Die Sklaverei erzählen

Rassismus lässt sich nicht wegdenken, aber überdenken: Das antirassistische Vermächtnis der afro­amerikanischen Literatur­nobelpreis­trägerin Toni Morrison.

Ein Essay von Elisabeth Bronfen, 29.08.2020

«Woman of the Year»: Toni Morison 1993 auf dem Cover des «Time»-Magazins. Tim Okamura/Collection of Spike Lee

Kurz nachdem ihr Roman «Menschenkind» veröffentlicht wurde, bin ich Toni Morrison bei einer Lesung begegnet. Das war in den späten Achtziger­jahren. Mit verschmitztem Lächeln erzählte sie damals, dass man ihr vor kurzem an einer grossen amerikanischen Universität stolz berichtet habe, das Buch würde in dreiundzwanzig verschiedenen Kursen gleichzeitig behandelt – nicht nur in der Amerikanistik, sondern auch in der Rechts­wissenschaft, der Politik­wissenschaft, sogar der Psychiatrie. Als unpassende Aneignung ihres Versuchs, das Leben in der Sklaverei literarisch aufzuarbeiten, empfand sie das damals nicht. Vielmehr hatte sie sichtlich Freude daran, dass ihre intime Version von Geschichts­schreibung bei so unterschiedlichen Leserinnen und Lesern Anklang finden konnte.

Im August 2019 starb Toni Morrison, im Alter von 88 Jahren. Diesen Juli ist im Rowohlt-Verlag nun die Sammlung «Selbstachtung» (original «The
Source of Self-Regard
») erschienen. Ein Essay aus dem Band bringt Morrisons Grund­anliegen auf den Punkt: mit Literatur eine traumatische Geschichte verständlich zu machen. Die Kunst­form des Erzählens ist gemäss der Autorin dafür besonders geeignet; weil sie mithilfe von Verschiebungen, Verdichtungen und Auslassungen einen Raum für kritisches Denken zu schaffen vermag. Ästhetische Formalisierung erzeugt die Distanz, die nötig ist für Reflexion. Sie ermöglicht aber auch eine teilnehmende Sympathie mit Erfahrungen, zu denen die Leserinnen aus ihrer eigenen Geschichte keinen Bezug haben.

Dabei geht es Toni Morrison um zweierlei. Sie will sich zum einen aus dem Griff der Geschichte lösen und zum anderen trotzdem in der Hand der Geschichte sein. Die Fakten in «Menschenkind» sind belegt, durch den Prozess gegen die historische Margaret Garner, die 1856 auf der Flucht vor Sklaven­fängern ihrer zwei­jährigen Tochter die Kehle durch­geschnitten hatte und deren Leben als lose Vorlage für Sethe, die Haupt­figur des Romans, dient. Sie sind der Anstoss gewesen für das Roman­projekt. Erst ihre eigene Vorstellungs­kraft erlaubte es aber Morrison, die Lücken zu füllen, welche die tradierten Sklaven­erzählungen ausgespart haben, und den Mantel des Schweigens zu lüften, der so oft über solche Vorkommnisse gebreitet wurde.

Nur die schriftstellerische Imagination verschaffte Morrison die Möglichkeit, sich von den Zumutungen und Tabus zu lösen, die über Hunderte von Jahren durch den Begriff der «Rasse» gesetzt waren. Sie will die Geschichte der Sklaverei nicht auf eine Weise erzählen, die sie die Gefangene der Geisteshaltung bleiben lässt, die aus dieser Vergangenheit erwachsen ist.

Das heisst für Toni Morrison: Es reicht nicht, den Blick auf vergangenes Unrecht zu richten. In einer Erzählung über Sklaverei, die sich vom Bannfluch der Geschichte zu lösen vermag, müssen auch die Konsequenzen verhandelt werden, welche die «Rasse» in der Lebensrealität der Menschen, für die sie als schwarze Autorin schreiben will, weiterhin hat. Und das gilt auch und gerade für diejenigen nicht schwarzen Menschen, die nicht die direkten Erben der Erfahrung der Sklaverei sind.

Seit dieser Begegnung Ende der Achtziger­jahre haben mich Texte von Toni Morrison bei meinem eigenen Schreiben über ästhetische Verarbeitungen patriarchaler Gewalt immer wieder begleitet. Von ihr habe ich gelernt, die doppelte Bedeutung hochzuhalten, die das englische Wort possession hat: zum einen der Besitz und der Wunsch, dass das eigene kulturelle Erbe als wert­volle Habe anerkannt wird. Zum anderen, als dessen Kehrseite, die Besessenheit und die Heim­suchung durch die Dämonen, die ein Sich-Einlassen auf die Vergangenheit notgedrungener­massen begleiten. Damit die Historie, die ständig droht, von uns Besitz zu ergreifen, nicht zur Toten­gräberin der Gegenwart wird, gilt es für Morrison, eine Balance herzustellen. Zwischen einem Erinnern, das die Geschichte treu im Herzen trägt, und – wie sie es nennt – einem Vergessen, das bereit ist, diese hinter sich zu lassen und zu überwinden.

Das Ende von «Menschen­kind» habe ich deshalb immer als einen zwie­spältigen Akt des Exorzismus gelesen. Denver, die zweite Tochter der tragischen Haupt­figur Sethe, wendet sich an die schwarze Gemeinde von Cincinnati und bittet um Hilfe. Gemeinsam treiben sie den bösen Geist aus dem Haus, das sie mit ihrer Mutter bewohnt. Als Wieder­gängerin hat die ermordete Tochter von Sethe eine unheimliche Rück­kehr vollzogen, und ihre phantasmatische Gestalt muss deshalb symbolisch ein zweites Mal getötet werden.

Um als selbstbestimmte junge Frau weiter­leben zu können, muss aber auch Denver den Ort der Besessenheit verlassen. Sie hat nur dann eine Zukunft, wenn sie dem Spuk der Vergangenheit entschlossen den Rücken kehrt. Die Erzähl­stimme aber hält noch auf der letzten Seite des Romans eine fragile Erinnerung an die Tote aufrecht. Die Geschichte der beiden Frauen, die in dem erneuten Bannen der ersten und in das Fort­gehen der zweiten Tochter mündet, stiftet einen Pakt zwischen Morrison und ihren Leserinnen. Zeugnis abzulegen, birgt zwar die Gefahr, vom Geist der Verstorbenen aufgesogen zu werden. Es erlaubt der Schrift­stellerin aber auch, mithilfe des Erzählens einen produktiven Zufluchts­ort zu entdecken. Als rein literarische Gestalt kann die Tote vergessen und zugleich als eine Vergessene erinnert werden, die in der Zukunft weiter­wirkt. Zwar verkündet Morrison mehrmals: «Dies ist keine Geschichte zum Weiter­erzählen». Zu ebensolchem Weiter­erzählen aber hat der Roman «Menschen­kind» uns angesteckt.

Ein verwunderliches Gefühl

Das Bannen der zerstörerischen Macht von Erinnerungs­arbeit versteht Morrison als die produktive Kraft der Literatur. Für sie ist jede Beschwörung der Vergangenheit zugleich Voraus­setzung für ein Entwerfen von Zukunft. In dem in «Selbstachtung» enthaltenen Essay «Der Autor vor der Seite» schreibt sie, dass ihr Werk «benennen (muss), was von der Vergangenheit nützlich ist und was ausgemustert gehört; es muss ermöglichen, sich auf die Gegenwart vorzubereiten und sie auszuleben; und zwar nicht, indem es Problemen und Widersprüchen ausweicht, sondern indem es sie untersucht; gesellschaftliche Probleme zu lösen, sollte es gar nicht erst versuchen, aber es sollte unbedingt darauf bedacht sein, sie zu verdeutlichen». Nur in einer kritischen Analyse davon, wie die Vergangenheit die Gegenwart weiterhin beherrscht, eröffnet sich die Möglichkeit, diese zu verändern.

Durch die Erkundung der Vergangenheit eine bessere Zukunft zu entwerfen, stellt eine schwarze Autorin jedoch vor ein Dilemma. Wie Toni Morrison hervorhebt, ist sie in dem Land, in dem sie geboren wurde, auch eine Fremde, und das, obgleich es in Lorain, Ohio, wo sie aufgewachsen ist, keine Rassen­trennung gab. Das verwunderliche und zugleich unvermeidliche Gefühl, eine Aussen­seiterin zu sein in der Kultur, die vorherrscht in dem Land, in dem sie lebt, bringt ein doppeltes Bewusstsein mit sich. Klarheit darüber zu gewinnen, worin ihre Aufgabe als Autorin besteht, lässt sich von der Zugehörigkeit zu ihrer Ethnie wie ihrem Geschlecht nicht trennen. Die Kultur, der sie aufgrund ihrer historischen Herkunft nie ganz angehören kann, muss sie sich allerdings trotzdem zu eigen machen. Denn als Autorin reagiert sie auf diese Kultur, wirkt auf sie ein. Nicht minder ist es aber ihr deklariertes Anliegen, sich dafür einzusetzen, dass die weitgehend ausgesparte oder ausgeblendete afro­amerikanische Kultur nicht verloren geht; dass ihr spezifisches Vermächtnis erhalten bleibt und fruchtbar gemacht wird.

Wie mache ich mir meine Kultur zu eigen, der ich wegen meiner historischen Herkunft nie ganz angehöre? Toni Morrison im Jahr 1985.Bettmann/Getty Images

Dazu greift Toni Morrison auf Codes zurück, die in der schwarzen Kultur eingebettet sind. Ihr ganz eigener Umgang mit Sprache ist ein Versuch, die Komplexität und die reich­haltigen Facetten der afro­amerikanischen Kultur zu würdigen. Zwar wollte Toni Morrison als schwarze Autorin dezidiert ausserhalb des weissen Blick­felds schreiben, nicht aber in Opposition dazu. In dem Essay «Der Autor vor der Seite» hält sie auch fest: Sie hat ihre Literatur als unwiderruflich und unstreitig schwarz verstanden, «nicht weil es ihre Figuren sind oder weil ich es bin, sondern weil sie sich die anerkannten und verifizierbaren Prinzipien schwarzer Kunst zur schöpferischen Aufgabe macht und sich durch sie beglaubigt sehen möchte».

Brisant an Morrisons Werk ist jedoch die Aporie, die es ins Blickfeld rückt. Wenn das Gefühl von ethnischer Zugehörigkeit einhergeht mit dem Unbehagen empfundener kultureller Fremdheit, stellt sich die Frage, wem sie als Künstlerin die grössere Loyalität schuldet – der eigenen Ethnie, den Geschlechts­genossinnen oder der literarischen Sprache, derer Morrison sich bedienen muss. Das Amerikanische ist ihre Sprache, trotz der Spuren, welche die traumatische Geschichte der Sklaverei in dieser hinterlassen hat.

An ebendiesem Zwiespalt macht Morrison jedoch ihren poetischen Willen zur Umgestaltung fest. Sie unterscheidet zwischen dem Bild des Hauses und dem der Heimat, des Zuhauses: «Wenn ich in einem Haus leben muss, in dem ‹Rasse› eine Rolle spielt, dann möchte ich es wenigstens so umbauen, dass es kein fensterloses Gefängnis ist, in das ich eingesperrt werde.» Rassismus lässt sich nicht wegdenken, dafür aber überdenken. Ihre Romane wie ihre Essays dienen dazu, dieses vom Rassismus bewohnte Haus neu einzurichten und umzufunktionieren, aus ihm ein offenes Haus werden zu lassen: eine Wohn­stätte, die ihr den Weg zum eigenen Zuhause nicht versperrt.

Eine Einladung zum Gespräch

Es ist das Dilemma, mit dem sich viele, die eine Erfahrung des Exils zu ihrem kulturellen Vermächtnis zählen, konfrontiert sehen. In Morrisons literarischen Schilderungen davon, wie die Verpflanzung ganzer Völker den Begriff von «Heimat» verkompliziert hat, finden viele Leserinnen die eigene Erfahrung wider­gespiegelt: Das Jonglieren mit verschiedenen Zugehörigkeiten mag auch unter anderen Vorzeichen stattfinden. Die Spur eines Fremdheits­gefühls, das man bei aller Vertrautheit nicht loswird, ergibt einen gemeinsamen Nenner.

Das In-Bezug-Setzen der intimen Erfahrung der Sklaverei mit der jüdischen Emigration war für mein Denken erhellend. In Toni Morrisons Fiktionen fand ich Denk­bilder, die auch zu dem doppelten Bewusstsein passten, dem die vor dem Faschismus aus Europa geflohenen Menschen ausgesetzt waren: der neuen Heimat immer ein Stück fremd zu bleiben und zugleich erkennen zu müssen, dass die alte Heimat fremd geworden ist. Dabei war mir stets bewusst: Indem ich unterschiedliche Geschichten des Rassismus aufeinander übertrage, lasse ich mich auf eine Wette ein. Nicht als konkrete historische Erfahrung, sondern als literarische Verarbeitung kann die Gewalt­tätigkeit, der das Fremdsein in den verschiedensten Konstellationen ausgesetzt ist, zu einem geteilten Vermächtnis werden.

Wie Morrison in ihren Essays betont, stellt die Imagination eine Brücke dar. Zwar besteht sie darauf, dass ihr Werk auf ihrem historischen Leben, ihrem besonderen, einzig­artigen Schicksal basiert. Es geht zunächst um ihre individuelle Person, was auch bedeutet: um Morrison als Repräsentantin der Ethnie, der sie angehört. Sie schreibt ihre Texte jedoch, um die Leser an der Geschichte der afro­amerikanischen Sklaverei teilhaben zu lassen – obschon, beziehungs­weise gerade weil es nicht immer die eigene Historie der Leserinnen ist. Die Erfindungs­kraft erlaubt nicht nur der Autorin, davon abzusehen, wo und wann etwas in Wirklichkeit passiert ist. Nichts von dem, was sie schreibt, muss überprüfbar sein. Es setzt auch in den Lesern die Möglichkeit frei, abzusehen von ihrer individuellen Situation und sich auf eine literarische Archäologie einzulassen, die mithilfe blosser Geschichts­spuren eine vergangene Welt rekonstruiert.

Party für die erste schwarze Nobelpreisträgerin: Toni Morrison (vorne) im Jahr 1993 direkt rechts neben Moderatorin Oprah Winfrey, die in der Verfilmung von «Menschenkind» die Hauptrolle der Sethe spielte. Will McIntyre/The Life Images Collection/Getty Images

Das Gepäck, mit dem wir die Reise an vergangene Schau­plätze antreten, auf die Toni Morrison uns einlädt, mag unterschiedlich sein. Die Zeugenschaft, zu der sie uns aufruft, ist jedoch als Gespräch konzipiert. Mit ihr zusammen erkennen wir die Menschlichkeit im andern; überbrücken sowohl die historische Distanz wie auch die Grenzen der Zugehörigkeit und des Geschlechts. Wir erkennen die andere und den anderen in ihrer Anders­artigkeit als Menschen an, mit denen wir die Welt, in all ihren Ungereimtheiten, in all ihren Unverständlichkeiten, teilen. Literatur ist nur deshalb befähigt, moralische Mass­stäbe zu transportieren, weil sie Fantasie­kräfte freisetzt. Ihre Vielstimmigkeit erlaubt es uns nicht nur, uns selbst als vielseitige Persönlichkeiten zu erfahren. Sie ist auch eine moralische Aufforderung, Vielstimmigkeit überhaupt wahrzunehmen und anzuerkennen.

Morrisons Werk kreist dennoch stets um die Frage, wie die afro­amerikanische Erfahrung dargestellt werden kann. Daran hält sie hartnäckig fest: Bevor man versucht, Probleme zu lösen, muss man sich in die Betroffenen hinein­versetzen; muss das Schweigen und das Verschwiegene sichtbar machen. Die Schrift­stellerin schafft eine wechsel­seitige Beziehung zwischen uns und ihren Romanen, indem sie uns eintauchen lässt in scheinbar ferne Lebenswelten, den Eindruck vermittelt, wir würden gar nicht lesen, sondern wären mittendrin, könnten mitmischen in dieser fiktionalen Welt.

Gleichzeitig tritt sie aber auch auf als Anwältin für die Entrechteten der Welt, ergreift Partei für die Opfer, deren Schicksal sie erzählt. Dadurch bricht sie ein in die Intimität zwischen dem Text und den Leserinnen. Die ständig präsente Frage nach der Schuld und der historischen Verantwortung hält die Adressaten von Morrisons Texten auch stets in einer kritischen Distanz. Dadurch lenkt sie unsere Aufmerksamkeit jedoch auch auf die Konsequenzen, die wir aus der Lektüre ziehen werden, auf die Anstösse, die sie uns gibt, auf die Denkbewegung, die wir beim Lesen vollführen und der wir uns nicht verweigern dürfen.

Dieser Prozess braucht Gesprächs­partnerinnen, um sein volles Potenzial zu entfalten. Morrison setzt auf das vitale Verhältnis zwischen Literatur und öffentlichem Leben: «Ich glaube, dass der Roman Möglichkeiten eröffnet, um Öffentlichkeit zu erleben: sofort, mit emotionaler Beteiligung, in einem gemeinschaftlichen Raum, zusammen mit anderen Menschen und in einer Sprache, die auf persönlicher Anteilnahme besteht.»

Eine geheime Achse

Wie bereits am Ende des vergangenen Jahr­hunderts, als zusammen mit den Genderstudies auch die African-American Studies in den Universitäten Einzug hielten, findet heute einmal mehr eine Debatte darüber statt, was zum kulturellen Kanon zählen soll. Auch in dieser Frage nimmt Toni Morrison eine eigenwillige Position ein. Polemisch insistiert sie: «Ich jedenfalls habe nicht vor, ohne Aischylos oder William Shakespeare, ohne James, Twain, Hawthorne oder Melville und so weiterzuleben.»

Literarische Texte sollten demzufolge weder auf ein Podest gestellt werden noch in der Rumpel­kammer verworfener Kultur­artefakte verschwinden. Vielmehr zeigt uns Morrison, wie fruchtbar es sein kann, die amerikanische Literatur als einen Ort zu begreifen, an dem sich die Ängste der Nation gemeinsam mit deren Hoffnungen und Erwartungen eingeschrieben haben. Eine schwarze Präsenz war von Anfang an Teil der puritanischen Prediger­literatur, des Schauer­romans, wie auch der American Renaissance. In der Literatur liess sich das Unbehagen am amerikanischen Gründungs­mythos über eine imaginierte Figur des Afrikanischen verhandeln. An dieser Maske verdichtet, konnten in der Welt der Fiktion düstere Vorahnungen und bedrohliche Wünsche ausagiert werden. Herman Melville nannte es die «Macht der Schwärze».

Was diese chiffrierte Imagination der Dunkelheit verbirgt, ist natürlich nicht nur die Wahrheit über das Leben der Schwarzen. Indem das Bedrohliche und das Verbotene auf die schwarze Bevölkerung projiziert wird, kann der Blick auch abgelenkt werden von Ursachen gesellschaftlicher Konflikte, die über den Rassismus hinausgehen: kapitalistische Ausbeutung, Gender­ungleichheit. Wenn wir heute bewusst nach dieser verschlüsselten Präsenz des Dunklen suchen, wird die amerikanische Literatur auf eine neue Art faszinierend. Gegen den Strich gelesen, erkennt man die schrift­stellerischen Strategien, welche die unheimliche Gegenwart des Anderen bestätigen oder leugnen. Morrisons Credo entsprechend versucht solch eine Re-Lektüre nicht, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Vielmehr macht sie uns auf Strategie der Auslagerung, der Chiffrierung und der Verschiebung aufmerksam, welche weiterhin nachwirken.

Die Brisanz, die eine Erinnerung an diese literarische Tradition für das öffentliche Leben hat, zeigt sich zum Beispiel in Morrisons Essay «The Official Story: Dead Man Golfing», der in den Band «Selbstachtung» leider nicht aufgenommen worden ist. Die Autorin nimmt hier die umstrittene Novelle «Benito Cereno» von Herman Melville zur Hand und stellt eine erhellende Verbindungs­linie her zum Prozess gegen O. J. Simpson. In dem fiktionalen Senegalesen Babo, der im Jahr 1799 mit grausamer Ziel­strebigkeit Kontrolle über ein spanisches Sklaven­schiff ergreift, entdeckt sie einen Vorläufer des ehemaligen American-Football-Profis Simpson, der 1994 beschuldigt wurde, seine Ehefrau und deren Bekannten ermordet zu haben. Er wurde in einem legendären Prozess freigesprochen.

Die Novelle wird aus der Perspektive eines wohlwollenden amerikanischen Kapitäns erzählt. Er ist an der Küste Chiles auf die verwahrloste «San Dominick» gestossen und an Bord gegangen, um der Besatzung seine Hilfe anzubieten. Der Punkt, um den es Toni Morrison geht: Er sieht nur das, was zu sehen er sozialisiert worden ist – gutmütige und fügsame, wenn auch undisziplinierte Schwarze. Und einen gebrechlichen Kapitän, der von seinem senegalesischen Bediensteten aufopferungs­voll überallhin begleitet wird.

Die anfängliche Besorgnis des amerikanischen Kapitäns wird schnell überdeckt von seinem absoluten Vertrauen in die eigene Einschätzung der Lage. Erst kurz bevor er das Schiff wieder verlässt, weil der verzweifelte Spanier sich ihm endlich offenbart, begreift er, dass ein Aufstand stattgefunden hat und dass die Schwarzen an Bord ihn listig betrogen haben. Die rhetorische Tücke der Geschichte liegt im langen Hinaus­zögern dieser Erkenntnis. Laut Morrison bewirkt Melville dadurch zweierlei: Er erzählt einerseits die Geschichte eines unschuldigen weissen Kapitäns und entlarvt andererseits die rassistische Grundlage seiner Unschuld.

In der Ambivalenz dieser Vorurteils­struktur erblickt Morrison auch die Parallele zwischen Melvilles Novelle und dem O.-J.-Simpson-Prozess: Beide zehren vom Schock der Täuschung. Auch aus dem umgänglichen Sportler wurde in der öffentlichen Wahrnehmung schlagartig ein hinter­listiger Mörder, berechnend und blindwütig brutal zugleich. Nicht die Beurteilung der Tat an sich steht für Toni Morrison zur Debatte. Vielmehr lenkt sie unsere Aufmerksamkeit darauf, dass die Medien, genau wie Melvilles Erzähler, diese Kippbewegung dadurch ermöglichten, dass sie sich des eigenen rassistischen Blicks nicht bewusst waren – oder nicht bewusst sein wollten.

Die Schärfe von Morrisons Erläuterung liegt in ihrer Differenziertheit. Die Verleugnung von Rassismus ist eine besonders gefährliche Art der Ignoranz. Weil der rassistische Blick­winkel des Erzählers versteckt bleibt, ist der Leser gezwungen, den Rassismus als das vorrangige Thema erst zu entdecken: als die geheime Achse, um welche die gesamte Handlung sich dreht. Es braucht allerdings einen Autor wie Melville, der gewieft genug ist, um diese perspektivische Verschiebung in die Textur seiner Erzählung hineinzuweben. Es braucht eine scharf­sinnige Literatur­kennerin wie Morrison, um darin eine rhetorische Strategie zu erkennen, die an Gültigkeit nicht verloren hat, wenn es um das kritische Aufdecken eines systemischen Rassismus geht. Und es braucht den Dialog mit uns – mit allen Leserinnen und Lesern –, um mit solchen Lektüre­erfahrungen ein offenes Zuhause zu stiften.

Zur Autorin

Elisabeth Bronfen ist Kultur­wissenschaftlerin und Professorin für englische Literatur und Amerikanistik an der Universität Zürich. Für die Republik schrieb sie die Kolumne «Welt in Serie». Ende August erscheint ihr neues Buch «Angesteckt: Zeitgemässes über Pandemie und Kultur».