Der grosse Riss
Europa hat sich getäuscht: China ist nach der wirtschaftlichen Öffnung nicht liberaler, sondern autoritärer geworden. Damit drängt sich ein Strategiewandel auf – auch für die Schweiz.
Von Joseph de Weck (Text) und Ricardo Tomás (Illustration), 07.09.2020
«Wandel durch Handel»: Der billige Reim bestimmt seit den 1980er-Jahren die europäische, aber auch die schweizerische Chinapolitik. Die Schweiz ist der vielleicht treueste Freund der chinesischen Regierung in Europa – noch vor Deutschland, das stets auf gute Verbindungen nach Fernost bedacht war.
Die Maxime vom Wandel durch Handel wird dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zugeschrieben. Doch eigentlich geht sie auf dessen Vorvorgänger Willy Brandt zurück. Brandt hatte gehofft, mit einer Öffnung zur Sowjetunion, mit Waren- und Kulturaustausch, die deutsche Teilung zu überwinden. «Wandel durch Annäherung» lautete die Losung. Der Aufbau von Wirtschafts- und Vertrauensbeziehungen werde Chinas Kommunistische Partei näher an Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit heranführen, so die Hoffnung.
Peking zu umgarnen, war mithin auch ein moralischer Imperativ. Als erster westlicher Staatschef liess sich Kohl 1987 von Peking nach Tibet einladen. Bei seiner ersten Chinareise nach dem Tian’anmen-Massaker 1989 besuchte der CDU-Kanzler eine Kaserne der Roten Armee. Sein Nachfolger Gerhard Schröder von der SPD weibelte für Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO und setzte die Beziehungen zu China unter das Motto «win-win». Angela Merkel reiste einmal pro Jahr mit grosser Wirtschaftsdelegation nach Fernost und gab ihren EU-Partnern den Takt und die Devise im Umgang mit der Kommunistischen Partei vor: Enrichissez-vous! Bereichert euch.
Die Schweiz war Deutschland sogar noch ein Stück voraus. Sie war 1950 eines der ersten Länder, welche die Volksrepublik überhaupt anerkannten. Schindler, der Liftbauer mit Sitz im Kanton Luzern, gehörte zu den ersten westlichen Unternehmen, die zu Beginn der 1980er-Jahre in China investierten.
Unter Parteiführer Deng Xiaoping hatte die Volksrepublik damals gerade erst begonnen, sich zu öffnen. Noch vor allen anderen europäischen Staaten billigte die Schweiz dem kommunistischen China den WTO-Status einer Marktwirtschaft zu. Und 2013 schloss sie, wiederum als erstes kontinentaleuropäisches Land, ein Freihandelsabkommen mit Peking ab.
Die grosse China-Illusion
Doch die These, China werde sich im wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen schrittweise vom kommunistischen Modell entfernen, will einfach nicht der Realität entsprechen. Denn sie gründet auf drei Fehlannahmen:
Um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben, käme China nicht umhin, seine Wirtschaft nach Marktprinzipien auszurichten. Staatsgelenkte Unternehmen könnten nie und nimmer mit BMW und Co. mithalten.
Die Handelsverflechtungen würden Pekings Abhängigkeit vom Westen vergrössern und damit Potenziale für geopolitische Konflikte wie Hongkong und Taiwan entschärfen – Chinas geopolitische Ambitionen würden durch den Markt gezähmt.
Handel schafft in der Regel Wohlstand. In China würde deshalb eine Mittelschicht entstehen und politische Mitspracherechte einfordern. So würde China nicht nur marktwirtschaftlicher, sondern nach und nach auch demokratischer.
Die europäischen Länder haben sich in allen Punkten geirrt. Auch vierzig Jahre nach der Öffnung bleibt China mehr Staats- als Marktwirtschaft. Der Einzug des Liberalismus ist ausgeblieben – das System bleibt autoritär.
Zwar ist der Privatsektor stetig gewachsen; chinesische Firmen konkurrieren um Marktanteile, sei es im Autobau, sei es im Bankenwesen oder in der IT-Welt. Doch der Staat hat seinen Einfluss nie abgegeben. Dort, wo er Firmen nicht direkt kontrolliert, bestimmt er über den langen Arm der Partei ihr Geschick.
Die Integration in den Weltmarkt hat zwar tatsächlich eine neue Mittelschicht aufblühen lassen. China ist dabei zum grössten Konsumenten von Luxusgütern geworden. Doch unter dem Staats- und Parteipräsidenten Xi Jinping bleibt die Volksrepublik weit entfernt von einer politischen Liberalisierung. Das Land scheint dies gar nicht nötig zu haben: Es besteht an den internationalen Märkten und beliefert die Welt nicht nur mit Mikrowellen, sondern zum Beispiel auch mit Elektroautos und iPhones. In den USA war die chinesische Videoplattform Tiktok zuletzt die am meisten heruntergeladene App.
Zwar ist China ökonomisch verwundbar, darauf bedacht, den Handelskrieg mit den USA nicht eskalieren zu lassen. Trotzdem legt Peking nach und nach die geopolitische Vorsicht ab. Unter Verletzung des Völkerrechts baut die Regierung Marinestützpunkte im Südchinesischen Meer, mit einem umstrittenen Sicherheitsgesetz weitet sie die Kontrolle über Hongkong aus. In der westlichen Provinz Xinjiang sperrt sie Menschen in sogenannte «Umerziehungslager» – was der Westen dazu sagt, nimmt sie nicht ernst.
Warum sollte sie auch?
China hat Marktmacht. Hollywoodstudios schreiben Drehbücher um, damit Blockbuster wie «Top Gun 2» auf dem weltgrössten Filmmarkt zugelassen werden. Schindler liefert wegen Xinjiang keinen Lift weniger nach China.
Mit den USA steuere das Land ohnehin auf einen Hegemonialwettbewerb zu, beteuern chinesische Akademiker. Und der Westen sei auch kein Vorbild mehr – Finanz- und Eurokrise sowie Donald Trump und sein Versagen in der Corona-Pandemie lassen grüssen. Chinas Kommunistische Partei sieht sich bestärkt: Die meisten Entscheidungen den Märkten und der Bevölkerung zu überlassen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
«Das (westliche) Modell steht vor drei unlösbaren Problemen», schreibt etwa der einflussreiche Pekinger Rechtsprofessor Jiang Shigong. «Die liberale Wirtschaftsordnung produziert zunehmende Ungleichheit; der politische Liberalismus führt zu Staatsversagen, dem Niedergang der Politik und ineffizienter Regierungsführung; und der kulturelle Liberalismus zu Dekadenz und Nihilismus.»
Umdenken in Europa
Pekings Machtelite ist mittlerweile überzeugt, ihr System des «Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken» sei dem westlichen Mix aus Demokratie und Marktwirtschaft überlegen. In Europa nimmt man dies ernüchtert zur Kenntnis. Und mit zunehmendem Antagonismus.
So konstatiert der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie unverblümt, das Konzept «Wandel durch Handel» sei an seine Grenzen gestossen. China sei im Begriff, sein eigenes politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Modell zu verwirklichen. Businesseurope, der europäische Unternehmensdachverband, gibt die Hoffnung auf eine weitere Öffnung auf und deklariert, Chinas «staatsgelenkte Wirtschaft» sei nun als «eine systemische Herausforderung» zu betrachten.
Und in der Schweiz stellt Aussenminister Ignazio Cassis fest, China komme vom Weg der Öffnung ab. «Die These des Westens war: Zunächst schaffen wir die wirtschaftlichen Beziehungen, dann reden wir über Menschenrechte», sagte er in einem Interview Anfang August. Jetzt merke man, dass die Geschichte unruhiger verläuft als angenommen. «Wenn China an seinem neuen Kurs festhält, dann wird die westliche Welt entschiedener reagieren.»
Das neue chinesische Selbstverständnis irritiert die Europäer. Und sorgt vor allem dafür, dass die Staaten innerhalb der EU näher zusammenrücken.
Drei Ursachen stehen dabei im Vordergrund.
1. Vom Panda zum Werwolf
Chinas Staats- und Parteiführer kultivierten lange das Bild Chinas als eines «friedlichen Riesen»: pragmatisch, unaufgeregt, in erster Linie auf ökonomische Interessen bedacht. Mao Zedongs Kulturrevolution hatte das Land in den 1960er-Jahren wirtschaftlich an den Abgrund gebracht. Unter seinen Nachfolgern – von Deng Xiaoping bis zu Hu Jintao – musste China (mithilfe internationaler Investoren) zuerst aus der Armut herausfinden.
Doch dies ist Geschichte. Eine neue Ära habe begonnen, verkündet Präsident Xi. China sei nun stark und könne offensiv für seine Interessen einstehen. Die Diplomaten des Landes müssten nun «den Kampf wagen».
Statt knuddelige Pandas zu verschenken, setzt Chinas Aussenpolitik nunmehr auf offene Drohungen und Fake News. Wolf warrior diplomacy wird dieses neue und intern nicht unumstrittene Vorgehen genannt, etwa von der «Global Times», dem englischsprachigen Propagandablatt der Kommunistischen Partei. Der Begriff ist einer Actionfilm-Serie entlehnt. Der Plot der jüngsten Episode: Ein Elitesoldat schiesst sich durch ein afrikanisches Land, um die dort ansässige chinesische Zivilbevölkerung zu beschützen. Der Untertitel: «Selbst tausend Meilen entfernt – wer China angreift, muss dafür bezahlen». Mit über 100 Millionen Eintritten ist es der erfolgreichste chinesische Film aller Zeiten.
Praktisch bedeutet dies für Europa vor allem eins: Peking betreibt seit neuestem plumpe Machtpolitik. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Auseinandersetzung um Huawei, Chinas 5G-Mobilfunkanbieter.
Washington drängt die Europäer, Huawei vom Aufbau des 5G-Datennetzes auszuschliessen. Via Huawei könne die chinesische Regierung Europas Mobilfunkdaten, aber auch industrielles Know-how absaugen. Und Peking werde 5G auch als politisches Druckmittel verwenden. Wenn Xi per Knopfdruck Europas Datennetz lahmlegen könne, fragen die Amerikaner, würde dann Brüssel die Volksrepublik mit Sanktionen bestrafen, wenn sie ins demokratische Taiwan einmarschierte?
Chinas Diplomaten bestätigen gleich selbst, dass die Befürchtungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Huaweis europäisches 5G-Exportgeschäft ist für China volkswirtschaftlich kaum relevant. Doch Peking legt die Brechstange an und warnt vor Konsequenzen für deutsche Autobauer, sollte Berlin Huawei nicht berücksichtigen. «Wir drohen niemandem», liess der chinesische Botschafter in London verlauten. Doch wer China als feindliches Land behandle, werde den Preis dafür bezahlen.
Desinformationskampagnen ergänzen das breitbeinige Auftreten der Diplomaten. Sie zeichnen ein Bild von Europa im Katastrophenzustand. Chinas Botschaft in Paris erklärt auf ihrer Website, in Frankreich würden Covid-19-Patienten verhungern, weil Pflegekräfte im Akkord ihren Job hinschmissen. Kritische europäische Journalisten werden der Lüge bezichtigt. Ihre Berichterstattung sei rassistisch motiviert, wird suggeriert.
Auch deshalb kippt in Europa nun das Chinabild ins Negative. Dabei nähern sich die Haltungen der Europäer zu Peking an: Frankreich glaubt schon lange nicht mehr an «Wandel durch Handel». Widerwillig revidieren inzwischen auch die nordischen Handelsnationen und Deutschland ihre Position.
2. Europas Volksvertreter begehren auf
Nicht nur Pekings arrogante Diplomatie befeuert diese europäische Annäherung, sondern auch eine urdemokratische Kraft: Europas Parlamentarierinnen.
In Berlin hat CDU-Aussenpolitiker Norbert Röttgen eine Kampagne für den Ausschluss von Huawei aus dem deutschen 5G-Netz lanciert. Angela Merkel möchte ihrerseits zwar Huawei zulassen und erklärt, die Zusammenarbeit mit Peking sei unerlässlich zur Lösung der globalen Herausforderungen, vor allem der Klimafrage. Aber wieso China weniger Kohlekraftwerke bauen wird, wenn Huawei in der Bundesrepublik aktiv sein darf, kann die Kanzlerin nicht beantworten. Merkel spürt, dass sie den Machtkampf mit Röttgen in der Fraktion verlieren könnte. Seitdem verschiebt sie eine Entscheidung.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in Schweden, Dänemark und im Vereinigten Königreich. Premierminister Boris Johnson bezeichnet sich als «sinophil» und sprach sich trotz massiven Drucks aus Washington lange für Huawei aus. Johnson schielte nach dem Brexit auf ein Handelsabkommen mit China. Doch seine konservativen Fraktionsmitglieder verweigerten ihm die Gefolgschaft. Johnson sah sich gezwungen, Huawei auszuschliessen, noch bevor die Hongkong-Krise das Band zwischen London und Peking zerriss.
Und in Brüssel zwingt das Europäische Parlament die EU-Kommission, Klartext zu reden. Diesen März wollte die Kommission erstmals in einem Bericht festhalten, China verantworte Desinformationskampagnen in Europa. In letzter Minute intervenierte Peking und drohte mit Konsequenzen bei einer Veröffentlichung. Brüssel knickte ein. Doch als die «New York Times» die Sache ans Licht brachte, stieg das Parlament auf die Barrikaden. Der Bericht, der Chinas Aktivitäten dokumentiert, erschien schliesslich doch.
Chinapolitik war einst Sache der hohen Diplomatie und der Hinterzimmerdeals. Aber der Handelskrieg bringt die Konfliktlinien an die Öffentlichkeit. Konservative Transatlantiker im Verbund mit Europas links-grünem Lager zwingen ihren Regierungen einen chinakritischeren Kurs auf. Europas Regierungschefs entgleitet zusehends die Kontrolle über die Chinapolitik.
3. China, der unerfreuliche Investor
Nicht zuletzt ist die wachsende Chinaskepsis auch die Folge enttäuschter Hoffnungen. Im Süden und Osten der EU – etwa in Griechenland – erkaufte sich Peking durch schöne Versprechungen vor allem im Infrastrukturbereich politische Schützenhilfe. Doch ist davon wenig umgesetzt worden.
Im Gegensatz zur EU verschenkt China kein Geld. Peking bietet den Bau von Flughäfen oder Strassen nur gegen Kredit. Und die Zinskonditionen aus Fernost sind wesentlich schlechter als jene der Europäischen Investitionsbank oder der Weltbank. Wenn Rom nun doch überlegt, Huawei vom italienischen 5G-Netz auszuschliessen, dann auch, weil Pekings leere Versprechen sogar die chinafreundliche 5-Sterne-Bewegung frustrieren.
Auch die nordeuropäischen EU-Mitglieder sehen China mittlerweile weniger als lukrativen Exportmarkt denn als Bedrohung. Seit 2012 pocht die EU auf ein Abkommen mit China, das den europäischen Unternehmen einen besseren Zugang zum chinesischen Markt sichern soll. Doch die Verhandlungen kommen nicht richtig voran. Peking will an seinem Staatskapitalismus dauerhaft festhalten. Und so nähern sich auch die traditionellen Handelsnationen der EU immer mehr den drei klassischen französischen Positionen in der Wirtschafts- und Aussenhandelspolitik an:
Die EU muss Verhandlungsmasse aufbauen, um China zu Konzessionen zu zwingen.
Europas Unternehmen sollen besser vor der Konkurrenz staatsnaher chinesischer Nebenbuhler geschützt werden, notfalls muss europäischen Unternehmern unter die Arme gegriffen werden.
Wenn der Staat in Chinas Wirtschaft auf Dauer der bestimmende Faktor bleibt, müssen für die EU-Wirtschaftspolitik immer souveränitätspolitische Aspekte mitbedacht werden.
Die Regierung in Berlin fordert, dass Brüssel Chinas staatssubventionierte Unternehmen mit höheren Importzöllen belegt und ihren Zugang zu öffentlichen Beschaffungsmärkten der europäischen Länder einschränkt.
Die EU-Wettbewerbspolitik soll revidiert werden, um Zusammenschlüsse europäischer Unternehmen zu ermöglichen, die mit Chinas Staatsfirmen mithalten können. Bereits 2019 beschlossen die 27 EU-Mitgliedsstaaten einen Mechanismus, wonach künftige Übernahmen europäischer durch chinesische Firmen von Brüssel aus strategischer Sicht geprüft werden.
Auch in der Industriepolitik wird eurostrategisch gedacht. Deutschlands Corona-Konjunkturpaket sieht allein 7 Milliarden Euro für die Entwicklung und die Infrastruktur von 5G vor. Auch sind 9 Milliarden für den Aufbau einer Wasserstoffindustrie und je 2 Milliarden für Forschung in den Bereichen Quantencomputing und künstliche Intelligenz vorgesehen. Deutschland und Frankreich stecken weitere Milliarden in eine europäische Batterieindustrie und lancieren das europäische Cloudprojekt Gaia-X. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, setzt der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier einen 100-Milliarden-Euro-Fonds auf, der jederzeit deutsche Unternehmen aufkaufen kann, an denen China Interesse zeigt.
Das neue europäische Narrativ
Als der französische Präsident Emmanuel Macron vor drei Jahren in seiner ersten Europa-Rede an der Pariser Universität Sorbonne eine «europäische Souveränität» als übergeordnetes Ziel künftiger EU-Politik forderte, klang das für viele wie das Hirngespinst eines Europa-Fantasten. Doch nun erklärt auch die deutsche Bundeskanzlerin: «Um den wirtschaftlichen Erfolg Europas und damit seine Handlungsfähigkeit auch zukünftig zu sichern, muss Europa sowohl technologisch als auch digital souverän werden.»
China führt vor Augen, warum es dieses «souveräne Europa» braucht. Es hat mit seinem aggressiven Auftreten den jüngsten Integrationsschritt der EU mitermöglicht: den 750-Milliarden-Euro-Fonds, der den von Corona besonders stark geplagten Ländern aus dem Schlimmsten helfen soll.
Die EU-Länder werden nun gemeinsam Schulden machen. Ein solcher Akt der Solidarität wäre vor kurzem noch undenkbar gewesen. Die Übereinkunft stabilisiert den europäischen Staatenbund über die Corona-Zeit hinaus. Inzwischen ist der Euro im Steigflug. Erstmals seit 2009, dem Beginn der Schuldenkrise, wettet niemand mehr auf den Kollaps der Einheitswährung. Auch politisch zeigt sich Europa konsolidiert. In Frankreich stieg die Zustimmung zu Staatspräsident Emmanuel Macron wieder auf 50 Prozent. In der Bundesrepublik ist Kanzlerin Angela Merkel im Umfragehoch.
Ein neues europäisches Selbstbewusstsein ist erwacht – getrieben von der Furcht, zwischen den USA und China zerrieben zu werden. So forderte auch der konservative niederländische Premierminister Mark Rutte in einer Churchill-Rede in Zürich, die EU müsse endlich Machtpolitik lernen.
Mit dem Narrativ der «europäischen Souveränität» hat die EU ein neues Ziel. Das eröffnet Verhandlungsspielraum in den internen Verteilkämpfen, die in der vergangenen Dekade den Staatenbund geprägt haben. Soll die Union geo- und handelspolitisch nicht weiter geschwächt werden, ist auch den «sparsamen» Regierungen in Nordeuropa und Österreich klar, dass sie das Scheckbuch in die Hand nehmen müssen.
Die Schweiz in der Zwickmühle
Zwangssterilisierungen in Xinjiang, die Machtübernahme in Hongkong, chinesische Ermittler in der Schweiz – und immer weitere Ausreden, um internationalen Firmen den vollen Marktzugang in China zu erschweren: Auch in der Schweiz werden kritische Stimmen lauter. Die Eidgenossenschaft fahre besser, wenn sie wieder näher zur EU rücke, statt mit Xi zu flirten.
Über Cassis’ China-Interview wird in Bundesbern heftig gestritten. Das Establishment ist gespalten:
Auf der einen Seite stehen Wirtschaftsvertreter mit ihrem ausgeprägten Sinn für das Kurzfristige. Sie möchten an der traditionellen Chinapolitik festhalten. Die Schweiz solle sich dabei als Vermittlerin zwischen den grossen Blöcken profilieren, als Hüterin der Genfer Konventionen hin und wieder auf die Menschenrechte hinweisen, aber vor allem möglichst Freihandel treiben.
Auf der anderen Seite sind die Chinaskeptiker. Sie reichen von der SP bis in die CVP und die SVP und stehen dem bedingungslosen Austausch kritischer gegenüber – sei es aus Sorge um die Menschenrechte, sei es, weil sie den «Ausverkauf der Heimat» an chinesische Investoren fürchten; sei es, weil sie in der Schweiz für wenig Staat und viel Privatsphäre plädieren, also die Kontrolle über ihre Dateninfrastruktur nicht Huawei überlassen wollen; sei es, weil sie von der Wandel-durch-Handel-These abgekommen sind und überzeugt sind, dass sich China ohne Druck nicht weiter öffnen wird.
Hinter vorgehaltener Hand weisen Exportunternehmer auf die schwieriger werdenden Bedingungen in China hin. Symbolisch dafür steht das Label «Made in China 2025» – die Strategie, mit der die Volksrepublik in vielen Branchen unabhängig vom Westen werden will. Seit sie beschlossen wurde, erhalten chinesische Firmen seltener einen Kredit, um Investitionsgüter aus dem Ausland zu importieren. Die Zulassung ausländischer Produkte wird harziger, während die chinesische Konkurrenz auf grosszügige Subvention zählen darf. Und mit Hongkong haben hiesige Firmen obendrein ihr Einfallstor ins «Reich der Mitte» und viel Rechtssicherheit verloren.
Um dem zu begegnen – und auf Druck des Parlaments –, arbeitet das Aussendepartement beim Bund nun an einer expliziten Chinastrategie. Dass die Schweiz eine ähnliche Sprache wie die EU annehmen wird, die China inzwischen hochoffiziell als Systemrivalen bezeichnet, ist allerdings unwahrscheinlich. Auch ist kaum zu erwarten, dass die Schweiz dem deutschen Beispiel folgt. Die Bundesregierung hat letzte Woche eine neue Strategie zum indopazifischen Raum verabschiedet. Deutschlands Wirtschaft müsse sich von China wegdiversifizieren, heisst es da. Eine zu starke Abhängigkeit gefährde die Souveränität.
Eher geht es in Bundesbern darum, die diversen Chinakontakte der sieben Departemente besser zu koordinieren. Cassis’ Aussagen seien nicht als Spitze gegen China zu verstehen, wird beschwichtigt, sondern vielmehr als Argument gegen die anstehende Begrenzungsinitiative: Wird China unberechenbarer, ist die Schweiz stärker auf die EU angewiesen.
Gerade hier liegt jedoch die Krux aus Schweizer Sicht. Denn nicht nur das Fenster für eine opportunistische Chinapolitik schliesst sich zusehends. Auch der Spielraum in der Europapolitik wird immer enger – weil auch die EU im Zuge der neuen «europäischen Souveränität» den Wechsel von einer marktorientierten zu einer stärker staatszentrierten Strategie einläutet.
Die EU entwächst zusehends ihrer marktliberalen Phase, die vier Jahrzehnte währte. Sie wird protektionistischer und aktiver in der Industriepolitik. Von der Regulierung der Datenwirtschaft bis zu den Umweltstandards – der Zugang zum europäischen Markt wird immer stärker von einer guten regulatorischen Zusammenarbeit abhängig gemacht. Überspitzt gesagt wird die EU gerade staatskapitalistischer – ähnlich wie China und frei nach dem Prinzip «Wandel durch Handel», nur in umgekehrter Richtung.
Für die Schweizer Exportwirtschaft hatte die Erhaltung des Marktzugangs in den zwei grossen Blöcken bislang Priorität. Jetzt verkompliziert sich diese Politik – China macht Ärger, Europa schliesst die Reihen.
Joseph de Weck ist Historiker und Politologe in Paris. Er leitet die Europa-Abteilung eines Beratungsunternehmens für geopolitische und makroökonomische Risiken. De Weck ist zudem Kolumnist des «Berlin Policy Journal» der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Fellow des Foreign Policy Research Institute.