«Sie wollen eine Linie ziehen zwischen Wikileaks und dem übrigen Journalismus, zwischen Assange und den anderen Journalisten»
Julian Assange hat Kriegsverbrechen öffentlich gemacht, dafür wollen ihn die USA wegen Spionage ins Gefängnis werfen. Ein Gespräch mit Wikileaks-Chefredaktor Kristinn Hrafnsson über Transparenz und Journalismus in einer von Geheimhaltung überzogenen Welt. Und über sauberes Handwerk.
Von Daniel Ryser, 24.02.2020
Teil 1. Reykjavík, Kollaps
«Ich bin ein Journalist alter Schule», sagt Kristinn Hrafnsson bei der ersten Zigarette. «Ich komme aus der Zeit der Schreibmaschinen und Faxgeräte.» Und das ist natürlich dann irgendwie überhaupt nicht das, was man vom Chefredaktor einer Internet-Enthüllungsplattform erwarten würde, die immer auf dem neusten Stand der Verschlüsselungstechnologie kommuniziert und den Journalismus in den letzten zehn Jahren mit breit angelegten Medienkooperationen revolutioniert hat. Und die keine eigentlichen Redaktionsräume kennt, «und wenn dem so wäre, dann könnte ich es Ihnen nicht sagen, die Überwachung ist zu massiv», sagt er. (Hrafnsson weiss das, weil Google ihm Ende 2014 mitgeteilt hat, dass die US-Regierung das Unternehmen gezwungen hatte, alle vorhandenen Daten – private Mailkorrespondenz, GPS-Daten – des Wikileaks-Kernteams herauszugeben, jene von Hrafnsson, Sarah Harrison und Joseph Farrell.)
Also quasi alles, nur nicht Schreibmaschinen.
«Ich war lange ein klassischer Reporter», sagt der 57-jährige Isländer. «Ich arbeitete für das Staatsfernsehen. Mit Wikileaks hat sich mein Arbeitsumfeld komplett verändert. Wir waren von Anfang an onlinebasiert. An keinen Ort gebunden. Das ist kein Nine-to-five-Job. Häufig vergessen die Leute, dass sie mit jemandem telefonieren, der in einer anderen Zeitzone lebt. Aber man gewöhnt sich daran. An die zerstückelten Tage. Nach zwanzig Jahren als klassischer Reporter hatte ich eine gewisse Müdigkeit verspürt. Ich kann behaupten: Diese Müdigkeit spüre ich nicht mehr.»
Und zum neuen Job kam er so.
Kristinn Hrafnsson war im kleinen Island bekannt (und mehrfach ausgezeichnet) für seine Recherchen zu Kriminalität und Korruption. 2009 recherchierte er rund um den drohenden Kollaps der drei grössten isländischen Banken, die im Zuge der Finanzkrise mit angehäuften Milliardenschulden das ganze Land in einen Abgrund zu reissen drohten.
Hrafnsson schaufelte immer mehr Dreck an die Oberfläche. «Aber es fehlte uns das Gesamtbild, was wirklich passiert war.»
Damals reiste ein junger Australier namens Julian Paul Assange nach Island. 2006 hatte er eine Website namens Wikileaks gegründet, wo Whistleblower anonym interne Dokumente von Regierungen und Firmen hochladen konnten.
Das Ziel war Transparenz.
Wenn öffentliches Interesse gegeben war, publizierte Wikileaks die Dokumente. Assange war nach Island gekommen, um befreundete Aktivisten zu treffen – und weil ihm Dokumente aus dem Inneren der Kaupthing Bank zugespielt worden waren, der grössten der drei wankenden Banken. Die Dokumente bewiesen Korruption. Assange veröffentlichte.
«Es war das erste Mal, dass ich von Wikileaks hörte», sagt Hrafnsson. «Ich bekam einen Tipp, dass dort Dokumente hochgeladen worden seien, die für meine Recherchen von Interesse seien. Tatsächlich stiess ich dort auf Dokumente, die belegten, wie die Banker ohne jegliche Sicherheiten Kredite in Milliardenhöhe vergeben hatten.»
Damals habe er ein wenig den Glauben an den Journalismus verloren gehabt. «Weil wir es alle nicht hatten kommen sehen: die Korruption der Banken, das Versagen der Politik, die mit zu laschen Regeln die Krise erst ermöglicht hatte», sagt Hrafnsson. «Ich erkannte schnell, dass das Ideal von Wikileaks purer journalistischer Natur war: die Pflicht, geheime Informationen zu veröffentlichen, wenn die Geheimhaltung der Vertuschung von Korruption und Verbrechen dient.»
Die Oberfläche, unter der es gebrodelt hatte: Assange sprengte sie mit dem System Wikileaks einfach weg. «Damit ist schon beantwortet, warum diese Plattform als derart gefährlich betrachtet wird: Sie steht gegen den Zeitgeist, in dem immer mehr als geheim klassifiziert wird.»
«Für eine Demokratie wird Geheimhaltung schon ab einem sehr frühen Stadium zur Gefahr», sagt Hrafnsson. «Wir haben den kritischen Punkt längst überschritten. Das heutige Mass an Geheimhaltung bedroht die Demokratien fundamental. In den USA steigt seit dem 11. September 2001 die Zahl der als geheim eingestuften Dokumente jedes Jahr stark an. Einfach gesagt: Die Mächtigen betreiben immer mehr Geheimhaltung, während die Bürgerinnen und Bürger immer exponierter werden und es für sie keine Privatsphäre mehr gibt. Das ist ein Ungleichgewicht, das einhergeht mit der wachsenden ökonomischen Ungleichheit.»
Island, 2009: «Die Kaupthing Bank versuchte mit einer gerichtlichen Verfügung, meine Berichterstattung zu verhindern», sagt Hrafnsson. «Es war eine hilflose Aktion, die die Empörung und den Ruf nach Transparenz in der Bevölkerung nur noch verstärkte. Die Dokumente waren ja sowieso auf Wikileaks einzusehen. Bald darauf wanderten die ersten Banker ins Gefängnis.» Daraufhin habe man Assange als Experten ins Parlament eingeladen, und er selber sei bald bei Wikileaks eingestiegen. «Island sollte zu einem Hafen der Transparenz werden, wo auch Whistleblower maximalen Schutz geniessen.»
Teil 2. Bagdad, Body Count
Ich treffe Kristinn Hrafnsson im Frontline Club in London – ein Club für Journalistinnen und Journalisten mit Schwerpunkt Kriegsberichterstattung mit eigenem Restaurant und Schlafzimmern. Hier hatte Julian Assange im Sommer 2010 eine denkwürdige Pressekonferenz abgehalten: die Präsentation des «Afghan War Diary», «eines umfassenden Archivs von geheimem Militärmaterial aus sechs Jahren, das ein ungeschminktes und düsteres Bild des Krieges in Afghanistan zeigt», wie die «New York Times» am 25. Juli 2010 schrieb, die an der Publikation beteiligt war.
Bilder getöteter Kriegsreporter zieren die Wände. Ehemalige Mitglieder des Clubs. Im Treppenhaus erinnert eine Tafel an Jamal Khashoggi, den Journalisten und Kolumnisten der «Washington Post», der 2018 im saudiarabischen Konsulat in Istanbul ermordet worden war.
«Das ist die Zeit, in der wir leben», sagt Hrafnsson, seltsam unaufgeregt, klar, bodenständig, Typ Handwerker, als wir vor dem Club stehen und rauchen. «Ein Alliierter der USA, Saudiarabien, kann eine Todesschwadron in das Land eines Nato-Mitglieds schicken, um einen kritischen Journalisten zu ermorden und zu zerstückeln – und der grosse Aufschrei bleibt aus. Und die Auftraggeber dieser abscheulichen Tat bleiben straffrei.»
Ein paar Monate bevor Julian Assange im Frontline Club die afghanischen «Kriegstagebücher» präsentiert, reist Kristinn Hrafnsson mit einem Kamerateam nach Bagdad: Im Februar war der Enthüllungsplattform von der US-Soldatin Chelsea Manning ein riesiger Datensatz von als geheim eingestuften militärischen Dokumenten zugespielt worden. Die Dokumente betreffen den Irakkrieg, den Afghanistankrieg, Depeschen von US-Botschaften. Letztere, zum Beispiel, dokumentierten unter anderem die von den USA beobachtete, dokumentierte und tolerierte massive Korruption des tunesischen Autokraten Zine al-Abidine Ben Ali und befeuerten somit bereits laufende Proteste, die Forderung nach Demokratisierung des Landes und schliesslich Ben Alis überstürzten Abgang (er floh im Januar 2011, wenige Wochen nach den Wikileaks-Publikationen, nach Saudiarabien).
Durch die schrittweise Publikation von Dokumenten zwischen April 2010 und August 2011 – in einer bis dato ungesehenen Kooperation verschiedener Medienhäuser, die Wikileaks als Partner gewinnen konnte, zuallererst die «New York Times», der «Spiegel» und der «Guardian» – waren die USA unter anderem gezwungen, die Opferzahlen von irakischen Zivilisten um Zehntausende nach oben zu korrigieren.
«Diese vielen durch den Krieg getöteten Menschen, die meisten davon Zivilisten, waren zwar vom US-Militär registriert, aber nicht öffentlich gemacht worden», sagt Hrafnsson.
Die Leaks dokumentierten Hunderte Fälle von Folter durch US-Soldaten im Irak («The Iraq War Logs»). Oder die Verschleppung und Folterung von Menschen aufgrund völlig unzulänglicher Beweise im Gefangenenlager Guantánamo («Guantánamo Bay files leak»). Und sie dokumentierten das ganze und viel grössere und schrecklichere Ausmass des Krieges in Afghanistan, als bisher vermittelt worden war («The Afghan War Logs»).
Der «Guardian» nannte die «Afghanistan-Tagebücher» «eines der grössten Leaks in der Geschichte des US-Militärs». Die in Kooperation mit Wikileaks, «Spiegel» und «New York Times» publizierten Dokumente seien, so das damalige «Guardian»-Editorial, «ein erschütterndes Porträt des scheiternden Krieges in Afghanistan, das enthüllt, wie Koalitionstruppen Hunderte Zivilisten ermordeten, wie die Angriffe der Taliban zunehmen und wie die Nato-Kommandanten befürchten, dass die angrenzenden Länder Pakistan und Iran den Aufstand befeuern.»
Und die Reise von Hrafnsson nach Bagdad.
Sie war zentral. Und brisant.
Denn die Dokumente enthielten auch ein Video, das die Wahrheit zum Vorschein brachte über einen Vorfall aus dem Jahr 2007, als über ein Dutzend irakische Zivilisten und zwei Reuters-Journalisten ermordet worden waren. Ein Vorfall, der von der US-Regierung nie kommentiert worden war.
Das Video, das von Wikileaks als Auftakt der zahlreichen Leaks am 5. April 2010 unter dem Titel «Collateral Murder» veröffentlicht wurde, zeigt, wie US-Soldaten aus einem Hubschrauber heraus mit Salven aus einem Maschinengewehr ein Dutzend Menschen niedermähen. Darunter die beiden Reuters-Journalisten Namir Noor-Eldeen und Saeed Chmagh sowie einen Mann namens Saleh Matasher Tomal, der in einem kleinen Bus unterwegs war, auf dem Rücksitz sein zehnjähriger Sohn und seine fünfjährige Tochter.
«Das Video war ein eindringlicher Gegenstand: eine unbearbeitete Darstellung der Vielschichtigkeit und Grausamkeit moderner Kriegsführung – und er hoffte, dass seine Veröffentlichung eine weltweite Debatte über die Konflikte im Irak und in Afghanistan auslösen würde», schrieb der «New Yorker» später in einem grossen Porträt über Julian Assange.
«In Bagdad traf ich Verwandte der Getöteten», sagt Hrafnsson. «Da sass ich in diesem grossen Raum mit vielen Angehörigen der Getöteten, auch der Witwe von Matasher Tomal, seinen beiden Kindern, und schämte mich für meine Branche. Die Geschichte hatte wegen der beiden Reuters-Journalisten drei Jahre lang zirkuliert, aber niemand war auf die Idee gekommen, vor Ort zu recherchieren. Die Leute vor Ort schien das aber auch nicht weiter zu erstaunen. Der Grund offenbarte sich in den Dokumenten, die wir publizierten: Das fast schon beiläufige Abschlachten von Zivilisten durch Soldaten, etwa durch wahlloses Feuern aus dem vorbeifahrenden Wagen, war im Irak Alltag. Absolut nichts Aussergewöhnliches. Wir haben in Bagdad ihre Version der Geschichte dokumentiert. Etwa, wie sich der Vater über die beiden Kinder warf, um sie zu schützen. So fügte sich das Puzzle zusammen.»
Hrafnsson spürte auch den US-Soldaten Ethan McCord auf: Er kam als Teil eines sogenannten Platoons als Erster an den Ort des Geschehens und zog die beiden Kinder unter ihrem getöteten Vater hervor aus dem zerschossenen Bus. Er trat vor die Kamera.
«McCord wurde ein ausgesprochener Gegner des Krieges», sagt Hrafnsson. «Wie viele andere Soldaten bestätigte er, was man auf diesem Video sieht, das für mich ein Symbol dieses Krieges ist: das Ungleichgewicht der Kräfte; die Blutlust; die totale Geringschätzung menschlichen Lebens durch eine hochgerüstete, martialische Militärmacht. Zivilisten werden mit 3-Zentimeter-Kugeln niedergemetzelt, die eigentlich dafür gemacht sind, Panzer zu durchbrechen. Sie explodieren beim Einschlag. McCord sagte, der Körper von Matasher Tomal sei als solcher gar nicht mehr zu erkennen gewesen.»
Teil 3. London, Isolation
Für die Publikation von «Collateral Murder» und die weiteren Publikationen, veröffentlicht zwischen April 2010 und August 2011, in Zusammenarbeit mit bis zu hundert Medienhäusern, soll Julian Assange wegen Spionage an die USA ausgeliefert werden. Er ist angeklagt, als geheim eingestuftes Material beschafft und erhalten zu haben. Ihm drohen 175 Jahre Haft.
«Ich empfand den Wikileaks-Co-Gründer immer als eine schwierige Figur, um zusammenzuarbeiten», schrieb Ex-«Guardian»-Chef Alan Rusbridger, als das Auslieferungsbegehren bekannt wurde. «Aber eine Auslieferung an die USA würde journalistisches Arbeiten kriminalisieren.»
«Die Anklage gegen Julian Assange ist eine Bedrohung für den Journalismus», schrieb John Cassidy im «New Yorker»: «In den Ausführungen der Anschuldigungen gegen Assange werden viele Handlungen als Verschwörung bezeichnet, die eindeutig legitime journalistische Praktiken sind, etwa das Verwenden verschlüsselter Nachrichten, das Bewirtschaften von Quellen, die Ermutigung, dass sie mehr Material beschaffen.»
Das US-Justizdepartement unter Barack Obama (das gleichzeitig Whistleblower wie Chelsea Manning mit aller Härte verfolgte) hatte auf eine Anklage von Assange verzichtet, wie ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter dem «New Yorker» sagte: «Das grösste Problem in der Sache war immer, was wir als ‹New-York-Times-Problem› bezeichneten: Wie verfolgt man Julian Assange, weil er als geheim eingestuftes Material veröffentlicht hat – aber nicht die ‹New York Times›?» Man klagte nicht, so «The Intercept», weil man den Unterschied nicht festmachen konnte.
«Wir wissen jetzt, wie sie es zumindest versuchen wollen», sagt der Wikileaks-Chefredaktor bei unserem Treffen in London.
«Kurz nachdem Mike Pompeo unter Donald Trump CIA-Direktor wurde, bezeichnete er Wikileaks als feindlichen, nicht staatlichen Geheimdienst. Niemand hat jemals zuvor von einer solchen Definition gehört. Damit aber will die Trump-Administration eine Linie ziehen zwischen Wikileaks und dem übrigen Journalismus, zwischen Assange und den anderen Journalisten. Man bestreitet einfach, dass es sich hier um Journalismus handelt. Es ist ein absolut irreführender Akt, zu behaupten, Julian Assange sei kein Journalist. Er hat den höchsten Journalistenpreis erhalten, den Australien zu vergeben hat. Und zweitausend weitere Journalistenpreise. Entweder als Person oder als Repräsentant von Wikileaks. Die australische Journalistengewerkschaft betrachtet ihn als Journalisten, wie auch jene in der UK. Ebenso die Internationale Journalisten-Föderation. Niemand bezweifelt, dass er ein Journalist ist. Ausser CIA-Direktor Mike Pompeo.»
«Sie wissen, woher das kommt.»
«Woher kommt was?»
«Die Behauptung, Assange sei ein Spielball der russischen Regierung. Quasi ein Agent. Wikileaks hatte im Wahlkampf 2016 publik gemacht, dass die Demokratische Partei intern versucht hat, Bernie Sanders zu verhindern, damit er Hillary Clinton nicht in die Quere kommt. Der Vorwurf aus dem Clinton-Lager lautete: Wikileaks sei von Russland gefüttert worden.»
«Zuerst einmal geht es bei diesem Auslieferungsbegehren nicht um diese Dinge. Ein New Yorker Gericht hat in jener Sache 2019 entschieden, dass Wikileaks durch das First Amendment geschützt ist, den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der die Pressefreiheit garantiert. Fragen Sie mich jetzt, warum wir derartige Dinge publiziert haben? Es waren News, die von allen aufgenommen wurden. Journalismus ist kein Spiel, um Leuten zu gefallen. Wenn Sie es als Ihre Aufgabe betrachten, zu gefallen, indem Sie immer die richtigen Dinge sagen, dann sind Sie im Journalismus am falschen Ort. Man macht Leute wütend mit unbequemen Wahrheiten: Das ist Journalismus. Für mich als Chefredaktor von Wikileaks sind letztlich zwei Dinge entscheidend: Ist das Material echt? Und wenn ja, ist es von öffentlichem Interesse? Selbstverständlich war es für den Vorsitz der Demokratischen Partei sehr unbequem, dass bekannt wurde, wie man sich gegenüber einem der eigenen Kandidaten verhalten hat.»
Die USA fordern von Grossbritannien die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange, um ihn wegen Spionage vor Gericht stellen zu können. Ihm drohen 175 Jahre Haft. Heute Montag beginnt der erste Teil der Anhörungen im Auslieferungsverfahren, der zweite Teil folgt im Mai. Assange sitzt derzeit in einem Hochsicherheitsgefängnis in London – im April 2019 verurteilt zu fünfzig Wochen Haft wegen Kautionsverstosses, was das Uno-Gremium «Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen», das dem Hochkommissariat für Menschenrechte untersteht, als «völlig unverhältnismässige Haftstrafe» bezeichnete. Bereits 2015 warf dasselbe Uno-Gremium Schweden und Grossbritannien vor, Julian Assange «willkürlich gefangen zu halten», und forderte die beiden Staaten auf, umgehend eine Lösung für die Situation zu finden (was beide Staaten kommentarlos ignorierten). Im November 2019 hatte der Uno-Sonderbeauftragte einen umfassenden Fragenkatalog publik gemacht, den er zuvor der schwedischen Regierung zugestellt hatte: Wie Schweden die Prozessführung im Fall Assange mit den Menschenrechten in Einklang bringe? Die schwedische Regierung verweigerte eine Stellungnahme. Im Januar 2020 sagte der Uno-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, in einem Gespräch mit der Republik, Assanges Menschenrechte seien in den vergangenen zehn Jahren systematisch verletzt worden, der Mann sei durch eine völlig willkürliche Prozessführung psychologisch gefoltert worden – und wenn er an die USA ausgeliefert werde, drohe das Ende der Pressefreiheit.
Wir stehen vor dem Frontline Club. Rauchend.
«Haben Sie eigentlich keine Angst, der Nächste zu sein?», frage ich.
«Der nächste was?»
«Der nächste Journalist, der im Gefängnis landet?»
«Es gibt viele Journalisten, die sich jeden Tag in viel grössere Gefahr begeben. Oder sogar getötet werden. Oder jetzt, in diesem Moment, im Gefängnis sitzen. Ihnen gilt meine Bewunderung und meine Solidarität. Aber ja, wenn ich mir vorstelle, dass in Zukunft jeder Journalist an jedem Ort der Welt für die Publikation von geheimem Material verfolgt werden kann, kriege ich es mit der Angst zu tun.»
«Haben Sie diese heftige Reaktion erwartet?»
«Es wurde mir sehr schnell bewusst, dass unser Material, das wir publizierten, nicht die ganze Geschichte darstellt. Sondern dass ebenfalls zur Geschichte gehört, wie heftig darauf reagiert wird.»
«Wie wurde reagiert?»
«Wir hatten aufgrund der Leaks sehr gutes Feedback in Form von Spenden, was bis heute eine finanzielle Grundlage unserer Organisation ist. Eine Woche nachdem wir im November 2010 die Depeschen US-amerikanischer Botschaften veröffentlicht hatten, blockierten die Bank of America, Visa, Mastercard, Paypal, Western Union alle unsere Zahlungen und Konten. Firmen, die immer behauptet hatten, Plastikgeld sei bloss das Äquivalent zu Papiergeld. Politik spiele dabei keine Rolle. Jetzt bewiesen sie, dass dem nicht so war. Erst nach drei Jahren gelang es uns, die Blockade gerichtlich aufzuheben. Und dann gab es all diese direkten Drohungen von Leuten, die in den USA am Fernsehen auftraten und die Ermordung von Julian forderten. Irgendwer, ich glaube die Tochter eines ehemaligen Vizepräsidenten, forderte, man müsse unverzüglich Island bombardieren, weil sie irgendwie meinte, dort sei unser Hauptquartier.»
«Kaum waren die Afghanistan-Tagebücher publiziert, behauptete der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates, nicht die US-Regierung gefährde Leben, sondern Wikileaks: Mit der Publikation der Afghanistan-Tagebücher habe Wikileaks Hunderte ‹Informanten› in Lebensgefahr gebracht. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?»
«Die Behauptung ist eine Erfindung, die umgehend erhoben wurde. Aber sie ist falsch», sagt Kristinn Hrafnsson.
Tatsächlich ist es so, dass sich für die Behauptung des amerikanischen Verteidigungsministeriums keine Belege finden lassen. In einer Radiostunde der BBC vom Mai 2019 sagte die italienische Journalistin Stefania Maurizi, die sich für «Espresso» und später «La Repubblica» intensiv mit den Wikileaks- und Snowden-Dokumenten beschäftigte, die Darstellung sei sogar nachweislich falsch. «Die Publikationen haben niemanden das Leben gekostet», sagte Maurizi. «Wir wissen das, weil während des Prozesses gegen Chelsea Manning ein hochrangiger Offizier der US-Spionageabwehr unter Eid ausgesagt hat, dass durch die Leaks niemand zu Schaden gekommen sei.»
Hrafnsson sagt, plötzlich habe das US-Militär von Schaden gesprochen. Von Schaden für die nationale Sicherheit. Für taktische Interessen. Für Soldaten. Für Zivilisten. Nur über den eigentlichen Inhalt der Dokumente habe das Militär nicht gesprochen.
«Die Behauptung, wir hätten das Material ungefiltert publiziert, hält einer Prüfung nicht stand», sagt der Isländer. «Wir haben die Dokumente analytisch auf Echtheit und Inhalt geprüft. Zusammen mit unseren Medienpartnern. Die Behauptung, es sei anders gewesen, war Propaganda, um nicht über die aufgedeckten Kriegsverbrechen reden zu müssen.»
Ich frage ihn, ob es das alles wert war, und er fragt mich, wie ich das meine.
«Die Kriegsverbrechen, die Sie aufgedeckt haben: Niemand ist dafür verfolgt worden», sage ich. «Die einzigen zwei Menschen, die dafür einen hohen Preis bezahlt haben, sind jene, die geholfen haben, sie aufzudecken: Chelsea Manning und Julian Assange.»
Hrafnsson sagt, Edward Snowden habe die Vorgänge von 2010 als Inspiration bezeichnet, die ihn dazu bewogen habe, den eigenen Schritt zu wagen. «Das ermutigt wiederum mich. Man kann vielleicht Assange einsperren, aber nicht die Idee. Auch wenn ich befürchte, dass der Umgang mit ihm, diese Abschreckung, sein Ziel nicht verfehlen wird. Aber Snowden hat bewiesen, dass es immer Leute geben wird, die ihre eigene persönliche Sicherheit beiseiteschieben für die Wahrheit.»
Und dann spricht Hrafnsson von Bagdad.
«Auch das ist ja ein wichtiger Teil dieser Geschichte: dass offenbar geworden ist, in welcher Welt wir heute leben. Dass Kriegsverbrechen einfach ungesühnt bleiben können.»
Als Journalist sei es seine Aufgabe, Wahrheit ans Licht zu befördern.
«Den Rest hätte die internationale Gemeinschaft erledigen müssen, die Gerichte», sagt er.
Alles, was er als Journalist den beiden Kindern – heute sind sie späte Teenager – des ermordeten Matasher Tomal habe anbieten können, sei gewesen, dass sie und die Welt die Wahrheit erfahren.
«Es ist nur eine kleine Form von Gerechtigkeit», sagt Hrafnsson. «Und es ist auch nicht die Gerechtigkeit, die wir eigentlich wollen: dass sie immerhin erfahren, was mit ihrem Vater genau passiert ist. Jetzt wissen sie es.»