Geschmacksache – Folge 6

Der Hauptdarsteller für einmal links oben: Cicorino rosso.

Geschmacksache

Bitter bitte!

Salzig und süss dominieren die Küche, dabei hat unsere Zunge nicht ohne Grund 25 Rezeptoren für Bitterstoffe. Wie Sie mit einer preisgekrönten Pflanze als Cannelloni-Füllung Ihr bitteres Wunder erleben. Geschmacksache, Folge 6.

Von Michael Rüegg (Text) und Silvio Knezevic (Bilder), 01.09.2020

Einige Jahre ist es her, da war ich bei einer jüdischen Familie an einen Seder­abend geladen. Damit beginnt man Pessach. Für einen Goi, einen Nicht­juden, ist eine solche Einladung eine besondere Ehre. Der Abend besteht aus einem traditionellen, religiösen Teil, den man hinter sich bringt, damit danach – wie in unserem Fall – die Köchin die Ente à l’Orange servieren kann.

In der Mitte des Tisches werden verschiedene symbol­schwangere Speisen platziert, die man nach einem festgelegten Ritus zu sich nimmt. Dazu wird gelesen und über Vers­melodien gestritten. Zu den Speisen auf der Platte gehört maror, das Bitter­kraut, in unserem Fall Meer­rettich. Er soll an die bitteren Jahre der Versklavung des Volkes Israel unter ägyptischer Herrschaft erinnern.

Leider schmeckte mir dieser Meer­rettich sehr gut, und die Runde muss den Eindruck gehabt haben, ich würde die Versklavung ihrer Vorfahren durch meinen ausgiebigen Rettich­konsum billigen. Auf alle Fälle war vom Bitter­kraut am Ende nichts mehr übrig. Falls Sie mal die Gelegenheit haben, an einem Seder teilzunehmen, halten Sie sich etwas zurück beim maror. Falls niemand Sie zu so etwas einlädt, versuchen Sie, sich jüdische Freunde anzulachen. Ist wirklich sehr schön, so ein Seder.

«Bitter» ist eine Botschaft an den Magen

Man kann nun darüber streiten, ob Meer­rettich tatsächlich der Inbegriff von «bitter» ist. Aber auch wenn es zumindest nicht ganz falsch scheint, verbinden wir wohl zuerst andere Lebens­mittel mit diesem Grund­geschmack. Dabei ist er nicht bei allen beliebt: Früher waren beispiels­weise Spargeln bitterer, aber die Bauern haben gemerkt, dass die Leute mehr davon essen, wenn die Stängel milder sind. Schade, eigentlich. Denn bitter ist ein wichtiger Geschmack. In vielen Gerichten haben wir eine bittere Note, und sei dies bloss der Peterli, den man am Schluss darüberstreut.

Nicht weniger als 25 verschiedene Bitterstoff-Rezeptoren weist die menschliche Zunge auf. Ihr Zweck ist unter anderem, uns vor Vergiftungen zu beschützen. 5 dieser Rezeptoren reagieren zum Beispiel auf Koffein. Erkennen die Rezeptoren Bitter­stoffe, meldet das Hirn dem Magen, er möge doch mehr Säure produzieren. Das Resultat ist ein angeregter Appetit und eine bessere Verdauung.

Eines der berühmtesten Bitter ist der Magen­bitter, meist ein Likör, der mit einer Reihe verschiedener Kräuter angesetzt wurde. Tatsächlich hilft ein Magen­bitter bei der Verdauung, allerdings hebt der darin enthaltene Alkohol diesen Effekt zum Teil wieder auf. Patt­situation, aber wenigstens hat man einen intus.

Die ausgezeichnete Gemeine Wegwarte

Eines der schönsten bitteren Gemüse, die man überall bekommt, ist der Cicorino rosso, auch Radicchio genannt. Übrigens eine Kultur­form der Gemeinen Wegwarte, die dieses Jahr das Rennen um die «Heil­pflanze des Jahres» für sich entschieden hat – nachdem sie 2005 bereits «Gemüse des Jahres» und 2009 «Blume des Jahres» gewesen war. Eine erfolgs­verwöhnte Pflanze, die unter ihrem Künstler­namen Zichorie einst Karriere als Kaffee­ersatz­produkt gemacht hat.

Manche Menschen mögen Cicorino rosso nicht. Vielleicht, weil sie bittere Speisen generell ablehnen. Bitter zu mögen, ist die Folge eines Lern­prozesses: Babys finden bittere Dinge blöd, die Toleranz gegenüber Bitterem entwickelt sich erst mit den Jahren. In westlichen Industrie­nationen scheint bitter wie sauer auf dem Rückzug zu sein, salzig und süss dominieren die Geschmacks­welt immer stärker. Wer also Bitteres nicht mag, ist quasi der modernere Mensch.

Cicorino jedenfalls ist fantastisch als Salat – zum Beispiel mit einem Schuss Condimento bianco im Dressing. Doch auch gebraten, gegrillt oder gedämpft kann er was. Es gibt ihn meist in der runden oder der länglichen Variante, die dann Cicorino Trevisano heisst und noch etwas bitterer als der runde sein soll.

Was viele Menschen nicht wissen: Cicorino macht sich hervor­ragend mit einem Blau­schimmel­käse wie Gorgonzola. Bei einem aufwendigen Mehr­gänger kann die Kombination von Cicorino und Gorgonzola zu einem der simpelsten und doch spektakulärsten Käse­gänge werden. Dazu einfach den Salat in Streifen schneiden, zerkleinerten Gorgonzola mit einem Gutsch Sauternes oder Monbazillac vermischen, zu einem Dressing rühren und mit dem Cicorino vermischen. Etwas Salz und Pfeffer zum Abschmecken und mit getoastetem Brot servieren. Dazu den restlichen Süsswein trinken, weshalb wir da nichts Billiges nehmen.

Eine Offenbarung in Bellinzona

Vor zwanzig Jahren fuhren eine Freundin und ich anlässlich des Zürcher Sechse­läutens so weit weg wie möglich. Wir schafften es bis Bellinzona, wo wir in einem Lokal namens Osteria Malakoff zu Mittag assen. Es war schon nach ein Uhr, und der Patron musste seine Frau fragen, ob sie überhaupt noch Lust habe, uns zu bewirten. Sie hatte, und einer der diversen Pasta­gänge waren Cannelloni mit Radicchio gefüllt. Ich glaube, das war das erste Mal, dass mein damals junges Ich den Salat Cicorino rosso als Gemüse vorgesetzt bekam. Und mein junges Ich war hin und weg.

Exakt nachkochen kann ich das nach so vielen Jahren nicht, doch ich fand eine Variante, die für mich passt. Diese habe ich letztes Jahr sieben hungrigen Mäulern in einem Ferien­haus in der Toscana vorgesetzt, mit ganz guten Kritiken.

Neben dem Cicorino ist der Blau­schimmel­käse mit von der Partie, für eine herzhafte Note sorgt Wildschwein­salami. Sollte Schwarz­wild nicht in genügender Menge vorhanden sein, tut es auch eine andere hochwertige Salami. Vegetarierinnen lassen die Salami weg und überlegen sich, als Ersatz gehackte Rauch­mandeln ins Spiel zu bringen.

Wir haben hier ein Gericht vor uns, in dem starke Geschmäcke gegen­einander in den Ring steigen. Ergo greife ich beim Ricotta zu Büffel statt Kuh. Der Unter­schied ist allerdings eine Nuance.

Cannelloni mit Cicorino und Gorgonzola: Das Rezept

Um 16 handelsübliche Cannelloni zu füllen, sind nötig: 1 grosse Zwiebel, 1 bis 2 Cicorino rosso oder Trevisano, 120 g Wildschwein­salami (oder andere gute Salami), 1 Schluck trockener Wermut, 150 g Gorgonzola, 2 EL Ricotta.

Für die Parmesan-Béchamel brauchts: 60 g Butter, 50 g Weiss­mehl, 6 dl Milch, eine Prise Quatre-épices, Pfeffer, Salz, ordentlich frisch geriebenen Parmesan (so 150 g, nach Geschmack). Und am Ende Parmesan zum Drüberreiben.

  • Zwiebel fein hacken und in etwas Öl in der Pfanne anschwitzen. Salami in möglichst kleine Stücke schneiden und zur Zwiebel geben.

  • Den fein geschnittenen Cicorino dazutun und ein bisschen rühren. Er verliert nach und nach etwas Farbe. Mit einem Schluck Noilly Prat oder einem anderen Wermut ablöschen. Eine Weile unter gelegentlichem Rühren weitergaren, der Cicorino soll dabei etwas Flüssigkeit verlieren, aber nicht völlig zur Pampe werden. Dann in eine Schüssel geben.

  • Den zerkleinerten Gorgonzola zum leicht abgekühlten Cicorino geben, danach den Ricotta, alles gut mischen.

  • Nun kosten, salzen, pfeffern, kosten. Die Füllung sollte so lecker sein, dass man sie gleich so essen möchte. Im Zweifels­fall lieber eine Spur zu salzig, da die Cannelloni den Salzgehalt noch etwas nivellieren werden.

  • Nun mit einem Spritzsack oder einem ander­weitigen Utensil die Cannelloni füllen und in eine rechteckige, gebutterte Gratin­form geben – nur eine Schicht, Cannellono dicht an Cannellono, wie Partisanen im Schützengraben.

  • Für die Sauce nun in einer Pfanne bei mittel­hoher Hitze Butter schmelzen, Mehl dazugeben und gut verrühren. Langsam die Milch eingiessen und mit dem Schwing­besen dafür sorgen, dass keine Klümpchen entstehen, köcheln, bis sie die gewünschte Konsistenz hat. Mit einer Prise Quatre-épices und Pfeffer würzen und vom Feuer nehmen.

  • Parmesan in die Sauce reiben und nachsalzen.

  • Die Sauce über die Cannelloni geben, mit noch mehr Parmesan bestreuen und die Form rund 30 Minuten bei 200 Grad Ober- und Unter­hitze in den Ofen geben.

Die Cannelloni ergeben einen hervor­ragenden primo, bevor man als secondo ein Stück Fleisch mit Gemüse serviert. Dann reicht diese Menge für 6 bis 8 Personen. Als Haupt­gericht für 4. Praktisch ist, dass man die Cannelloni sehr gut vorbereiten und einfach zur richtigen Zeit in den Ofen schieben kann. Wie eine Lasagne. Aber seien wir ehrlich, Lasagne ist das, was man Anfang zwanzig gegessen hat, wenn man in irgendeine WG zum dîner geladen war. Dieser Eindruck leckerer Schäbigkeit bleibt bei diesen Cannelloni garantiert weg.

Vernebelte Trauben als Begleitung

Die Aromen dieses Gerichts sind sehr nord­italienisch, dem Gorgonzola als Zutat begegnet man gerne im Veltlin und im Valposchiavo. In Letzterem würde ich auch den Wein dafür suchen. Die Puschlaver bauen vor allem Nebbiolo an, die Barolo- und die Barbaresco-Traube. Sie machen daraus einen leichten Rotwein sowie einen kräftigen Sforzato, bei dem wie beim Amarone die Trauben angetrocknet werden. Ich würde einen leichten Puschlaver Nebbiolo empfehlen, sofern man so etwas ausserhalb von Poschiavo findet, oder einen aus dem Veltlin. Alternativ macht sich auch ein Barbera d’Asti gut. Wer sich nicht zu schade ist, Ripasso zu trinken, kann das natürlich ebenfalls tun, ich empfinde den allerdings meist als Plörre.

Geschmacksache

Folge 3

Risotto aus dem Früch­te­korb

Folge 4

Au­ber­gi­nen­pa­sta

Folge 5

Nek­ta­ri­nen­sa­lat

Sie lesen: Folge 6

Cannelloni

Folge 7

Macadamia Nut Pie

Folge 8

Hack

Folge 9

Ki­cher­erb­sen zum Apéritif

Folge 10

Mapo-Tofu

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Kartoffeln mit bunten Saucen

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Weih­nach­ten in Zeiten ku­li­na­ri­scher Monogamie

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Mu­schel­pa­sta

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Mohnkuchen

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Boeuf Bour­gu­i­gnon

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Chipotle Suppe

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Orec­chiet­te mit Cima di Rapa und Salsiccia

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Cholera

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Granola

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Baba au Rhum

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Dumplings

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Grünes Curry

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Paneer mit einer Tomaten-Butter-Sauce

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Paella

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Potluck Christmas

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Pâté en croûte

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Donburi mit Pilzen und Zucchetti

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Ge­mü­se­sup­pe «Ver­nis­sa­ge»

Folge 33

Ravioli «saucisson au choux»

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Zucchetti-«Pesto»

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Mi­ni­ma­li­sti­sche Ki­cher­erb­sen­sup­pe