«Auch das Paradies kommt an Grenzen»
Sag, wie hast du’s mit der Einwanderung? Die SVP stellt mal wieder die Gretchenfrage der Schweizer Politik. Und das im Jahr der geschlossenen Grenzen. Gespräch mit der Migrationsforscherin Francesca Falk. Serie «Grenzerfahrungen», Folge 2.
Von Cinzia Venafro, 31.08.2020
Sie hätte diesen Herbst das vorherrschende politische Thema werden sollen: die Begrenzungsinitiative, über die am 27. September abgestimmt wird. So sah die SVP dies zumindest vor. Doch es ist anders gekommen. Das Thema Migration zündet nicht, die Pandemie überdeckte alle anderen Themen.
Francesca Falk, Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern, bezweifelt, dass sich dies vor der Abstimmung noch stark verändern wird. In ihrem Buch «Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt» schreibt sie Landesgrenzen eine Aura zu. Diese Aura hat ihren Grund in der Geschichte der Grenzen – einer Geschichte, die immer auch mit Pandemien zu tun hatte.
Frau Falk, was würden Sie der SVP raten? Wie kann sie die Seuche im Abstimmungskampf nutzen?
Dafür gebe ich keine Tipps. Die jüdische Bevölkerung in Europa oder die chinesische in den USA litten während verschiedener Pestausbrüche unter einer Sündenbock-Politik. In Italien hat in der aktuellen Pandemie allerdings kaum jemand mehr auf die Populisten gehört, als nicht nur die nonni zu Tausenden mit Corona wegstarben. Die Menschen wollten eine Regierung, die wirksame Massnahmen erlässt, und keine Sprücheklopfer. Das kann sich aber schnell wieder ändern.
Die SVP versucht es mit dem Argument, in der Krise sollen Ausländer den Schweizern keine Jobs wegnehmen.
Das ist ein altes Argument. Die erste Schwarzenbach-Initiative ist nun genau 50 Jahre her. Allerdings ging es damals nicht nur um eine Begrenzung der Migration, sondern auch um eine Entrechtlichung der Arbeitskräfte.
Inwiefern?
Saisonniers waren laut Initiative von den Kontingentierungsmassnahmen ausgenommen. Die Annahme der Initiative hätte die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Hier zeigt sich eine Parallele zur Gegenwart: Gewerkschaften warnen davor, dass bei einer Annahme der SVP-Initiative wichtige Schutzmassnahmen für Arbeitnehmende ausser Kraft gesetzt würden.
Sie erforschen die Migration und sagen, man dürfe diese «nicht glorifizieren». Wie meinen Sie das?
(Überlegt lange) Migration war in der Schweiz sicher nicht für alle eine Win-win-Situation: Man bedenke nur schon die teilweise sehr schlimmen Arbeitsbedingungen der sogenannten Gastarbeiter in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Oder wenn wir über medizinische Massnahmen sprechen: Die Kontrollen der sogenannten Gastarbeiter am Grenzübergang Chiasso sind keine schöne Erinnerung.
Die Fotografien, wie Italiener mit nacktem Oberkörper zum Röntgen anstehen, sind fast schon Ikonen.
Damals verband man die Einwanderung von Italienern auch mit der Gefahr einer Tuberkulose-Einschleppung. Genau diese Bilder sind in der jüngeren Migrationsgeschichte sehr symbolisch. Diese Menschen wurden erniedrigt durch diesen Akt, der weit mehr als eine medizinische Massnahme war. Es ging auch um Disziplinierung, der Schweizer Staat zeigte an seiner Aussengrenze die Machtverhältnisse an.
Und bis vor wenigen Wochen waren diese Grenzen gesperrt.
Den wenigsten ist bewusst, dass historisch gesehen Seuchen prägend für das Einführen von Grenzkontrollen waren. Der Reisepass als Dokument, sich auszuweisen, hat zwar viele Mütter. Ein Strang führt uns ab dem 15. Jahrhundert zu den bollettini di sanità. Diese Pestbriefe waren Grundlage für die Entscheidung, ob ein Reisender in die Stadt hineingelassen wurde.
Reisebeschränkungen bei Seuchen sind also ganz normal.
Grenzziehungen und damit einhergehende Exklusion und Diskriminierung von migrantischen Bevölkerungsgruppen wurden historisch immer wieder mit gesundheitspolitischen Argumenten legitimiert: Im Venedig des 15. Jahrhunderts wurde Migration aus dem Balkan mit der Begründung der Pestprävention verboten. Oder als in San Francisco um 1900 die Pest ausbrach, wurde Chinatown in Quarantäne gesetzt. Ausser jene Häuser, die von Weissen bewohnt wurden. Eine Zeitung verlangte damals sogar, Chinatown auszubrennen. Das ist interessant zu wissen, wenn wir bedenken, dass US-Präsident Trump Corona gerne als «Chinese virus» bezeichnete. Da sehen wir den Versuch, mit Sündenbock-Politik Stimmung zu machen. Für solche Reisesperren brauchen wir aber nicht mal die Pest oder Covid-19: Bis 2010 war die Einreise in die USA für HIV-Positive nur zu besonderen Zwecken und mit einem speziellen Vermerk möglich.
«Den wenigsten ist bewusst, dass historisch gesehen Seuchen prägend für das Einführen von Grenzkontrollen waren.»Francesca Falk, Migrationsforscherin
Wie nahmen Sie die Grenzschliessung in der Corona-Pandemie wahr?
Der Staat demonstrierte: Ich mache etwas! Er markierte mit den Absperrungen seine Souveränität. Für einige war das sehr einschneidend. Allerdings waren die Bewegungseinschränkungen noch viel kleinräumiger, die meisten bewegten sich ja nur noch sehr lokal. Das war für viele bedeutender als die nationale Grenzschliessung.
Grenzen sind ja keine Erfindung des Staates. Es gibt sie schon in der Bibel.
Die Bibel ist auch eine Grenzgeschichte. Dort werden ständig Grenzen verletzt und Grenzen gesetzt. Auch das Paradies kommt an Grenzen: Es ist im Innern ungeteilt. Nach aussen aber begrenzt.
Warum ist es eigentlich meist verboten, Grenzübergänge zu fotografieren?
Aus militärischen Gründen: damit man keinen Weg findet, diese Grenze irgendwie zu umgehen. Schon Goethe berichtet in seiner «Italienischen Reise», dass er 1786 beim Zeichnen eines Turms vor Venedig fast verhaftet wurde. Man hielt ihn für einen österreichischen Spion.
Sie nennen es in Ihrem Buch eine «Auratisierung der Grenze»: Die Grenze wird mit einer Aura versehen.
«Du sollst dir kein Bildnis machen», heisst es ja auch vom Göttlichen. Das schwingt beim Bildverbot der Grenze irgendwie mit. Sich ein Bild zu machen, heisst, sich etwas verfügbar zu machen. Wenn man kein Bild machen darf, bekommt es eine gewisse Aura. Das Verbot gilt auch für andere Orte. Ich war einmal dabei, als in Basel ein Kollektiv ein Ausschaffungsgefängnis aquarellierte. Das gab Ärger, weil man auch davon keine Bilder anfertigen darf. Es kam tatsächlich ein Wächter und kontrollierte unsere Zeichnungen.
Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
Die Geschichte der Grenzen
Folge 3
Die Tessiner Raststätte Coldrerio
Folge 4
Fleischliche Versuchung
Folge 5
Die deutsche Exklave Büsingen
Folge 6
Streit am Bodensee
Folge 7
Gemeinde Balzers, Liechtenstein
Apropos Bilder: Wie beeinflussen diese unsere Sicht? Bei geretteten Geflüchteten im Mittelmeer sei beispielsweise die «Verbindung von Immigration und Infektion weit verbreitet», schreiben Sie.
Als ich meine Dissertation schrieb, waren Fotografien geretteter Geflüchteter aus dem Mittelmeer sehr präsent. Wenn Carabinieri oder die Frontex bei solchen Rettungen Atemschutzmasken tragen, erzeugen Fotografien dieser Szenen Angst. Geflüchtete erscheinen so als Gefahr und Herd von Krankheiten. Die Mundschutzmaske symbolisierte zumindest vor Corona, dass hier etwas kommt, was uns bedroht.
Heute tragen alle Schutzmasken – die weniger furchterregend sind als die Schnabelmasken zu Pestzeiten. Sie haben sich eingehend mit den Pestärzten befasst. Wieso?
Ausschlaggebend dafür war Thomas Hobbes’ Buch «Leviathan», ein Standardwerk der Staatstheorie. Auf seinem Frontispiz von 1651 sind zwei Pestärzte mit Schnabelmasken zu erkennen. Sie verweisen auf den Zusammenhang von Souveränität und Sanität; gerade der Ausnahmezustand der Seuche ist gut geeignet, die Macht des Souveräns aufzuzeigen. In der Forschung wurden diese Pestärzte allerdings lange übersehen. Das hat mich erstaunt, denn das Bild ist weltberühmt. Es wurde etwa als ein Symbol für vermeintlich unbegrenzte Staatsgewalt gedeutet.
Warum gerade Schnabelmasken?
Der spätere Leibarzt von Louis XIV soll um 1619 als einer der Ersten ein solches Pestkostüm angefertigt haben. Der Anzug des Seuchenarztes bestand oft aus einem mit Wachs überzogenen Mantel, Schutzhandschuhen, einer Kopfbedeckung und einer Maske mit Augenschutz und schnabelartiger Nase. Diese enthielt manchmal auch Räucherstoffe, die vor der Pest schützten. Sie konnten tatsächlich auch Flöhe fernhalten. Das Kostüm hatte allerdings eine weit breitere Bedeutung als medizinischer Schutz: Es machte die Funktion des Pestdoktors sichtbar – seine Person aber unkenntlich. Zudem sollte dieses Kostüm durch sein Furcht einflössendes Aussehen die Pest vertreiben.
Was bedeutet es, wenn der Staat nicht vor einer Pandemie schützen kann?
Der sogenannte Gesellschaftsvertrag kommt ins Wanken: Denn laut Thomas Hobbes ist die Idee, dass der Souverän die Leben der Menschen schützt und die Menschen im Gegenzug den Gesetzen gehorchen, selbst wenn diese von einem totalitären Machthaber verabschiedet werden. Hobbes ist gegenüber der Demokratie skeptisch, er bevorzugt die Monarchie. Doch sein Leviathan ist nicht ohne innere Spannung. Die Verpflichtung der Staatsangehörigen gegenüber dem Souverän dauert nach Hobbes nur so lange, wie dieser sie aufgrund seiner Macht schützen kann. Auf diese Gefahr einer Rückkehr des sogenannten Naturzustandes verweisen die auf dem «Leviathan»-Titel abgebildeten Soldaten, aber auch die Seuchenärzte.
Die Schnabelmasken sind auch ein Symbol?
In meiner Dissertation zeige ich auf, wie die Schnabelmasken als Wahrnehmungsfilter die Sicht auf den dargestellten Staatskörper verändern. Sie lenken den Blick auf die Gewaltsamkeit von Grenzziehungen. 1490 verboten die Gesundheitsbeamten den Fährleuten beispielsweise den Transport von Bettlern nach Venedig. Solche städtischen Politiken, die sich im Seuchenzustand auszubilden begannen, wurden später ein Vorbild für die Ausbildung moderner Staatlichkeit.
Zurück zur Migration. Sie glauben, dass diese viel zu negativ dargestellt werde. Wieso?
Migration sieht man in der Öffentlichkeit oft nur, wenn sie Probleme macht. Wenn Roger Federer gewinnt, jubeln alle, und niemand sieht in ihm einen Mann mit «Migrationshintergrund». Käme er nicht als Tennisstar in die Medien, sondern weil er als Raser Menschen umgefahren hat, würde dieser «Migrationshintergrund» schnell zu seinem allein charakterisierenden Merkmal. Wir sind demnach sehr selektiv darin, wann wir die Präsenz von Migration wahrnehmen und wann nicht.
Anders gesagt: Federer würde wohl nie zum Migrantenraser, auch wenn er zu schnell fahren würde.
Genau. Migration ist aber prägend für die heutige Schweiz, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie in so vielen Bereichen wahrgenommen werden kann, wenn der Fokus darauf gerichtet wird. Migration ist folglich keine getrennte Sphäre. Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt etwa, dass Migration viel dazu beigetragen hat, die Verhältnisse in der Arbeitswelt, Bildung und Politik zugunsten von Frauen zu verändern.
Konservative Frauenrechtlerinnen behaupten das Gegenteil. Einwanderung bedrohe durch patriarchale Strukturen die Gleichberechtigung.
Die Schweiz ist in geschlechterpolitischen Fragen ein sehr konservatives Land, hat sehr spät das Frauenstimmrecht eingeführt und hatte noch sehr lange ein patriarchales Eherecht. Und so kamen wichtige Impulse für die Gleichberechtigung oft von aussen. Die Schweizer Unis wurden erst für Frauen geöffnet, weil Studentinnen Druck machten. Die erste promovierte Ärztin hierzulande war eine Russin. Und viele der ersten Professorinnen waren Migrantinnen. Doch das ist nicht Teil des kollektiven Geschichtsbewusstseins. Genauso wenig wie der Umstand, dass Kinderkrippen beispielsweise auch wegen der Italienerinnen ausgebaut wurden.
Wie das?
Die ersten Krippen entstanden, weil man die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert disziplinieren wollte – und die Kinder von der Strasse weghaben wollte. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich auch in der Mittelschicht das Hausfrauenmodell, weil der Mann doch nun genug Geld nach Hause brachte. Bei migrantischen Familien mussten jedoch beide arbeiten, und so brauchte es Krippenplätze. Als dann in der Ölkrise in den 1970er-Jahren viele dieser sogenannten Gastarbeiter wieder wegmussten, konnte die Schweizer Mittelschicht auf die Krippenstruktur zurückgreifen. Noch kurz zuvor musste ein Paar beweisen, dass man das Kind wirklich nicht selbst betreuen kann. Einfach so gabs sicher keinen Krippenplatz für die «gute Schweizer Familie».