiz angekommen, sind die Schiffe vor Zerstörung geschützt. Bis heute sticht die fast 60 Meter lange und 12 Meter breite, 350 Tonnen schwere «MS Ostmark» täglich in den See – seit dem Kriegsende wieder unter ihrem ursprünglichen Namen «MS Austria».
19. «Seegfrörni»
Immer, wenn der Obersee zufriert, tragen Gläubige eine Holzbüste des Apostels Johannes vom einen zum anderen Ufer. 1573 wechselt die Büste erstmals von Münsterlingen nach Hagnau, am 12. Februar 1963 gehts zum wiederholten Male in die andere Richtung. Zum letzten Mal? Klimaforscherinnen gehen davon aus, dass die Erderwärmung der letzten Jahrzehnte eine weitere «Seegfrörni» verunmöglicht.
20. Das «Butterschiff»
In den Siebzigern sorgt das sogenannte «Butterschiff» europaweit für Schlagzeilen und bereitet Juristen Kopfzerbrechen: Der schwedische Geschäftsmann Björn Sunne reklamiert den Hohen See als Zollfreigebiet und veranstaltet dort mit einem gecharterten Schiff dreistündige Duty-free-Einkaufsfahrten. Unter anderem bietet er Alkohol, Tabak, Käse und Butter feil.
Als das Schiff im August 1974 kurz in Rorschach anlegt, schreiten die Behörden ein: Zwei Polizisten in Zivil teilen Sunne mit, er sei mit einem zehnjährigen Einreiseverbot für die Schweiz belegt worden, und wollen ihn verhaften. Doch der Schwede weigert sich, und tatsächlich geben die Beamten schliesslich auf. «Unter Spott- und Hohnrufen der Fahrgäste verliess die Polizei das Schiff», erinnert sich ein Augenzeuge später. Österreich protestiert, weil Schweizer Polizisten das unter ihrer Fahne fahrende Schiff enterten; Deutschland ärgert sich, dass Passagierinnen bis tief in die Nacht aufgehalten wurden. Doch einige Monate später verbieten die drei Anrainerstaaten dem «Butterschiff» dann doch das Anlegen. Das Geschäftsmodell ist damit am Ende – der findige Sunne aber hat da bereits mehrere Millionen Franken verdient.
21. Hochverrat?
1984 schafft der Vorarlberger Landtag Tatsachen: Er verankert die in Österreich vorherrschende Haltung, dass die Seemitte allen Anrainern gemeinsam gehört, kurzerhand in der Verfassung. Dies bringt dem Bundesland einige Vorteile – und einen Nachteil: In der Bregenzer Bucht fällt ein kleines Stück in den gemeinschaftlichen Herrschaftsbereich, auf den sonst Österreich Anspruch gehabt hätte. Ein Rechtsanwalt erstattet daraufhin Anzeige gegen die Schöpfer der neuen Landesverfassung – wegen angeblichen Hochverrats. Zu einer Anklage kommt es jedoch nicht, die Sache versandet.
22. Militärische Verstärkung wird hartnäckig gefordert
Aus welcher Zeit stammt wohl das folgende Zitat?
Die moderne militärische Bedrohung gibt dem Grenzraum von Kreuzlingen erhöhte Bedeutung. Für unsere Landesverteidigung ist nämlich in der besonders gefährdeten Nordostecke der Schweiz die wichtigste Einfallspforte zu finden, die sich allerdings nicht mehr auf die Rheinbrücke von Konstanz beschränkt, sondern den ganzen Bodenseeraum umfasst. Eine spezielle militärische Verstärkung dieses Abschnittes ist deshalb angezeigt und muss weiterhin hartnäckig gefordert werden. In der grenznahen Lage am Bodensee wohnt eine militärfreundliche Bevölkerung, die einen sicheren Pfeiler der schweizerischen Wehrbereitschaft bildet. Der thurgauische Wehrmann darf daher erwarten, dass er mit zeitgemässen Waffen ausgerüstet wird, die ihm die Erfüllung seiner Aufgaben im Ernstfall ermöglichen.
Ein Zitat aus den Jahren 1914 oder 1939? Nein, in einem Buch zum 100-Jahr-Jubiläum der Offiziersgesellschaft Kreuzlingen schätzt FDP-Nationalrat Ernst Mühlemann die Bedrohungslage noch 1987 so ein.
23. Flugzeugabsturz
1989 stürzt eine Rheintalflug-Maschine mit elf Personen an Bord im Nebel vor Rorschach in den Bodensee, alle Passagiere und Besatzungsmitglieder sterben. Unter den Toten ist der damalige österreichische Sozialminister Alfred Dallinger. Bei der Bergung liegt das Einsatzkommando in schweizerischer Hand, Baden-Württemberg trägt Hightech und Know-how zur Bergung bei – im Katastrophenfall arbeiten die drei Anrainerstaaten gut zusammen. Zu Diskussionen führt aber die Frage, wer von den drei Ländern sich wie stark an den Kosten beteiligen muss.
24. Pumpgun mit Wildschweinschrot
Am 25. Februar 1991 kommt es in der Nähe von Lindau zu dramatischen Szenen. Was als Fischereikriege bekannt wird, beginnt mit dem 76-jährigen österreichischen Fischer Martin Bilgeri, der immer wieder Netze deutscher Fischer konfisziert, da diese seiner Meinung nach illegal in seinem Revier fischten – er bezieht sich dabei auf Grenzen, über die sich einer seiner Vorfahren 1825 mit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie geeinigt habe. Als ein Lindauer Fischer und sein Neffe Bilgeri auf frischer Tat ertappen, kommt es zur Verfolgungsjagd, in die sich auch die Wasserschutzpolizei einmischt. Plötzlich hält Bilgeri eine Pumpgun in der Hand – geladen mit Wildschweinschrot. Das Polizeiboot rammt den Kutter, dieser sinkt, und Bilgeri und sein Sohn schwimmen in Gummistiefeln und Winterkleidern ums Überleben. Gerettet werden sie von den Lindauer Fischern.
Bilgeri erhebt schwere Vorwürfe gegen die deutschen Polizisten, diese aber sprechen von einem Unfall und werden später freigesprochen. Ohne Verurteilung enden sieben Jahre später auch die Klagen Bilgeris gegen die Lindauer Fischer. Die Begründung des Obersten Gerichtshofs in Wien: Die drei Uferstaaten Deutschland, Österreich und Schweiz hätten unterschiedliche und wechselnde Vorstellungen von den Grenzen auf dem See. Bilgeri könne keine überzeugenden Beweise für seine Sicht der Dinge darlegen.
25. Techno, Lack und Leder
Im Juni 1997 ist Techno auf dem Höhepunkt: Auch auf dem Bodensee wummern Wochenende für Wochenende die Bässe – und rauben den Anwohnerinnen den Schlaf. «Normalerweise fahren wir nicht in der Nacht», sagt ein Angehöriger der Wasserschutzpolizei von Friedrichshafen zur Nachrichtenagentur SDA. «Aber wir haben uns abgesprochen, dass wir jetzt abwechselnd die Musikschiffe begleiten wollen.» An den Einsätzen beteiligt sind Polizisten aus allen drei Anrainerstaaten. Das Problem: Überall gelten unterschiedliche Lärmschutzvorschriften. Dass die Staatsgrenzen auf dem Bodensee ungeklärt sind, macht es nicht einfacher.
2014 sorgen Partyschiffe noch einmal für Aufregung: Nun geht es um Lack und Leder, Alkohol zu Flatrate-Preisen und die Vermietung von Kursschiffen für vermeintliche Sexpartys. Nach wochenlangen Diskussionen legt die zum «Torture Ship» umfunktionierte «MS Schwaben» ab. Hunderte Schaulustige freuen sich über Stachelhalsbänder und Handschellen, Pferdemasken und eine Frau, die in einen Käfig eingesperrt ist.
26. Tarot statt Maschendraht
2005 wird die Grenzproblematik im Bodenseeraum weiter entschärft: 54,6 Prozent der Schweizer Bevölkerung stimmen für den Beitritt zum Schengen-Raum – ab 2008 gibt es zwischen der Schweiz, Deutschland und Österreich keine systematischen Personenkontrollen mehr. Bereits 2006 wird der Grossteil des Maschendrahtzauns abgerissen, der im Zweiten Weltkrieg erbaut worden war. Die Schweiz wollte damals die Übertritte der Flüchtlinge kontrollieren, Deutschland verhindern, dass geheime Informationen über die Schweiz nach Frankreich gelangen. Ersetzt wird der Grenzzaun durch 22 Tarot-Skulpturen.
Weil die Schweiz mit der EU keine Zollunion eingeht, bleiben Warenkontrollen zum Leidwesen der Einkaufstouristinnen zulässig. Wer auffliegt, muss nicht nur den Zollbetrag nachzahlen, sondern auch eine bis zu fünfmal so teure Busse.
27. Zwei Dutzend Klaviere
Nach wie vor versuchen auch hochprofessionelle Banden im Bodenseeraum, Waren am Fiskus vorbeizuschleusen: Mal geht es um zwei Dutzend Klaviere, mal um eine Segeljacht, mal um in Windeln versteckte Drogen, mal um 400’000 Euro in bar. Und sehr häufig um Geschlachtetes, Geräuchertes und Verwurstetes.
28. Corona-Grenzzaun
Ende März 2020 kehrt der Grenzzaun zurück: Die deutsche Bundespolizei lässt ihn zur Eindämmung der Corona-Pandemie zwischen Konstanz und Kreuzlingen aufbauen, die Schweizer Grenzschützer verstärken ihn einige Tage später mit einem zweiten Zaun. Nun sind Berührungen und Küsse endgültig verunmöglicht – Hunderte Liebespaare sind auf einmal voneinander getrennt. Manch einer fühlt sich an die Berliner Mauer erinnert, viele kritisieren die Abriegelung als Vertrauensbruch gegenüber der Bevölkerung.
Nach acht Wochen wird der Zaun wieder abgebaut. Ein Teil von ihm wird künftig im Haus der Geschichte Baden-Württembergs zu sehen sein, als Erinnerung an diese aussergewöhnliche Zeit. Er betone «die Verbundenheit der Bevölkerung beider Seiten der Absperrung über die zwischenzeitliche Barriere hinweg», lässt sich die Museumsdirektorin zitieren.
29. Drei sauteure, aber leckere Felchen
Am 3. April 2020 angeln zwei Schweizer Sportfischer aus Arbon in der Bregenzer Bucht. Zwar befinden sie sich nach österreichischer Lesart in internationalen Gewässern, doch ist das auf dem Höhepunkt der Corona-Krise offenbar auch den Bregenzer Beamten nicht ganz klar. Sie sehen nur, dass sich da zwei Männer, die nicht im gleichen Haushalt wohnen, gemeinsam an einem öffentlichen Ort aufhalten. Wegen Verstosses gegen die österreichische Covid-19-Verordnung erlassen sie einen Strafbefehl gegen die Männer: Entweder sie bezahlen je 450 Euro, oder sie wandern für 42 Stunden ins Gefängnis.
Die beiden Sportfischer wollen sich das nicht bieten lassen. «Wir hatten immer genügend Abstand voneinander», sagt Peter Künzi, schliesslich sei ihr Motorboot 6,6 Meter lang und 1,75 Meter breit. Zudem hätten sie die Geräte nach dem Gebrauch stets mit Desinfektionsmittel abgewischt. Wie die Sache ausgeht, ist zurzeit offen – ein Anwalt hat im Namen der beiden Fischer Rekurs eingelegt. «Bevor ich diese skurrile und ungerechtfertigte Busse in derart exorbitanter Höhe bezahle, gehe ich in Bregenz ins Gefängnis und sitze diese knapp zwei Tage ab», sagt Fischer Peter Künzi zur Republik. Immerhin: Die drei Felchen, die sie an jenem Tag geangelt haben, seien lecker gewesen.
30. Sie haben sich lieb
Gross ist die Wiedersehensfreude, als Bundesrat Ignazio Cassis am 18. Juni 2020 erstmals seit Beginn der Pandemie hohe Politiker aus dem Bodenseeraum trifft. «Die Freundschaft der Nachbarländer ist gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen», sagt der stellvertretende Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und der österreichische Aussenminister pflichtet bei: «Wenn es hart auf hart kommt, können wir uns auf unsere Nachbarn verlassen.»
Es sind Worte, die das vergangene und aktuelle Leben am Bodensee gut zusammenfassen: Auch wenn die Landesgrenzen im 473 Quadratkilometer grossen Obersee bis heute ungeklärt sind, wird darüber selten gestritten. Denn das Wasser trennt weniger, als es verbindet.
Zu den Quellen für diesen Beitrag
Neben den verlinkten Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Aufsätzen und Fernsehbeiträgen waren die folgenden drei Bücher von grossem Nutzen:
Harald Derschka/Jürgen Klöckler (Hrsg.): «Der Bodensee. Natur und Geschichte aus 150 Perspektiven». Jan-Thorbecke-Verlag, 2019. 320 Seiten, ca. 40 Franken.
Arnulf Moser: «Der Zaun im Kopf. Zur Geschichte der deutsch-schweizerischen Grenze um Konstanz». Hartung-Gorre-Verlag, 2014. 200 Seiten, ca. 22 Franken.
Karl-Heinz Burmeister: «Vom Lastschiff zum Lustschiff. Zur Geschichte der Schifffahrt auf dem Bodensee». UVK, 1992. 192 Seiten, ca. 12 Franken.