Vom Zauber des belanglosen Innehaltens
Die Tessiner Raststätte Coldrerio rühmt sich, die «letzte Tankstelle vor Italien» zu sein. Besuch an einem Ort, an dem die Zeit stehen bleibt. Serie «Grenzerfahrungen», Folge 3.
Von Daria Wild (Text) und Andri Pol (Bilder), 02.09.2020
Irgendwann am Nachmittag fragt einer, während er stehend mit einer Gabel in einer Portion Reis und Speck herumfuhrwerkt: «Und was schreiben Sie da auf, so als Highlight?»
Nun.
Vielleicht muss man dazu etwas ausholen. Oder viel eher: etwas vermuten. Zum Beispiel: Autobahnraststätten sind keine Orte für Highlights.
Die Menschen rieseln hier durch, und gemeinsam haben sie nur eines: Sie bleiben nicht, sie sind auf dem Weg. Niemand kommt hier an, für länger. Raststätten sind unpersönliche Durchgangsorte im Niemandsland. Zentral sind hier die vermeintlich banalen Dinge: essen, aufs WC gehen, rauchen, Kaffee kaufen, den Rücken durchdrücken, die Beine vertreten, den Hund Gassi führen, die Kinder bändigen.
Als müsste man ihnen ein Gesicht geben, das sie nicht haben, sind die meisten Raststätten am Schweizer Nationalstrassennetz nach den Orten benannt, auf deren Gebiet sie stehen, obwohl von den Orten meist wenig zu sehen ist. Pratteln, Würenlos, Kölliken, Münsingen. Die Raststätte Coldrerio steht also in Coldrerio, einer knapp 3000-köpfigen Gemeinde im Tessiner Bezirk Mendrisio, und auch von Coldrerio sieht man nicht viel: Im Raststätten-Shop hat es keine Postkarten vom Tessin, dafür Pasta, die teuer aussehen soll. Es ist die «letzte Tankstelle vor Italien».
Vielleicht muss man aber auch einfach etwas behaupten. Zum Beispiel: Raststätten haben einen ganz eigenen Zauber. Genügsam und geduldig warten sie auf Reisende, schlafen nie. Raststätten sind Orte, an denen die Zeit, die eine Reise so rasch hinter sich bringt, kurz stehen bleibt.
Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.
Folge 2
Die Geschichte der Grenzen
Sie lesen: Folge 3
Die Tessiner Raststätte Coldrerio
Folge 4
Fleischliche Versuchung
Folge 5
Die deutsche Exklave Büsingen
Folge 6
Streit am Bodensee
Folge 7
Gemeinde Balzers, Liechtenstein
Steht man auf dem Parkplatz von Coldrerio Nord-Sud (der Raststätte, die man besucht, fährt man von Norden in Richtung Süden), blickt man auf drei, vier Wohnhäuser, orange Markisen, braune Jalousien, eine Garage. Sonst nichts. Und davor, oder daneben, je nach Perspektive, dieser stetige Fluss an Fahrzeugen, die in den Süden oder in den Norden fahren, das immer gleiche Bild. Der Himmel ist grau, die Sonne drückt.
Über die Geografie des Ortes Coldrerio stehen auf Wikipedia zwei Sätze: «Das Dorf ist rund zehn Kilometer von Chiasso entfernt und liegt nahe an der schweizerisch-italienischen Grenze.» Und: «Bekannt ist der Ort vor allem wegen der nahe gelegenen Autobahnraststätte an der A 2 und der Schneiderei von Zimmerli.»
Dabei ist die Raststätte ein nahezu unbeschriebenes Blatt: In manchem Staubericht wurde sie genannt – Stau vor dem Zoll nach Stau vor dem Gotthard –, und 2011 sorgte sich das Bundesamt für Umwelt, dass die Tigermücke mit Reisenden in die Schweiz kommen könnte. Die Arbeitsgruppe Tigermücke warf ein Auge auf Larven an der Raststätte. Um die Tigermücke wurde es bald wieder ruhig.
«Das ist keine Toilette»
Die Raststätte ist zweigeteilt, in Coldrerio Nord-Sud und Coldrerio Sud-Nord, beide bestehen aus einem grossen Parkplatz, einer Tankstelle und einem anthrazitfarbenen Gebäude mit wellblechartiger Fassade, darin ein Shop und eine Art Restaurant. Die beiden Seiten sind durch eine düstere Fussgängerunterführung verbunden, die unter der Autobahn durchführt, Eidechsen zischen ins hohe, trockene Gras, an einer Tür eingangs des Durchgangs hängt ein Zettel: Questo no es un wc, das ist keine Toilette. Es riecht nach Urin.
Wer hier durchfährt, überquert in wenigen Minuten die Grenze oder hat sie vor wenigen Minuten überquert. Vormittags sind das auf der Nord-Sud-Raststätte Autos mit Kennzeichen ZH, SH, BE, AG, Dänemark, Deutschland. Nur hinter dem Gebäude, auf den Mitarbeiterparkplätzen, stehen Autos mit italienischen Kennzeichen. Besonders auf dieser Seite sind an diesem Mittwoch mehr pausenmüssige Reisende anzutreffen. Man ahnt es; sie fahren fast alle in die Ferien nach Italien, einzelne nach Frankreich oder Korsika, zu zweit, zu dritt, zu acht, Familien auf zwei Autos verteilt, Hunde in Kofferräumen, Grosseltern auf Rücksitzen.
Ein Paar aus Tschechien weilt vormittags auf der Wiese, auf der später ausnahmslos Hunde spazieren geführt werden, der einzigen Wiese an dieser Raststätte, isst Rücken an Rücken hart gekochte Eier und selbst gebackenes Brot und erzählt in brüchigem Englisch von den Ferienplänen mit den Kindern. Nizza, auch als Inspiration für die Arbeit, er Maler, sie Autorin, die Kinder sind im Auto geblieben. «And what do you think of this place?» Ratlose Blicke.
Oder zwei Familien in zwei Boliden, einem tiefergelegten BMW in Schwarz und einem massigen Range Rover in Weiss, und ein Berg von einem Mann, der aus einem Znünitäschli Sandwiches fischt. Sie sind von Zürich auf dem Weg nach Italien ans Meer, hier findet der erste Stopp statt, es wird gegessen, geraucht, gepinkelt. Die Raststätte? «Also wir sind zum ersten Mal hier.»
Die Raststätte Coldrerio ist aufgeräumt, alles hat seinen Platz: ein riesiger, mit Platanen gesäumter Parkplatz, orange Mülleimer in regelmässigen Abständen, Dekokugeln aus weissem Plastik zwischen Tankstelle und Parkplatz. An Fahnenstangen flattern die schmalen, weiss-roten Flaggen des Raststättenbetreibers Ecsa.
60 Stunden pro Woche für 4500 Franken
Viele bleiben auf dem Parkplatz, bei ihren Autos, kurz die Beine vertreten, dann weiter. Das Restaurant ist kaum frequentiert, drei Spielautomaten stehen verloren im Raum herum, blinken und summen unbeachtet vor sich hin. Das «Gogo Pony», ein kleines Plastikpferd, das sich bewegt, wenn man Münzen reinwirft, wechselt unaufhörlich die Farben. Rot, Pink, Lila, Blau, Hellblau, Grün, Gelb, Orange, Rot. Vor den Kassen ist Platz zum Anstehen abgesteckt, aber niemand steht an. Tafeln stehen herum: «Next Exit for JUMMY FOOD!» Und: «Need a coffee? U are just 5 mt away :)» Aus den Lautsprechern dudelt Radio Swiss Pop, an der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem in Dauerschleife ein glückliches junges Paar durch den Raststätten-Shop schlendert.
Neben und hinter dem Raststättengebäude befinden sich die Lkw-Parkplätze, ein Zaun trennt ein kleines Maisfeld vom Teer. Zwei Lastwagen einer Firma aus Cham stehen da, die zwei Fahrer plaudern, einer muss gleich wieder los: «Ich bin im Seich!» Er habe noch Abladestationen abzuarbeiten, erklärt der andere, er habe auch nicht viel Zeit. Dann beginnt er zu reden und will gar nicht mehr aufhören; ein offenherziger junger Mann mit Dreitagebart, Dreivierteljeans und einem Tattoo am Oberarm. Tobias lebt im Muotatal, Waren transportiert er durch halb Europa. Wenns geht, machen die Fahrer untereinander ab, wo und wann sie Pause machen, «dann ist man nicht so allein». Tobias hat an diesem Tag in Biasca angefangen; vier Abladestellen hat er im Nordtessin gemacht, heute Nachmittag fährt er noch bis Parma.
Der Job ist hart. Er arbeitet zwischen 50 und 60 Stunden pro Woche, montags weiss er noch nicht, ob er freitags zurück ist. Der Monatslohn beträgt 4500 Franken. Der Verkehr sei in den letzten Jahren krasser geworden und die Zeitpläne straffer. «Rumsöseln gibts nicht mehr», sagt Tobias, trotzdem fröhlich und sichtlich stolz. Er habe sich gesagt: Jetzt müsse er all das noch tun, «wenn du jung bist, musst du losziehen, in zehn, fünfzehn Jahren mit Kind und Kegel geht das dann nicht mehr». Auf dem Beifahrersitz seines Lkw lümmelt sein Bruder herum, er hat Ferien und begleitet Tobias nach Italien. Hinter der Heckscheibe klebt ein Aufkleber: Oldschool Trucking. Honor. Respect. Loyality.
Auch während Corona fuhr Tobias fast jeden Tag nach Italien, um Keramikplatten abzuholen. An der Grenze hat sich für ihn nichts verändert: Anhalten am Zoll, Waren deklarieren, weiterfahren auf «Strassen mit Schlaglöchern und Dutzenden Baustellen». Und hier, Coldrerio? «Anständiges Essen, ein sauberes WC. Das ist auf den italienischen Raststätten dann Glückssache.» Aber wenigstens seien da die sanitären Anlagen alle gratis. Hier schluckt das Drehkreuz im Untergeschoss des Restaurants hungrig Einfränkler.
Und wie fällt die Bewertung im Netz aus?
Zur Mittagszeit wird die Raststätte dann doch noch belebt; Hunde streichen an Hundeleinen über das Wiesenstück, Menschen schlendern ins Restaurant, um sich Panini oder Pizzas zu holen, kommen aus dem Shop mit papierweissen Dreieckssandwiches und Glaces. Kinder lehnen sich augenreibend an die Beine ihrer Eltern. Die Schattenplätze auf dem Parkplatz sind jetzt begehrt. Zwei junge Welsche auf dem Weg in die Kletterferien versuchen einen Handspiegel an die Stelle zu mechen, an der der Seitenspiegel sein sollte. Das Tempo der Besucherinnen ist nun ein gedrosseltes; wer jetzt schon hier ist und eine Mittagspause einlegt, liegt gut in der Zeit.
Ein älteres Paar isst zwar nicht, aber die Hunde brauchen eine längere Pause. Sie sind auf dem Weg in die Toskana, «unsere zweite Heimat». Sie frage sich, wie es dem Garten gehe, sagt die Frau, der Gärtner sei am Virus gestorben, und auch sie hätten Bedenken, «aber wir haben Masken dabei und haben die Reise immer wieder nach hinten verschoben». Die drei Hunde finden alle Platz im grossen VW-Bus, mit dem die zwei nie campen. Sie sind, auch das gibt es, Stammgäste auf dieser Raststätte, «seit zehn Jahren kommen wir hierher, jedes Mal halten wir, bevor wir über die Grenze fahren, das ist eine Art Ritual». Und danach «Telepass – zack, durchfahren».
Nur einmal hielten sie nicht in Coldrerio Nord-Sud, weil das Gebäude renoviert wurde. Der helle Schatten eines einstigen Schriftzugs über der Fussgängerunterführung weist darauf hin, dass das noch nicht allzu lange her ist.
2013 hat eine eigens dafür gegründete Tochterfirma des Tessiner Chemiekonzerns Ecsa die Autobahnraststätte übernommen und vollständig saniert. Das Konzept zielt laut Website auf «einfache, schnelle Versorgung ab», Verpflegung für «schnelle Pausen», «unverfälschte Express-Küche mit Qualität», «in wenigen Minuten fertige Pasta», «praktischer Take-away». Alles auf Tempo, alles auf Effizienz. Auf der Website steht: «Das Zusammenspiel aus klaren, wesentlichen Einrichtungslinien und farbenfrohen Graffitis an den Wänden erschafft eine dynamische, unterhaltsame Atmosphäre.» Heisst: ein steriler Raum mit weissen Tischen und weiss-roten Plastikstühlen. Der TCS hat Coldrerio mit 4 von 5 Punkten bewertet: sehr empfehlenswert.
Auf der Sud-Nord-Seite der Raststätte trifft man Menschen, die schon in Italien waren, in halb vollen Hotels oder überraschend ausgebuchten, in der Toskana, in San Vincenzo, sie erzählen von Fiebermessungen an Geschäftseingängen und der Maskenpflicht, von der Unsicherheit, überhaupt mit mehr als zwei Personen im Auto sitzen zu dürfen, auf dem Weg in ein Ferienhaus in La Spezia. Und nun wieder hier, eine Gruppe Mittzwanziger wegen des WLAN, auch das kann ein Argument für eine Pause sein; oder einfach, in den Worten einer Berner Toskanareisenden im Etuikleid, «hurti uf s WC». Die Nachmittagssonne knallt auf den Parkplatz, die Picknicktische sind schattenlos.
Stirbt jemand, sind die Ferien vorbei
Andere machen eine Pause, um den von der Fahrt geschundenen Körper zu lockern. Santino, in kurzen Sporthosen, hat ein Bein auf eine steinerne Bank gestellt, in der einen Hand der Schlüssel zu seinem schwarzen VW, in der anderen eine Gesichtsmaske. Santino hat seine Mutter in Pescara besucht, einer Stadt an der Adria, über 600 Kilometer von Coldrerio entfernt, er fährt allein, und er fährt durch, bis nach Waldshut in Südbaden.
Die Mutter stehe mit 87 Jahren unweigerlich dem Lebensende nahe, erzählt Santino, er selber sei mit 63 frühpensioniert, wegen eines Bandscheibenvorfalls, auch deshalb streckt er sich nun. Und die Grenze? Santino zuckt mit den Schultern, schweigt und sagt: «In Italien gibt es viele Baustellen.» «Und warum machen Sie genau hier Pause?» Die Frage belustigt Santino. Er lässt sie unbeantwortet. Abgesehen vom sauberen WC ist die Raststätte ein Ort, über den sich Menschen keine Gedanken machen. Handwerker schleifen in einem Teil des Gebäudes den Boden ab, eine neue Terrasse ist im Bau.
Zurück auf der Nord-Sud-Seite. Familie Wälchli hat das Essen selber mitgebracht, Reis mit Speck, die zwei Kinder turnen auf dem Parkplatz herum. Auch für sie sei ein Stopp an dieser Raststätte Tradition, sagen sie, so kurz vor der Grenze, nochmals aufs WC, noch etwas essen. Auch die Wälchlis sind auf dem Weg in die Ferien, obwohl Vater Wälchli die Arbeit noch dabei hat: Das Pikett-Telefon für den Bestattungsdienst hat er nicht für mehr als ein Wochenende abgeben können. Stirbt jemand bei einem Unfall, kommt Wälchli. «Wir müssen deshalb am Freitag wieder zurück sein, die meisten Beerdigungen sind am Wochenende.»
Wälchli fährt auch sonst oft aus dem Solothurnischen nach Italien, im Norden liesse sich ausgezeichnet Velo fahren, besonders in der Region rund um Venedig, schön hügelig sei es da. Die jetzigen Ferien hätte die Familie eigentlich in der Heimatstadt der Mutter verbringen wollen, Santo Domingo, doch das hätte bei der Rückkehr eine zweiwöchige Quarantänezeit bedingt. Jetzt also Italien stattdessen und Bereitschaftsdienst. Die Kinder werden unruhig, «Gehen wir jetzt in die Ferien?», quengelt die Tochter: «Ich mag nicht mehr warten.»
Nachmittags setzt für kurze Zeit Regen ein, und die Raststätte ist noch ausgestorbener als vorhin. Die Palmblätter zittern, die Ecsa-Flaggen schlingern unruhig um die Fahnenstangen, wer jetzt noch Pause macht, kommt nur fürs WC, eilt in das Gebäude und wieder zum Auto. Ein Vater betritt mit seiner Tochter das Restaurant, sofort klebt sie sich ans «Gogo Pony». «Für so einen Mist haben wir keine Zeit!», herrscht er sie an, kauft ein Sandwich, verlässt das Gebäude wieder. Das Mädchen bleibt noch eine Weile auf dem münzschluckenden, blinkenden Pony sitzen, der Vater beobachtet sie irgendwann von draussen durch die Fensterscheiben, kommt wieder rein, dieses Mal versöhnlich: «Komm jetzt. Wir sind auf der Reise, und ich habe keine Lust, erst um Mitternacht anzukommen.»
Dabei läge der Zauber vielleicht genau darin: Nicht im «Gogo Pony», nicht darin, mit einem Kind erst mitten in der Nacht irgendwo anzukommen, aber im belanglosen Innehalten, in der Pause, dem Hinauszögern, dem Ausruhen, dem Spazierschlenker mit dem Hund, dem Nachdenken über die Ferien, die kommen oder waren, oder die Arbeit, die wartet, die immer irgendwo wartet.
Nur nicht hier, in diesem Zwischenort, diesem betongegossenen Schwebezustand.
Das Sonnenlicht fällt inzwischen schräg auf Teer und Tanksäulen. Die Palmblätter zittern nicht mehr, und die Flaggen hängen faul an den Fahnenstangen. Ein Lkw schiebt sich langsam auf den Parkplatz. Ein Paar leert zwei Säcke mit Einwegbechern und PET-Flaschen über einer orangen Mülltüte unter den Platanen aus. Hand in Hand schlendert es auf das Restaurant zu.