In Schwellenländern beginnt die Covid-Krise gerade erst so richtig
Reiche Länder wie die Schweiz haben das Coronavirus halbwegs unter Kontrolle. Doch in vielen ärmeren Gegenden breitet sich die Pandemie rapide aus. Mit harten Folgen für die Wirtschaft.
Von Simon Schmid, 20.07.2020
Als die Angestellten von Lehman Brothers ihre Büros am New Yorker Times Square räumen mussten und Marcel Ospel am Zürcher Paradeplatz im Namen der UBS Milliardenverluste fast im Wochenrhythmus verkündete, war das für die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer alles sehr weit weg. Die Finanzkrise von 2008 war eine Angelegenheit der Industrieländer, allen voran der USA. Indien, Südafrika oder Bolivien hatten damit wenig zu tun.
Ähnlich war es 2015, als in Griechenland die Bankomaten kein Geld mehr ausspuckten und Finanzminister in Brüssel fieberhaft um eine Rettung des ausblutenden Mittelmeerlandes rangen. Die Eurokrise war eine Sache der reichen Europäer – nichts, was Malaysia, Nigeria oder Paraguay betraf.
Diese Konstellation war insofern bemerkenswert, als sie neu war. Ob 2001 (Türkei), 1998 (Russland), 1997 (Thailand, Indonesien), 1994 (Mexiko) oder 1986 (Brasilien): Zuvor waren stets die ärmeren Länder der Schauplatz von Börsencrashs, Schuldenkrisen oder Hyperinflation gewesen. Nun schien es plötzlich umgekehrt: Sorgen bereiteten die reichen westlichen Nationen.
Dagegen schienen die aufstrebenden Märkte, sofern sie eine einigermassen anständige Regierung hatten, kaum von ihrem Weg nach oben abzuweichen. Ihr Wachstum war robust. Ihre Verschuldung tief. Und ihr Potenzial riesig. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten hat sich so die Idee gefestigt, Schwellenländer hätten so etwas wie wirtschaftliche Wunderkräfte.
Wachstum
Es ist diese Idee, aus der sich auch der jüngste Wirtschaftsausblick des Internationalen Währungsfonds (IWF) ableitet. Dieser stammt vom Juni, ist also relativ frisch und bezieht den Ausbruch der Corona-Pandemie bereits mit ein.
Der IWF schätzt darin das Wirtschaftswachstum für die wichtigsten Länder und Weltregionen. Er kommt zum Schluss, dass die ärmeren Gegenden die Krise besser überstehen werden als die reichen. In der ärmsten Kategorie von Ländern drohe ein Rückgang des Wachstums von +5,2 auf –1 Prozent, meint der IWF. In der reichsten Kategorie ein Rückgang von +1,7 auf –8 Prozent.
Aus einer mathematischen Optik macht eine solche Prognose durchaus Sinn. Die Entwicklungs- und Schwellenländer haben in den vergangenen Jahren stets ein höheres Wachstum verzeichnet – ergo dürften sie auch im Corona-Krisenjahr 2020 stärker wachsen. Zudem spielen Dienstleistungen wie Tourismus, Gastronomie und Unterhaltung, die in Industrieländern stark von der Pandemie betroffen sind, in der Volkswirtschaft von Entwicklungs- und Schwellenländern eine weniger wichtige Rolle. Ergo dürfte dort 2020 auch der Wachstumseinbruch gegenüber 2019 weniger drastisch ausfallen.
Doch es gibt Anzeichen dafür, dass die Auswirkungen der Pandemie in den ärmeren Weltregionen um einiges unterschätzt werden.
Fallzahlen
Dafür spricht einerseits der Pandemieverlauf selbst. In den meisten reichen Volkswirtschaften ist die erste Ansteckungswelle bereits abgeebbt. Die Fallzahlen sind tief. Und in den USA, wo das Coronavirus noch nicht unter Kontrolle gebracht worden ist, ist es immerhin weniger tödlich geworden. So sterben in den Industrieländern pro Woche noch ungefähr 5000 Menschen an Covid-19. Zum Höhepunkt der Pandemie Anfang April waren es über 40’000 gewesen.
In den Schwellenländern ist die Dynamik dagegen ungebrochen. In dieser Gruppe, zu der bevölkerungsreiche Staaten wie Indien, Indonesien oder Brasilien gehören, hat sich die Pandemie anfänglich langsamer ausgebreitet. Im April lag die wöchentliche Opferzahl erst bei wenigen tausend. Doch seither nehmen die Todesfälle stetig zu. Momentan sterben in den Schwellenländern jede Woche knapp 30’000 Personen an Covid-19.
In den Entwicklungsländern sind die Fallzahlen mit rund 2000 Toten pro Woche weniger hoch. Das dürfte teils an der mangelhaften Datenerhebung liegen und teils daran, dass in diesen Ländern insgesamt weniger Menschen leben als in den Schwellenländern. Doch auch hier geht der Trend nach oben.
Zu Beginn der Pandemie wurde noch gemutmasst, das Coronavirus würde sich in wärmeren Weltgegenden schlechter ausbreiten. Die Erfahrungen in Brasilien haben diese Hoffnung zunichtegemacht: Gegen tausend Menschen sterben jeden Tag in der grössten Volkswirtschaft Südamerikas an Covid-19.
Brasilien bekommt das Virus wegen seines populistischen Präsidenten nicht in den Griff, aber auch wegen der prekären hygienischen und wirtschaftlichen Verhältnisse: Die Bewohnerinnen der Favelas können es sich schlicht nicht leisten, wegen einer Ansteckung ins Spital oder in die Quarantäne zu gehen.
Schocks
Nicht wenige Ökonomen glauben deshalb, dass sich in den Schwellen- und Entwicklungsländern angesichts der Corona-Pandemie ein «perfekter Sturm» zusammenbraut. «Wir erwarten, dass der Abschwung in Schwellenländern tiefer ausfällt als in Industrieländern», schreiben etwa zwei Autoren in einem Sammelband zur Corona-Krise, den die Plattform VoxEU herausgegeben hat.
In den ärmeren Weltregionen kommen diverse Probleme zusammen:
Informalität: Es gibt weniger feste Arbeitsverhältnisse. Angestellte verlieren wegen der Pandemie schneller ihren Job und sind deshalb gezwungen, ihre Ausgaben drastischer einzuschränken.
Sozialstaat: Auch die Arbeitslosenversicherung ist in ärmeren Ländern oft weniger gut ausgebaut. Der Staat hat weder die finanziellen Mittel noch die organisatorische Fähigkeit, Leuten ein Gehalt auszuzahlen, die ihren Job verloren haben. Das verschärft die wirtschaftliche Krise.
Armut: In den Schwellenländern wächst zwar die Wirtschaft schnell. Aber deshalb sind längst nicht alle Menschen wohlhabend. Im Gegenteil: Wegen einer Covid-19-Erkrankung temporär aufs Einkommen zu verzichten, ist für viele Leute keine realistische Option. Das erschwert es der Regierung, einen wirkungsvollen Lockdown umzusetzen.
Gesundheitssystem: Je schlechter die Spitäler ausgerüstet sind, desto mehr Menschen sterben am Coronavirus. Und desto langsamer wird die Epidemie in einem Land eingedämmt. Gerade in Schwellenländern herrscht bei der Gesundheit eine Zweiklassengesellschaft. Nur die wenigsten können sich den Aufenthalt in privaten Kliniken leisten.
Finanzengpässe: Um die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, kann sich die Schweiz ohne weiteres einige Milliarden leihen. Zahlreiche ärmere Länder können das nicht. Sie haben schlechteren Zugang zum Finanzmarkt und müssen gerade in Krisenzeiten höhere Zinsen auf Kredite bezahlen.
Abhängigkeit: Arme Länder sind auf Gelder aus den Industrieländern angewiesen, zum Beispiel in Form von Investitionen. In einer Krise drohen diese zu versiegen. Risikoscheue Investoren ziehen sich dann oft aus fernen Ländern zurück – so auch während der Corona-Krise.
Rohstoffe: Der Export von Erdöl, Mineralien oder Nahrungsmitteln spielt in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern eine grosse Rolle. Doch mit Beginn der Corona-Krise sind die Preise vieler Rohstoffe in den Keller gefallen. Das schmälert die Einnahmen der exportierenden Länder.
Infrastruktur: Ländern wie der Schweiz fällt es verhältnismässig leicht, auf Homeoffice umzustellen. In ärmeren Ländern sind die Hürden grösser: Vielen Leuten fehlt das Geld, um spontan noch einen Flachbildschirm für zu Hause zu kaufen. Ausserdem gibt es weniger wissensintensive Jobs, die sich überhaupt am heimischen Computer oder Laptop erledigen lassen.
Vorhersagen dazu, wie sich all diese Einflüsse in einem bestimmten Land vermischen, sind naturgemäss schwierig. Zumal auch der Pandemieverlauf schwer abschätzbar ist: Noch ist unklar, wann ein Impfstoff da sein wird und wie lange Menschen nach einer Ansteckung immun gegen das Virus sind.
Allerdings gibt es Studien, die einzelne Einflüsse zu quantifizieren versuchen.
Einbruch
Eine solche Studie hat eine Wissenschaftlergruppe um Charles Gottlieb von der Universität St. Gallen erstellt. Sie fokussiert auf die Arbeit von zu Hause – also auf die Möglichkeit, einen Job auch im Social-Distancing-Modus zu erledigen. Wie gut dies den Erwerbstätigen in verschiedenen Ländern gelingt, haben die Autoren anhand der Berufsstruktur dieser Länder geschätzt: Je mehr Menschen in technischen und administrativen Berufen arbeiten, desto mehr Homeoffice ist grundsätzlich möglich – und desto kleiner wird der Erwerbsausfall, den das ganze Land vergegenwärtigt.
Wie gross dieser Erwerbsausfall im Szenario eines «weichen Lockdowns» ist, zeigt die folgende Grafik. Je weiter rechts ein Land darauf steht, desto reicher ist dieses Land. Je weiter unten es steht, desto tiefer ist der Einschnitt, den ein ganzjähriger Lockdown gemäss den Berechnungen verursachen würde.
Ein «weicher Lockdown» bedeutet gemäss der Definition der Forscher, dass die Industrie auf drei Vierteln ihrer Kapazität betrieben wird und der Dienstleistungssektor auf halber Flamme läuft: Hotellerie, Gastronomie, Bildung, Unterhaltung und kommerzielle Freizeitaktivitäten bleiben substanziell eingeschränkt. Ein solcher Modus könnte manchen Ländern im On-und-Off-Wechselspiel der Massnahmen noch während Monaten drohen.
Die Grafik zeigt, dass Volkswirtschaften wie die Schweiz bedeutend besser in einem solchen Modus operieren könnten als etwa Mexiko oder Russland. Bei den ärmsten Ländern ist die Streuung gross, was teils an der Datenqualität liegt und teils an der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur: Zambia ist ein Rohstoffexporteur, Mali verdient das meiste Geld in der Landwirtschaft.
Insgesamt wird jedoch deutlich, dass die Hindernisse, auch unter Lockdown-ähnlichen Bedingungen weiterzuwirtschaften, in den Entwicklungs- und Schwellenländern in der Regel grösser sind als in den Industrieländern.
Schluss
Die Folgen davon lassen sich in Umrissen erahnen: In den ärmeren Ländern werden die Menschen vom Coronavirus und den Massnahmen zu dessen Bekämpfung nicht nur härter getroffen, sondern ihnen wird vom Staat auch weniger gut geholfen. Damit dürfte nicht nur die Armut, sondern auch die Ungleichheit zunehmen, speziell in den urbanen Grossräumen dieser Länder.
Wo sich Menschen aus materieller Not dem Lockdown widersetzen, drohen weitere Infektionen. Was wiederum härtere sanitarische Restriktionen nach sich zieht – ein regelrechter Teufelskreis. Besonders die Länder Lateinamerikas scheinen momentan darin gefangen: Fast ein Drittel der weltweiten Todesfälle werden zurzeit in dieser Region verzeichnet. Gut möglich, dass der IWF seine nächste Prognose nach unten korrigieren muss. Nicht nur für Südamerika, aber besonders für die dortigen Länder.
Mit dem Mythos des unablässigen Wachstums wäre dann ebenfalls Schluss. Die Corona-Krise trifft alle. Und manche Schwellenländer sogar speziell hart.
Sie stammen vom IWF, von der Johns Hopkins University und von den Autoren des Projekts «Work in Data». Die Einteilung in Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer lehnt sich an die Länderkategorisierung im «Fiscal Monitor» des IWF an. Ausgerechnet in den IWF-Zahlen steckt jedoch ein Schönheitsfehler: Die Entwicklungsländer («Low-Income Developing Countries») werden zwar separat ausgewiesen, sind aber ebenfalls in den Schwellenländern («Emerging Markets and Developing Economies») enthalten. Das heisst, die Zahlen zu den Schwellenländern sind in der obersten Grafik leicht verzerrt. Weil die Entwicklungsländer aber einwohner- und wirtschaftsmässig deutlich hinter den Schwellenländern zurückbleiben, bleibt die Verzerrung quantitativ überschaubar.