Experimentiert euch!
Sie hören «experimentelle Literatur» und machen darum einen weiten Bogen? Wir empfehlen anhand dreier Neuerscheinungen einen anderen Weg – nämlich direkt darauf zu.
Von Daniel Graf (Text) und Nazario Graziano (Illustration), 15.08.2020
Der folgende Absatz enthält Ihren persönlichen Reto-Hänny-Test. Sie kennen keinen Reto Hänny? Testen Sie grade dann! Sie müssen nichts weiter tun als lesen. Zwar ist nicht ganz auszuschliessen, dass Sie im Laufe des Absatzes auf demselbigen kehrtmachen. Böse Zungen behaupten sogar, das sei ziemlich wahrscheinlich. Aber das wollen wir doch erst mal sehen! Also: Sie lesen einfach so lange weiter, wie Sie wirklich Lust dazu haben. In dem Moment, in dem Sie kurz davor sind, diesem Text Ihre Zuneigung unwiderruflich zu entziehen, merken Sie sich bitte die Stelle und scrollen bis zum nächsten Absatz. Dort folgt nämlich schon das Testergebnis. Sie sehen: Geht schneller als bei Corona; und ausserdem schiebt Ihnen niemand ein Stäbchen bis zur Schädeldecke. Sie sind startklar? Dann los.
Wenn man sagt, dass Hännys Roman eine brachiale Zumutung sein will; dass er sprachlich immer auf den nächsten Halsbrecher-Looping aus ist; dass der Autor, besser gesagt, eine einzige, 600 Seiten lange Looping-Show abzieht, immer im Wissen um die Absturzgefahr seiner Technik, weshalb, noch bevor er «Rekordflug» schreibt, das Wort «Unfall» fällt; wenn man behauptet, dieser Roman sei ein Langstreckenflug bei Dauerturbulenzen, über die Lebensstationen des Autors, über riesige Wimmelbilder aus Worten und Bündner Kindheitsszenen archaischer Brutalität; wenn man darüber hinaus betont, dass diese ständige Abfolge von syntaktischem Steig- und Sturzflug durch die Jahrzehnte auch ein Ereignis von Klang und Rhythmus ist, einem Rhythmus allerdings, der die Phrasierungsbögen bis zum Bersten über weite Modulationen und mit Vorliebe über mehrere Fermaten hinwegspannt; wenn man – sofern Sie noch da sind! – hinzusetzt, dass dieses kindgreisliche Flieger- und Erzähler-Ich auf seinen Touren durch die eigene Vergangenheit immer auch über die Sprachlandschaften von «Schwitzerland» fliegt, wo es auf die Schochen sträzt, die Schafe «in ihrem Krommen mäuen» und sich die Bällchen aus dem Pansen «hochgorpsen»; dann weiter über «Melkmaschinenpumpmotoren» und heisslaufende Wortgeneratoren, über den «Biochemiemilchviehvitaminkraftfutterreklamekalender» hinweg und fröhlich hinein ins zeilenfüllende «Apothekerzahnärztepapierwarenhändlerdrogistengedudel»; und wenn man nach dem ersten Überfliegen dieses rauen Textgeländes endlich auf den schon kaum mehr erwarteten Hauptsatz zuhält und auf den ersten Punkt, dann hat man bereits ein Vielfaches schneller als bei Reto Hänny wieder jenen «rutschfesten schwarzen Gummiboden» unter den Füssen, auf dem der Anfangssatz von «Sturz» nach seitenlangen Volten buchstäblich zu «liegen» kommt.
Und? Rausgeflogen? Aber wo? Zwischen Zeile 1 und 5? Dann gehören Sie zu Gruppe A: Zwischen Ihnen und Reto Hänny, das wird nicht die grosse Liebe. Doch haben wir weiter unten etwas Romantik eingebaut – einfach gleich zum nächsten Zwischenstopp fliegen. Oder sind Sie aus gutem Willen bis zur Hälfte an Bord geblieben, haben sich dann aber doch verschaukelt gefühlt? Darauf lässt sich aufbauen! Sie sind Gruppe B: bereit für Skurriles, aber mit Bodenhaftung. Wir empfehlen je nach Zeitplan die Fortsetzung im Folgeabsatz oder bei der nächsten Zwischenüberschrift. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jetzt noch jemand da ist: Glückwunsch! Sie haben alle Beinfreiheit in Gruppe C, sind als langjährige Reto-Hänny-Leserinnen nun aber ziemlich hässig, weil die Journalisten mit ihrem pädagogischen Quatsch nur die Leute in dem Vorurteil bestätigen, experimentelle Literatur sei «schwierig». Scusi. Sie haben ja recht! (Wer jetzt?)
Test-Ende.
Reto Hänny, der zugleich anarchischste und pedantischste Schweizer Autor, hat es wieder getan.
In seinem vorausgegangenen Buch, «Blooms Schatten» (2014), hat Hänny den Versuch unternommen, seine Hausbibel, den «Ulysses», nachzuerzählen – in einem einzigen Satz von 160 Seiten. In «Sturz», seinem im Frühjahr erschienenen 600-Seiten-Werk, sind es nun einige Satzenden mehr. Geblieben aber ist Hännys Lust, die Möglichkeiten der Grammatik ins Letzte auszureizen, die übliche Wort- und Satzlänge bis ins Groteske zu überdehnen und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit der geneigten Leserin bis an die Grenze der Unhöflichkeit zu strapazieren.
Was Hänny schreibt, ist experimentelle Literatur in einem schon fast handbuchtauglichen Sinn: formversessen, sprachspielerisch bis zum Schwindel, mit stoischer Ignoranz gegenüber der Erwartung einer süffigen Story. Wer das Wort «Pageturner» als Kompliment verwendet, ist hier schon auf page one abgeturnt – oder erlebt sein blaues Wunder.
Hännys Hauptthema ist die Sinnlichkeit der Wörter selbst: Literatur auf Maximalabstand zur Alltagssprache; und doch vollgesogen mit ihr, samt ihrer verbalen Gewalt, die Hänny ausstellt, blossstellt. Mit manischer Akribie treibt er seine Sätze ins Monumentale, in scheinbar endlose Kaskaden. Bräuchte dieses ästhetische Verfahren ein Symbol, es wäre wohl eine filigran geschliffene Brechstange.
Das alles ist kein Selbstzweck. Es hat direkt zu tun mit dem, was und warum erzählt wird. «Sturz» ist vor allem auch ein Bildungsroman, nicht nur wegen seiner (stellenweise etwas bildungshuberischen) Exkurse in die Welt der Bücher und der Musikgeschichte. Das Ich dieses Textes, eng verwandt mit dem Autor, befreit sich aus der Enge seiner Bergdorf-Herkunft ebenso wie aus seiner früheren Legasthenie – mithilfe der Literatur, deren Möglichkeiten er nun feiert und steigert, in einer sprachlichen Radikalität, mit der Hänny in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa ziemlich singulär dasteht.
«Das dritte Buch vom Flug» heisst sein Opus im Untertitel, und tatsächlich schreibt Hänny hier eine Art Lebensroman fort. Schon in «Flug» (1985) hat er die eigene Geschichte in sprachliche Stunts übersetzt, 2007 dann eine neue Fassung vorgelegt. Nun also eine weitere Variation auf die uralte Erzählung vom «Hansli, der in die Welt hinausgeht und das Fürchten und das Staunen lernt», 35 Jahre nach «Flug».
Von Altersmilde ist in «Sturz» allerdings nichts zu spüren. Der Furor, mit dem Hänny die üblichen Wort- und Satzgrenzen sprengt, richtet sich programmatisch gegen die Mediokrität und das Kompromisslerische, das er in seinem Heimatland – «Weltmeister in Sachen Opportunismus» – überall am Werke sieht: idealtypisch in der despotischen Kleingeistigkeit von «Ruch», der Kantonshauptstadt, in der er unter Schmerzen die Gymnasialzeit verbracht und an der er sich schon in seinem gleichnamigen Debüt von 1979 abgearbeitet hat. (Für den Städtenamen der realen Vorlage muss man nur die vier RUCH-Buchstaben neu würfeln.)
Literarische Rigorosität als Gegengift zu «Mass und Mitte»? Mit Schönberg würde jedenfalls auch Hänny sagen: In der Kunst ist der Mittelweg der einzige, der nicht nach Rom führt.
Man kann manches an der Gesellschaftskritik in «Sturz» allzu grobpinselig finden, vielleicht auch zu sorglos in Bezug auf Klischees. Zum Spannendsten an diesem Textungetüm aber gehört, dass seinem Autor die eigene Faszination fürs Waghalsige und Abgründige immer auch verdächtig ist.
Hänny beschwört gleich zu Beginn die Zeit der Luftfahrtpioniere, die Ära des Kunstfliegers Louis Blériot herauf – und führt an diesem Extrembeispiel vor, wie sich eine spektakelheischende Effektkunst in ihrer Überbietungs- und Ausbeutungslogik in ein letztlich lebensverachtendes «L’art pour l’art» hineinmanövrieren kann. Überträgt man das auf die Wortakrobatik der literarischen Avantgarden (die militärische Metapher hat ihre eigenen Abgründe), lässt sich «Sturz», dieser durch und durch sprachexperimentelle Roman, zugleich als wortmächtiger Einspruch lesen: gegen blossen Formalismus und ein im Grunde turbokapitalistisches Steigerungsprinzip.
Die Frage also lautet:
Welches Experiment und wozu?
Oder noch grundsätzlicher: Warum überhaupt sprachlich experimentieren? Und wieso als Leserin literarischen Experimenten besondere Aufmerksamkeit schenken? Das Experimentelle ist schliesslich kein Wert an sich. Melitta Breznik hat mit «Mutter. Chronik eines Abschieds» vor kurzem einen formal unauffälligen, aber hochgradig intensiven Text über das Sterben vorgelegt. Dem Zürcher Autor Karl Rühmann, der bisher nicht im Rampenlicht der grossen literarischen Bühne stand, ist unter dem Titel «Der Held» einer der herausragenden Texte des Jahres gelungen – mit einem klassischen Briefroman. (Und einer meisterhaften Beherrschung von Figurenpsychologie und literarischer Stimmführung.)
Der einzelne literarische Text braucht keineswegs das Experiment, um ästhetisch hervorstechen zu können. Was also ist die Funktion des Experimentierens? Und was gilt überhaupt als literarisches Experiment?
Würde der Begriff immer nur eine bestimmte – etwa die klassisch sprachexperimentelle – Vorstellung zulassen, er würde sich selbst ad absurdum führen. Wenn es nur die eine experimentelle Richtung gäbe, könnte man dem «Experiment» auch gleich ein Museum bauen.
Versteht man aber darunter weniger ein Genre als vielmehr ein künstlerisches Prinzip, lässt sich das Experimentelle nur als Potenzial in viele Richtungen denken. Und in vielfältigen Ausprägungen findet es sich auch in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bei Anna Ospelt zum Beispiel. Und bei X Schneeberger (nein, kein Tippfehler).
Zwei Debüts, die auf ihre ganz eigene Weise der Sprache an die Wurzeln gehen.
Von Buchen und Büchern
Anna Ospelts literarischer Erstling «Wurzelstudien» ist eines der eigenwilligsten Bücher der letzten Zeit: poetisch flirrend zwischen Prosa, Essay, Lyrik sowie zwischen Text und Fotografie. Der Kontrast zur immer auch etwas berserkerhaften Poetik eines Reto Hänny könnte kaum grösser sein – und doch treffen sich beide in ihrem Faible für die Wortneuschöpfung und in der Verweigerung eines marktkonformen Plots.
Ausgangspunkt der «Wurzelstudien» ist ein realbiografischer Zufall. Eines Tages erfährt die Autorin, die 1987 in Vaduz geboren wurde und dort auch heute lebt, dass ihr Elternhaus auf dem Grund einer abgerissenen Villa steht, die dem Hamburger Verleger Henry Goverts gehört hat. «Wer war wohl dieser Henry Goverts, der auf die gleiche Hängebuche blickte wie ich meine ganze Kindheit hindurch?»
Blätter von dieser Buche (die von Anfang an auch spielerisch mit dem «Buch» assoziiert wird) werden zum Ausgangsmaterial einer Spurensuche: nach Henry Goverts, aber auch nach einer eigenen literarischen Stimme.
So wächst neben den Buchenblättern bald eine literarische Blattsammlung: Briefe, Nachlass-Blätter, Dokumente von und über Henry Goverts, in denen sich Konturen eines heute nahezu vergessenen Verlegers abzeichnen, der wegen seiner Verbindung zur Widerstandsgruppe «Kreisauer Kreis» vor den Nazis nach Vaduz geflüchtet ist und den Carl Zuckmayer in seinem «Geheimreport» neben Eugen Claassen und Peter Suhrkamp unter «Verleger-Gruppe I» einsortierte: «Vom Nazi-Einfluss unberührt, widerstrebend, zuverlässig.»
Goverts wird für die Erzählerin in vielerlei Hinsicht zur Identifikations- und Spiegelungsfigur – doch spiegeln sich in dieser auch die Zufälle der Überlieferung und die Schwierigkeiten der Rekonstruktion. Warum Goverts, der in Hamburg geboren wurde, in Berlin zur Schule ging? «Finde ich nicht heraus.» Seine Nachlassbibliothek? «Bloss ein fader Rest.» Aller Archive, aller aufgespürten Weggefährten zum Trotz: Goverts’ Geschichte ist lückenhaft geworden wie das verwelkende Blatt, das die Erzählerin mit sich trägt und von dem grösstenteils nur noch die Blattadern übrig sind.
Oder ist das die falsche Perspektive? Zeigen nicht auch die Konturen Wesentliches? Und führt der Blick durch die Lücken hindurch vielleicht zu anderen, unvermuteten (Ein-)Sichten?
Über einen Wissenschaftshistoriker gelangt die Erzählerin an Goverts’ frühe Gedichte und tippt «jedes einzelne» ab. Ihre Lieblingssätze daraus verschnipselt sie, überschreibt sie, kombiniert sie neu. Doch nicht nur aus dieser poetologischen Schlüsselszene wird klar: Goverts wird der Erzählerin zu einem unsichtbaren literarischen Mentor. Und so führt das Zwiegespräch mit ihm nicht zu einem biografischen Bericht – sondern zu etwas Eigenem.
Bereits während der Spurensuche verzweigt sich die assoziative Text-Bild-Komposition weitläufig: in eine Meditation über das Verhältnis von Natur und Kultur, von Sprache und Bildsprache. Die vier Mappen, die die Erzählerin anfangs findet, bilden nun die Kapitelstruktur des Buchs und halten die Loseblattsammlung ihrer Funde zusammen. Und am Ende von Mappe 1 wird Henry Goverts dann kurzerhand zum Verleger des Buchs ernannt und damit folgerichtig als Sujet verabschiedet – nur aus dem Postskriptum wird er der Leserin noch einmal zuwinken.
Aus der Keimzelle von Goverts’ Geschichte aber hat sich längst jene Poetik des anderen Blicks entfaltet, die nun auch den Fortgang dieser «Wurzelstudien» prägt. So, wie in den Fotos mehrere Ebenen übereinandergelegt werden und sich durch unerwartete Näheverhältnisse bespiegeln, so schichten sich in den Mappen auch die Zeiten und Themen übereinander.
Das Palimpsest wird also zur poetologischen Leitmetapher – an und für sich ein alter Hut. Aber was Anna Ospelt daraus macht, ist etwas eigensinnig Neues.
Alles folgt dem Prinzip der probeweisen Perspektivänderung, einer sorgfältig induzierten Wahrnehmungsverschiebung beim Lesen und Betrachten dieses Buches. Nicht die Blätter sind in permanenter Metamorphose – sondern unser Blick, unsere Deutung, unsere Betrachtungsweise. Plötzlich entdeckt das Auge neue Strukturen: Ein Blatt erscheint wie ein Baum, die Nervatur der Blätter wie menschliche Adern, in der Architektur von Gebäuden wird das Baugerüst des Organischen erkennbar. Oder – ein Effekt, den jedes Kind schon kennt – in der Maserung des Holzes zeichnen sich Gesichter ab (ein Phänomen mit dem schönen Namen Pareidolie).
So irrlichternd die Bewegung durch dieses Album hindurch sein mag, so sehr entwickelt Ospelt alles aus den beiden Leitmetaphern von Blatt und Wurzel. Sie bilden das poetische Kraftzentrum des Buches, aus dem sich das Assoziationsspiel speist. Wer mag, kann das «Autopoiesis» nennen, sollte dabei aber nicht vergessen, dass der Eindruck, hier brächten sich Wörter gegenseitig selbst hervor, in Wirklichkeit ein Effekt künstlerischer Komposition ist.
Immer geht es in Ospelts «Wurzelstudien» auch um den Stammbaum der Wörter, die Verästelung ihrer Bedeutungen. Und zum Spieltrieb der Autorin gehört, dass der kuriose Fund und die Eulenspiegelei nicht immer zu trennen sind. Etwa, wenn in der eigenen Stammbaumforschung eine Tante aus Italien auftaucht und ausgerechnet «Zia Monika» heisst. Oder wenn sie Anekdoten wie diese zutage fördert:
Die Grosseltern der Freundin vergruben alles im Garten. Dementsprechend haben ihre Eltern bei einem Gartenumbau ein Sofa unter der Erde gefunden.
Fest steht nur, dass Stammbäume «sich nicht fällen lassen. Man kann sich höchstens entästeln oder abblättern. Der Stammbaum aber wurzelt weiter.»
Die Assoziationen auch.
Queerung mit X
Gewissheiten aushebeln, eingeschliffene Gewohnheiten gegen den Strich bürsten, das ist auch ein zentrales Anliegen von X Schneeberger – oder Christoph Schneeberger, schon diese Festlegung wird in «Neon Pink & Blue» unterlaufen. Auf dem Cover prangt das X, die Autoren-Bio hingegen verwendet den männlichen Vornamen: «Christoph Schneeberger tanzte unter verschiedenen Namen auf vielen Hochzeiten. Die über Jahre an den Morgen danach entstandenen Texte aus dem Untergrund der Raves, aus dem Leben als politischer Aktivist und Dragqueen flossen in seinen ersten Roman ‹Neon Pink & Blue› ein.»
So hat dieser Text einerseits Züge einer Autobiografie (oder jedenfalls einer Autofiktion). Andererseits wirft er die Grundkonstanten der Gattung lustvoll über den Haufen, zuallererst die Vorstellung einer einheitlichen Ich-Erzählung. Auch auf Ebene der Grammatik wird die Gattungskonvention schon mit den ersten Sätzen durchgestrichen, durchge-ixt. (Aber so, dass sie noch lesbar bleibt.)
Meist schweige die Landschaft schön. Doch sei gerade etwas passiert: X, eben unter dem vollkommen unnützen Schatten einer Kunststoffpalme hervorgetreten, habe ein wenig auf den erhitzten Steinen der Hafenmauer herumgetänzelt.
Kein Ich-Bericht, sondern eine Erzählung über X. Und vor allem: kein Indikativ – der sogenannte reguläre Sprechmodus –, sondern Konjunktiv: indirekte Rede. Dabei wird es auf über 160 Seiten bleiben. Literarisch wirkungsvoll wird hier, im doppelten Wortsinn, ein Moduswechsel vorgenommen, eine grundlegende Umkehrung der gewohnten Sprechverhältnisse.
Ähnliches gilt für die Pronomen, jene vermeintlich kleinen, unscheinbaren Wörter, mit denen wir allerdings auf nicht weniger als uns selbst und andere verweisen:
Gern hätte es als Kind im Vogelsang Ballett getanzt, gelernt wohl weniger; die Ballettschule hinter den Bäumen mahne es hier am Platanenquai am Zürisee stets an. Un, deux, trois.
Und es wäre gern, bei ergebender Gelegenheit, ein Mädchen gewesen, geworden wär es es allerdings nicht so leichtfüssig, wie vermeintlich persönliche Fürworte vorgeben.
Darin steckt das zentrale Thema dieses queeren Künstler*innenromans: Wie ein Leben erzählen – und damit über Identitätsfragen sprechen –, wenn sich weder die Selbstwahrnehmung noch die Spielregeln der eigenen Kunstform mit der Vorstellung einer festen Geschlechtsidentität vereinbaren und mit den Mitteln der etablierten Sprachkonventionen abbilden lassen?
Über zwei komplementäre Teile hinweg erzählt «Neon Pink & Blue» die Geschichte einer Dragqueen im Wechsel der Pronomen: «man», «sie», «mensch». Das «ich» hat im gesamten ersten Teil nur in den integrierten Liedtexten, bei den Bühnen-Performances, seinen Auftritt: als Zitat. Der Konjunktiv, die indirekte Rede, verleiht dem Text eine ganz eigene Fluidität, schafft Platz für selbstironische Distanz und einen auch spielerischen Blick auf die eigene Geschichte – trotz aller Härten, die sie beinhaltet: Ausgrenzung, Obdachlosigkeit, die Einsamkeit, die auf den Glamour folgt.
Soll man diesen Konjunktiv diskurskritisch lesen, als demonstrativen Verzicht auf die Selbstgewissheit des Indikativs? Als literarische Konsequenz aus dem Rollenspiel des Drag? Als Dekonstruktion der Vorstellung, dass autobiografisches Erzählen, ganz egal, zu wessen Leben, je etwas anderes sein könnte als die Inszenierung eines Ich? Schwingt all dies mit – oder nichts davon?
Die Herausforderungen, die «Neon Pink & Blue» einer Deutung stellt, haben aufs Engste damit zu tun, dass Schneeberger das Durchkreuzen herkömmlicher Sprech- und Lesemuster zum zentralen Bestandteil seines ästhetischen Projekts macht. Das Lesen im geballten Konjunktiv mag phasenweise anstrengend sein – weil es lebenslang eingeübten Gewohnheiten zuwiderläuft; weil es quer steht zum Erlernten und tausendfach Praktizierten. Diese Leseroutinen zu queeren, auch das ist, wenn nicht Programm, so jedenfalls ein Effekt von Schneebergers literarischem Verfahren.
Dann endet der «Schneeberger Vogelsang». Mit Teil 2 übernimmt die Erzählstimme von «X Noëme»:
Bin der Mann im Mond, die Frau im man. Bin ein dann und wann. Ich, das Palimpsest, das je nach Wetterlage durchdrückt, sichtbar, lesbar wird. (...) Das Verschämte, endlich ausgebrochen, das Verdrehte, finalement auf links gedreht, das Verdruckste bin, finally, ich.
Im Rollenspiel der Travestie hatte sich schon Teil 1 immer wieder vom «man» zum «sie» hinbewegt. Nun aber wird das «man», die vorherige Schneeberger-Identität, programmatisch verabschiedet:
Die Schneeberge im ewigen Panorama waren geschmolzen, ins Nichts aufgelöst, mensch war nackt seines Familiennamens, bar seines Geschlechtsnamens gar. (...)
Ich bin die Zungenrede, die zu Wort kommen will.
Es folgt die Geschichte von X Noëme, die nichts weniger ist als die Geschichte einer «Rettung», wie es heisst, eine Geschichte vom Überleben. Bis es am Ende heisst:
Wiedergetauft, namenlos, vogelfrei – getauft auf X. Ureingewohnt dieser einen Welt. Unteilbar, das Kleinste wie das Grösste. Ihr könnt mich mal, ich bin auf die Welt gekommen.
Erzählt dieser Roman also die Geschichte einer Ich-Findung? Eines Empowerments mithilfe der Kunst?
Man sollte es sich auch hier mit diesem mehrdimensionalen Text nicht zu einfach machen. Durch die Reflexionen und den vielstimmigen Dialog, den Schneeberger mit zahlreichen Selbst- und Fremdzitaten initiiert, lässt sich «Neon Pink & Blue» auch als angewandte Queer Theory lesen. Die fortschreitende Frage- und Suchbewegung des Textes zielt weniger auf eine neue Festlegung als vielmehr darauf, das eigene Ich in seiner Vielschichtigkeit anzuerkennen. Und sie ist nicht von seiner Erfahrungsdimension zu lösen, die vielleicht auch für andere leistet, was die Textstimme schon zu Anfang über den Zusammenhang von Lesen und Leben verrät: «Was man erlebt habe, habe man erst in der Lektüre begriffen. Sich darin wiedergefunden.»
Diese Erfahrungen lassen sich vom Ende her nicht allzu harmonistisch auflösen – auch nicht mit Blick auf die Kunst, wo der gesellschaftliche Erwartungsdruck nur andere Formen annimmt:
Es sei aus dem anfänglichen Tanz ein Sommer himmeltrauriger Verwüstungen geworden.
Ob das jemand hören möge, die Wut an der Welt, die Trauer in der Welt und auch ganz das Gegenteil. (…) Von Transen würden schlussendlich Clownerien erwartet, Artigkeiten wie Unartigkeiten, leichthändig Unkorrektes, Tanzäffisches (…). Bemitleidenswerte Lächerlichkeit ist die Erwartung – aber nicht das, eine Wut, eine Trauer.
Doch, auch Wut und Trauer stecken in diesem Buch. Nirgendwo rühren sie ans Larmoyante. Und sie behalten nicht die Oberhand. Aber sie bleiben lesbar – auch im Konjunktiv.
Sturz, Wurz, X – und jitz?
Schneebergers Queerung uralter Erzählkonventionen führt zurück auf die Eingangsfrage: Was heisst literarisch experimentieren? Und er liefert, performativ, eine Antwort.
Sein Text mag den persönlichen Fürwörtern misstrauen – in Form des literarischen Stils aber sagt dieser Roman unüberhörbar «ich». Er trägt die Signatur einer individuellen, unverwechselbaren Autorschaft.
Das gilt, auf je eigene Weise, für jeden der hier diskutierten Texte. Literarisches «Experiment» in diesem Sinne bedeutet gerade nicht einfach unverbindliches Spiel; es folgt einem Ausdrucksbedürfnis, das sich in den herkömmlichen Formen nicht abbilden lässt. Dabei geht es nicht, wie das Klischee es will, um «Sprachinnovation», sondern um einen inneren Drang. Aber der schafft dann das literarisch Neue. Formalästhetische Neuerung entsteht, wo um Form gerungen wird – und sei es auf das Risiko des Scheiterns oder des ökonomischen Misserfolgs hin.
Es gehört jedenfalls zu den erfreulichen Erkenntnissen dieses Bücherjahres, dass man sich um die literarische Experimentierfreude hierzulande aktuell wenig Sorgen machen muss. Am 1. September kommt ein Text von Samira El-Maawi in die Buchläden, der in einer ganz eigenständigen Mischform aus Roman, Essay und Spoken Word vom Leben als Black Person of Colour in der Schweiz erzählt. Und fast zeitgleich erscheint «das alles hier, jetzt» von Anna Stern, ein Roman, der literarische Trauerarbeit und experimentelles Schreiben zusammenführt. Es ist gewissermassen das Zwillingsbuch zu Sterns vorigem Roman, der 2019 erschien. Schon dieser gehörte zu den bemerkenswerten des Jahres. Man sollte bei dieser Autorin nicht ausschliessen, dass ihr nun noch einmal Grösseres gelungen ist.
Reto Hänny: «Sturz. Das dritte Buch vom Flug». Matthes & Seitz, Berlin 2020. 600 Seiten, ca. 49 Franken.
Anna Ospelt: «Wurzelstudien». Limmat Verlag, Zürich 2020. 128 Seiten, 40 Fotos, ca. 29 Franken.
X Schneeberger: «Neon Pink & Blue». Roman. Verlag «die brotsuppe». 368 Seiten, ca. 36 Franken.