Politische Gewalt in den USA, Corona-Demos in Berlin und Zürich – und «Charlie Hebdo» will «niemals ruhen»
Woche 36/2020 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Ronja Beck, Oliver Fuchs und Marie-José Kolly, 04.09.2020
Proteste in den USA werden lebensgefährlich
Darum geht es: Aus extremer Polarisierung wird politische Gewalt. In den letzten Tagen wurden mehrere Menschen im Umfeld von Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt getötet. In Portland, Oregon, starb ein Anhänger von Donald Trump durch Schussverletzungen. Und in Kenosha, Wisconsin, erschoss ein jugendlicher Trump-Anhänger zwei Menschen. Präsident Trump nahm den 17-jährigen Todesschützen diese Woche in Schutz und verteidigte die Polizei. Sein demokratischer Herausforderer Joe Biden verurteilte jegliche Gewalt auf allen Seiten.
Warum das wichtig ist: Die extreme Rechte in den USA träumt schon seit Jahren von einem kommenden Bürgerkrieg. Davon ist das Land weit entfernt, aber in mehreren Städten ist die Situation tatsächlich brandgefährlich. Bis an die Zähne bewaffnete rechte Milizen marschieren auf – teilweise von der Polizei völlig unbehelligt. Geschäfte werden in Brand gesteckt oder geplündert. In den sozialen Netzwerken kursieren immer neue Videos von massiver Polizeigewalt, Sachbeschädigungen durch Demonstrantinnen verschiedener Gesinnung und Hassreden gegen die «Feinde». In der Vergangenheit vermochten Präsidenten in solchen Zeiten immer wieder zu schlichten und sich an das ganze Land zu wenden. Trump hingegen instrumentalisiert die Stimmung ganz gezielt für seinen Wahlkampf und befeuert sie zusätzlich. Sein Konkurrent bei den Wahlen, Joe Biden, verurteilte in einer Grundsatzrede die Gewalt. Er nutzte sie aber auch, um Wahlkampfbotschaften zu platzieren.
Was als Nächstes geschieht: In Portland konnte die Polizei nach eigenen Angaben noch keinen Verdächtigen festnehmen. Dem Todesschützen von Kenosha soll der Prozess wegen mehrfachen Totschlags gemacht werden.
Proteste gegen Corona-Massnahmen in der Schweiz und Deutschland
Darum geht es: In Berlin ist es vergangenes Wochenende zu einer grösseren Demonstration gekommen. Ein Potpourri von Menschen verschiedenster Gesinnung versammelte sich, um gegen die Corona-Massnahmen und die deutsche Regierung zu demonstrieren. Die Proteste endeten mit beschämenden Bildern vor dem Parlamentsgebäude. Auch in Zürich kam es am Samstag zu einer ähnlichen Demo.
Warum das wichtig ist: Rund 40’000 Menschen sollen am Samstag im Rahmen einer sogenannten «Hygienedemo» durch Berlin gezogen sein, um gegen die Corona-Auflagen zu demonstrieren. Die Demonstration wurde von der Anti-Regierungs-Initiative «Querdenken 711» organisiert. Unter die Protestierenden am Samstag mischten sich viele Impfgegnerinnen, Verschwörungsgläubige, Sektenmitglieder, Reichsbürgerinnen und Neonazis. Die Berliner Regierung hatte die Demo wegen erwartbarer Verstösse gegen Corona-Auflagen zuerst verboten, die Gerichte hatten den Entscheid jedoch gekippt. Es kam am Samstag wiederholt zu Rangeleien mit der Polizei, unter anderem vor der russischen Botschaft, wo Menschen «Putin!» skandierten. Die Polizei löste die Demo vorzeitig auf. Am Ende durchbrachen Hunderte Menschen die Absperrung vor dem Reichstag und stellten sich auf die Stufen vor dem Parlament. Auch in Zürich kam es am Samstag zu einer Demo, wenn auch in wesentlich kleinerem Umfang: Gemäss der Zürcher Stadtpolizei haben sich «weit über 1000 Teilnehmende» auf dem Helvetiaplatz versammelt. Die Demo verlief friedlich.
Was als Nächstes geschieht: Politikerinnen in Deutschland äusserten ihr Entsetzen über die Bilder in Berlin. «Das unerträgliche Bild von Reichsbürgern und Neonazis vor dem Reichstag darf sich nicht wiederholen», sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. In Berlin zog man im Nachgang zur Demo erste Konsequenzen und erliess eine Maskenpflicht für Demonstrationen. Kurz darauf verkündete Querdenken 711, die nächste Demonstration werde am 3. Oktober stattfinden, dieses Mal in Konstanz.
Untersuchung im Fall Wirecard
Darum geht es: Der deutsche Finanzdienstleister Wirecard hat im ganz grossen Stil betrogen, indem er seine Bilanzen schönte. Nun wollen die Oppositionsparteien im Bundestag – Linke, Grüne, FDP und AfD – klären, ob und wenn ja wann die Bundesregierung von Unregelmässigkeiten bei Wirecard wusste. Ein Untersuchungsausschuss soll den Fall aufarbeiten.
Warum das wichtig ist: Bei Wirecard fehlten für fast ein Viertel der Bilanzsumme des Unternehmens Nachweise – sie hätten gar nie existiert, gab die Firma im Juni zu. Es handelt sich gemäss der «Financial Times» um einen der grössten Buchhaltungsbetrugsfälle Europas, publik geworden nur Monate nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel in China für den Konzern geworben hatte. Wirecard flog aus dem Leitindex Dax und musste Insolvenz anmelden, Investorinnen und kreditgebende Banken erlitten einen Schaden von mehreren Milliarden Euro. Der ehemalige CEO wurde verhaftet, ein ehemaliges Verwaltungsratsmitglied ist auf der Flucht, die Münchener Staatsanwaltschaft ermittelt. Unklar ist, ob die Regierung Hinweise auf Unregelmässigkeiten erhalten hat und darauf nicht – oder zu wenig gründlich – reagiert hat. Denn das Unternehmen wird seit Jahren verdächtigt, seine Zahlen zu frisieren.
Was als Nächstes geschieht: Um einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu können, brauchen die Parteien ein Viertel der Stimmen im Bundestag. Linke, Grüne und FDP kämen zusammen auf 216 von 709 Stimmen, wenn alle ihre Abgeordneten mitmachten – sie brauchen also die AfD, auf die sie sich nicht stützen wollen, vermutlich gar nicht. Kommt ein Ausschuss zustande, wird er vermutlich der Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin besonders scharf auf die Finger schauen. Sie ist dem Bundesfinanzministerium unterstellt. Ebenfalls dürften ihn die Rechnungsprüfungsgesellschaften interessieren, die Wirecard prüften. Für sie ist das Bundeswirtschaftsministerium zuständig.
«Charlie Hebdo»: «Nous ne renoncerons jamais»
Darum geht es: In Paris steht seit Mittwoch eine Reihe von mutmasslichen Komplizen der Attentäter auf die «Charlie Hebdo»-Redaktion vor Gericht. Die Angeklagten sollen die Brüder Kouachi unterstützt haben, die beim islamistischen Anschlag im Januar 2015 zwölf Menschen töteten. Ausserdem sollen sie auch einem weiteren Mann geholfen haben, der nach dem Anschlag eine Polizistin und vier Kunden eines von Juden besuchten Supermarkts ermordete.
Warum das wichtig ist: Nach dem Anschlag ging eine Welle der Solidarität mit dem Magazin um die Welt. «Je suis Charlie!» wurde zum Wahlspruch für die Verteidigung der Meinungsfreiheit gegen Ignoranz, Terror und Diktatur. Kritiker warfen dem Magazin hingegen dünn verhüllten Rassismus vor – das Magazin hatte 2006 Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht. «Wir werden niemals ruhen. Wir werden niemals aufgeben», schrieb der Redaktionsleiter des Satiremagazins vor Prozessbeginn. Und «Charlie Hebdo» hob die Karikaturen erneut auf das Cover. Der französische Präsident Emmanuel Macron verteidigte den Entscheid: Es sei nicht seine Aufgabe, die redaktionellen Entscheidungen eines Journalisten oder einer Redaktion zu beurteilen. Auch für blasphemische Äusserungen gelte die Gewissensfreiheit.
Was als Nächstes geschieht: Die Verhandlungen sollen bis zum 10. November dauern. Den Angeklagten drohen Freiheitsstrafen bis hin zu lebenslänglich. Einige der gesuchten Verdächtigen sind nach Einschätzung von Geheimdiensten wahrscheinlich tot.
Zum Schluss: Der Letzte seiner Art
Schlimm, diese Identitätspolitik! Besonders in den USA. Da wurde ein politisch eigentlich völlig uninteressierter Mann sogar Präsident, einfach weil er den richtigen Papa hatte. Oder der Umstand, dass gerade jemand den Nahostkonflikt lösen soll, einfach weil er den richtigen Schwiegervater hat. Auf die Spitze treibt es aber der Bundesstaat Massachusetts: Da war so gut wie gewählt, wer den richtigen Familiennamen hatte: Kennedy. Seit John F. Kennedy 1946 ins Repräsentantenhaus gewählt wurde, war beinahe ununterbrochen mindestens ein Spross der Dynastie in irgendeinem politischen Amt: vom Präsidenten bis zum Botschafter in Irland. Jetzt hat ausgerechnet JFKs Grossneffe Joe die Vorwahlen in Massachusetts verloren. Gegen einen Markey! Aber keine Angst: Rettung naht in Form von Amy Kennedy (geborene Savell). Sie kandidiert derzeit für einen Sitz im Abgeordnetenhaus. Allerdings in New Jersey.
Was sonst noch wichtig war
Grossbritannien: Am kommenden Montag wird der Auslieferungsprozess gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange weitergeführt. In den USA droht ihm lebenslange Haft. Der Prozess unterwandert die Pressefreiheit massiv.
Deutschland: Die Bundesregierung hat am Mittwoch mitgeteilt, dass der «zweifelsfreie Nachweis» vorliegt, dass der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Er wird derzeit in Berlin behandelt.
Libanon: Mustapha Adib wird der neue Premierminister. Am Montag votierte das Parlament mit grosser Mehrheit für den ehemaligen Diplomaten. Er gilt als Vertreter des Establishments.
USA: Die Trump-Regierung belegt die Chefermittlerin des Internationalen Strafgerichtshof mit Sanktionen. Fatou Bensouda untersucht derzeit mögliche Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan.
Griechenland: Im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos wurde die erste Infektion mit dem Coronavirus nachgewiesen – bei einem 40-jährigen Somalier. Das Lager wurde abgeriegelt.
Grossbritannien: Die schottische Regierung will erneut über die Unabhängigkeit abstimmen lassen – und bald konkrete Pläne dafür vorlegen. Für ein Referendum ist die Zustimmung der Regierung in London nötig.
Ruanda: Paul Rusesabagina wurde während des Genozids weltberühmt, weil er Verfolgten in seinem Hotel Zuflucht bot. Nun wurde er verhaftet. Die Regierung wirft ihm Terror und Mord vor.
Italien: Die rund 300 Geflüchteten an Bord des Schiffes Sea-Watch 4 dürfen in Sizilien an Land gehen. Das Schiff hatte vergangene Woche einen Notruf abgesetzt, weil es manövrierunfähig war.
Sudan: Die Übergangsregierung und ein Bündnis mehrerer Rebellengruppen haben ein Friedensabkommen unterzeichnet. Das weckt Hoffnung auf ein Ende des 17 Jahre dauernden Bürgerkriegs in Darfur.
Russland: Der kremlkritische Journalist und Oppositionelle Jegor Schukow ist bei einem Angriff in Moskau schwer verletzt worden. Er befindet sich im Krankenhaus.
Slowakei: Im Prozess zum Mord am Investigativjournalisten Ján Kuciak kam es gestern zu mehreren Schuldsprüchen. Der als Auftraggeber des Attentats Beschuldigte, ein umstrittener Geschäftsmann, wurde aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Die Top-Storys
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Der Mittelfinger als Markenzeichen Das Rap-Video «Szene isch Basel» ist auf Youtube nach sechs Wochen über 65’000 Mal aufgerufen worden. Für einen Basler Rapper wie S-Hot, von dem der Track stammt, ist das ordentlich. S-Hot, eigentlich Esrat, spielt mit dem Song auf ein jüngeres Internetphänomen in der Schweiz an: Auf sogenannten «Szene is(c)h»-Accounts werden Polizeieinsätze, Schlägereien und sonstiges Grenzwertiges gepostet. S-Hots Lied ist dabei zum Soundtrack für die fragwürdigen Videos geworden. Die Social-Media-Giganten wie Instagram haben wenig Freude. S-Hot derweil nutzt die Gunst der Stunde. Und das Basler Onlinemagazin «bajour» fragt sich: Jä, wiä isch diä Szene jetzt?
Ein Spiel wie eine Droge Wir kommen nicht drum herum, dieses Spiel für Ihr Smartphone müssen wir Ihnen empfehlen. Kein gewöhnliches Spiel. «My Exercise» schafft das, was nur grosse Kunst schafft: die Grenzen zwischen Genialität und Wahnsinn nicht nur zu verwischen, sondern vollständig aufzulösen. Worum es geht? Um einen Hund und einen dicklichen Jungen, der Liegestütze macht. Glauben Sie uns: Es werden die besten verschwendeten 10 Minuten Ihres Lebens. Mindestens.
Illustration: Till Lauer