Schreiben heisst wählen
Aber jede Wahl hat Konsequenzen. Ein Streifzug durch die jüngere Deutschschweizer Literatur – und ein Plädoyer für ästhetische Entschlossenheit.
Von Daniel Graf, 10.08.2019
Wer sich in der Schweizer Erzählliteratur der Gegenwart umsieht, wird die aktuellen ästhetischen Tendenzen schwer auf einen Nenner bringen können. Zu vielfältig sind die Entwürfe, zu unterschiedlich die literarischen Vorlieben junger Autorinnen und Autoren. Und vermutlich war das zu jeder historischen Gegenwart so, bevor sich im Rückblick die Wahrnehmung verengt hat.
Dennoch, so die These dieses Textes, gibt es für die verschiedensten Ästhetiken einen gemeinsamen Massstab des Gelingens, der Geschmacksfragen und persönlichen Präferenzen noch vorausgeht: die Frage, wie überzeugend eine Autorin zunächst einmal ihre eigenen ästhetischen Entscheidungen umsetzt.
Was also sind die zentralen formalen Fragen, die ein Autor aufwirft? Und welches ist die jeweilige ästhetische Versuchsanordnung, die eine Autorin dem eigenen Text zugrunde legt?
Der folgende Streifzug durch die Schweizer Gegenwartsliteratur diskutiert diese Fragen exemplarisch an vier Romanen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Wenn es gut geht, wird aber vielleicht eines deutlich: Literatur, ganz gleich welcher Richtung, kann nur gelingen, wo sie sich konsequent ihren eigenen Fragen stellt.
1) Was ist literarische Zeit? – Ivna Žic
Auch der Roman von Ivna Žic beginnt, wie so viele aktuell, im Präsens. «Sie schnarcht. Die Frau unter mir schnarcht», ein Nachtzug nach Zagreb, früher Morgen, «sie schwitzt, ich schwitze». Die Zwangsintimität in diesem Zweierabteil, wo aus der Liege einer Wildfremden «weisse Waden kippen» und «Mundgeruch im Raum» hängt, ist wie ein hämischer Kommentar der Gegenwart zum Ausgangspunkt dieser Reise. Weil es doch auch eine Körpernähe ist, eine vormals ersehnte, vor der die Heldin des Romans nun davonfährt, auf dem Weg in ein Land, das einmal ihres war, auch wenn es damals noch anders hiess, vor dem Krieg. Es ist «wieder einmal diese Fahrt», zum hundertsten, «oder waren es schon fünfhundertmal».
Aber nicht bloss die vergangenen zwölf Nachtzug-Stunden «stapeln» sich «irgendwo in diesem gekrümmten Körper», auch die Zeitschichten einer Biografie. Denn zwischen dem Ende einer Kindheit in Kroatien und dem sogenannten Neuanfang in Zürich liegt für dieses Ich der «Nullpunkt, von dort wächst alles aus zwei Richtungen»: zwei Heimaten, zwei Zugehörigkeiten (oder keine), ein Leben im «Sprachspagat».
Unterwegs im Zug pendelt dieses Ich auch zwischen den Zeiten, zwischen einer Plattenbaukindheit und dem Zagreb, auf das sie zufährt, die «Grossstadt, die ausgestorben sein wird», jetzt im August. Mehr noch: Vor Zagreb und Zürich schiebt sich Paris – und die erste Begegnung mit ihm. Auch das ein Nullpunkt, dem jetzt doch bitte ein Schlusspunkt folgen soll, sodass dieser Mann zurückbleibt in der Vergangenheit, nur spult die Erinnerung ja gerade erst zum Anfang zurück: «Ich bot ihm kein Getränk an, kein Licht, kein Zeitlimit.»
Was die Autorin hier macht?
Sie gestaltet literarische Zeit. Etwas nüchterner: Sie arbeitet mit dem Tempus. Sie macht sichtbar, wie sich im Kopf ihrer Heldin Erinnerung, Gegenwart und Zukunft überlagern. Sie erzählt diese Biografie, womöglich die eigene, als eine Geschichte, die zu keinem Zeitpunkt von nur einer Zeitdimension bestimmt ist.
«Die Nachkommende», das soeben erschienene Romandebüt von Ivna Žic, ist Liebesgeschichte, Migrationserzählung und Familienroman in einem. Die Erzählerin aus dem Nachtzug wird unterwegs bleiben. Sie wird den Lesern erfahrbar machen, welche Zumutung der Satz «Ihr seid euch ähnlich» sein kann; was alles unübersetzbar bleibt, nicht transferierbar zwischen verschiedenen Zeiten und Sprachen; dass Migration mehr ist als eine Abreise, eher das unwiderrufliche Abreissen einer Verbindung, ein Bruch, der sich durch keine Rückkehr wieder schliessen lässt. Und wie in der Anfangssequenz wird die Autorin sämtliche Zeitformen aufbieten, die das Deutsche hergibt, wird oft in ein und demselben Satz zwischen den Zeiten switchen wie zwischen verschiedenen Idiomen.
Mag sein, dass eine Literatin, die nicht in ihrer Mutter-, sondern ihrer zweiten Sprache schreibt, ein besonderes Sensorium ausprägt für grammatische Nuancen und das daraus resultierende Spektrum an literarischen Ausdrucksmöglichkeiten. Mag aber auch sein, dass Ivna Žic einfach eine hochreflektierte Autorin ist.
Makellos ist der Text deswegen nicht. Žics «Nachkommende» ist stellenweise zu sehr auf der Pathos-Schiene unterwegs. Sie erzählt Episoden unnötig aus, wo man längst durch subtile Andeutungen verstanden hat. Und die slawischen Passagen ergeben sich zwar wie zwangsläufig aus der Mehrsprachigkeit der Hauptfigur, ihr Einsatz kippt jedoch mitunter ins Sentimentale, weil sie als koloristische Einsprengsel («zlato moje») auch etwas Schlagerhaftes bekommen.
Ein bemerkenswertes Debüt ist der Roman trotzdem. Erstens, weil er mit Nachdruck deutlich macht, dass Identität, zumal eine migrantische, sich immer aus der Gesamtheit verschiedener Lebensphasen und -kontexte speist, deren unterschiedliche, oft unvereinbare Identitäts- und Zukunftskonzepte immer wieder neu zu einem Selbstbild integriert werden müssen. Und zweitens, weil die Autorin eine literarische Form findet, dieser Durchdringung der Zeitebenen in ihrer Komplexität zu begegnen.
So erinnert Ivna Žic an etwas sehr Grundlegendes: Literarisches Erzählen ist ein Arrangement von Zeitausschnitten – und literarische Zeitbehandlung eine Gretchenfrage auch im Gegenwartsroman.
Die ästhetischen Antworten darauf fallen allerdings ganz unterschiedlich aus. Das gilt nicht zuletzt für die hier folgenden Stimmen.
2) Fragen der Perspektive – Tabea Steiner
Schreiben heisst wählen. Man kann, wie Ivna Žic, die gesamte Bandbreite der Zeitformen bespielen. Man kann aber auch – wie etliche Erzähler aus Žics Generation – diese Bandbreite radikal verringern, sich auf die eine Form beschränken, die sich mühelos an jede Stelle des Zeitstrahls schieben lässt: das Präsens.
‹Wir schreiben den Januar 1840, es schneit seit Tagen›, oder ‹Es ist Weihnachten 2057, Wolken ziehen auf über Bern, die Temperatur fällt auf 31 Grad›: Das Präsens funktioniert wie eine Zeitmaschine und braucht dafür nichts als ein Datum oder eine Vorher-nachher-Relation.
So wird auch Vergangenheit im Wortsinn vergegenwärtigt, das heisst in eine (scheinbare) Unmittelbarkeit überführt. Kein distanzierendes «Es war einmal», sondern szenische Direktheit wie im Film.
Das Versprechen des narrativen Präsens lautet grössere Nähe zum Geschehen, zum ungefilterten Erleben der Figuren, mit einem Wort: Intensität. Was wiederum eng mit einer zweiten erzählerischen Grundkategorie verknüpft ist: Perspektive. Das Erlebnis-Präsens kann der einen zentralen Figur gelten (wie in den Vergegenwärtigungs-Passagen bei Žic) – oder mehreren, sodass sich das Geschehen wie von verschiedenen Warten aus zusammensetzt. So macht es Tabea Steiner in ihrem Debütroman. Und befindet sich damit in guter Gesellschaft.
Müsste man für die deutschsprachige Erzählliteratur der letzten Jahre, insbesondere aus der jüngeren Autorengeneration, einen Phänotyp der grossen Trends bestimmen, dann liesse der sich auf die Formel bringen: Präsens plus Multiperspektive. Die Gegenwartsliteratur ist in hohem Mass auch eine Literatur der Gegenwart, der szenischen Abfolge verpflichtet. Und sie inszeniert immer häufiger ein Neben-, oft ein Gegeneinander verschiedener Perspektiven, samt ihren Wahrnehmungsdifferenzen.
Tabea Steiner folgt beiden Trends.
In ihrem Romanerstling «Balg» erzählt sie die Geschichte einer leidvollen Kindheit – und einer ungewöhnlichen Freundschaft zweier Aussenseiter. Da ist Timon, der «Balg», wie ihn eine Nachbarin nennt, der schon in jungen Jahren die Trennung seiner Eltern verkraften und miterleben muss, wie Antonia, seine alleinerziehende Mutter, von ihrer Aufgabe und der Rückkehr ins Dorf ihrer Herkunft nervlich zerrüttet wird. Und da ist Valentin, mit dem Antonia eine düstere Vorgeschichte verbindet, die ihn, den einstigen Lehrer und jetzigen Briefträger, im Ort zum Geächteten gemacht hat.
Wie Timon unter der psychischen Last und durch die Ausgrenzung seitens der Dorfkinder zum gefährdeten Eigenbrötler wird, der die eigene Verletzung mit Aggression kompensiert, und wie er sich ausgerechnet Valentin annähert, mit dem ihm die Mutter den Kontakt untersagt hat – all das erzählt Steiner von verschiedenen Figuren aus und in schnellen Wechseln zwischen dem Familien- und dem Valentin-Strang.
Leider vertraut die Autorin dabei nicht stärker auf das eigene Erzählprinzip. Auch wenn sie aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt: Der Ton, das Tempo, das Sprachregister verändern sich kaum. Und die Binnenperspektive der Figuren, mit der sich das jeweilige subjektive Empfinden einfangen und später mit der anderen Sichtweise kontrastieren liesse, wird nur halbherzig durchgehalten. Tritt eine neue Figur hinzu, sodass Handlung zwischen den Figuren geschildert werden muss, weicht Steiner immer wieder in die quasi über den Figuren schwebende Position der klassischen Erzählerin aus – anstatt auch das Agieren der neuen Person durch die Brille der alten zu schildern.
Ähnlich bei der Zeitbehandlung: Die Wirkung des szenischen Präsens wird geschwächt, wenn bei Rückblenden in die Vergangenheit eine erklärende Erzählstimme übernimmt und die Vorgeschichte referiert – statt dass im Jetzt der Szene der Erinnerungsvorgang der Figur selbst sichtbar wird.
Stark ist der Text hingegen, wo Tabea Steiner die Brutalisierung Timons aus der erlebten Rede des Kindes schildert; dort, wo sie die politische Dimension der Geschichte einholt: die sozial verheerenden Folgen von Armut, die Zerstörungskraft des menschlichen Herdentriebs. Und besonders dann, wenn sie in der einen Perspektive die andere aufscheinen lässt und damit subtil die Zumutungen einfängt, die der Rosenkrieg der Eltern für das Kind bedeutet: «Timon erwacht, steht schnell auf und rennt ins Badezimmer, seine Unterhose ist ein wenig nass. Mutter sagt, dass er in der Nacht wieder pinkeln muss, weil er mit Vater im See gebadet hat.»
Sobald die Autorin entschlossen die Konsequenz aus ihren ästhetischen Grundsatzentscheidungen zieht, gewinnt Timons Geschichte entscheidend an Eindringlichkeit. Tabea Steiner lockert jedoch zu häufig die Beschränkung der Mittel wieder, wo sie erzählerisch herausfordernd wird. So dienen das Präsens und die Perspektivenvielfalt in diesem Roman oft weniger der Erlebnisunmittelbarkeit der einzelnen Figur, der Kontrast- und Tonvariation oder der Figurenzeichnung. Sondern vor allem einem Informationsmanagement, das die Handlungselemente auf die verschiedenen Szenen verteilt.
Das verweist, über den einzelnen Roman hinaus, auf das grundsätzliche Risiko eines chronologischen Erzählens im Präsens: Weil es die reflexive Distanz der Erinnerung und das Durchdringen verschiedener Zeitebenen nicht haben kann, ist es umso mehr auf die Intensität des szenischen Erlebens und der Arbeit an der Sprache angewiesen.
Womöglich gerät durch die neue Normalität des erzählerischen Präsens manchmal ein wenig in Vergessenheit, welch radikale Entscheidung diese Beschränkung eigentlich ist? Und welche schriftstellerische Konsequenz sie erfordert, um aus dieser Beschränkung Funken zu schlagen?
3) Ästhetische Signatur – Niko Stoifberg
Zeitbehandlung und Perspektive: Jedes Erzählen, ob literarisch oder alltäglich, arbeitet, bewusst oder unbewusst, mit diesen beiden Elementen. Und selbst der grösste Teil der Weltliteratur kommt wunderbar ohne weitere formale Kniffe aus, wenn auf diese beiden Fragen eine überzeugende Antwort gefunden ist.
Und trotzdem: Wer Bücher liebt, wer sich für die Machart von literarischen Texten interessiert, wird immer auch auf die literarischen «Special Effects» eines Autors achten, auf die formalen Extravaganzen, das Eigenwillige und Einmalige, das Augen- oder Ohrenfällige; das Preziose, das goutiert oder als manieriert verschrien wird – aber auch auf den subtilen Kunstgriff, das ganz Leise und Flaschenposthafte, das kaum ein Leser bemerkt. Irgendetwas also, das es vielleicht sogar nur hier, in diesem einen Buch gibt; etwas, das wirkt wie die persönliche Signatur einer Autorin.
Zum Beispiel, wenn Noëmi Lerch Seite für Seite Schwarz und Weiss, Bild und Textminiatur abwechselt.
Wenn Sibylle Berg jede neu auftretende Figur ihres Romans mit einem Persönlichkeitsprofil im Stil der digitalen Überwachung versieht.
Wenn Ruth Schweikert ihren Text mit den Worten «wer weiss» beendet – und dann, als wäre das letzte Wort nicht ein Verb, sondern eine Farbbezeichnung, lauter leere Seiten folgen lässt.
Oder wenn Li Mollet ein Buch aus lauter Doppelseiten komponiert: immer links, frei schwebend, ein einzelner Satz, rechts eine längere Prosareflexion.
Mit all dem ist noch nichts über literarisches Gelingen oder Scheitern gesagt, aber es ist eine Eigenheit markiert, über deren Sinn und Unsinn nachdenken wird, wer auf sie stösst.
Auch Niko Stoifberg hat seinem ersten Roman eine solche Eigenheit gegeben: einen Rhythmus, der fast schon ein Metrum ist – und den die Kritik (Denise Bucher, Barbara Villiger Heilig) zu Recht als zentrales Formmerkmal des Textes identifiziert hat.
Im Grunde sind es vierhebige Jamben, also taktartige Perioden von abwechselnd unbetonten und betonten Silben, die sich durch diesen Psychothriller ziehen und ihm seinen ganz eigenen Sound verleihen. Stoifberg erzählt von einem jungen Mann, der, um eine Frau zu erobern, ein kapitales Verbrechen an deren eigenem Bruder begeht – und wie wir beim Lesen in diese Geschichte von Verstrickung und unmöglicher Schuldbewältigung hineingesaugt werden, hat entscheidend mit der atmosphärischen Kraft dieses Rhythmus zu tun. Seinen Eröffnungssatz hat der Roman quasi noch als Auftakt, dann beginnt der Puls, mit dem Stoifberg dem Geschehen etwas Entrücktes gibt, es zunehmend in eine Albtraum-, eine Psycho-Logik überführt.
Ich will gerade aus dem Haus, und davor steht – direkt vor mir – die Frau, die ich seit Jahren suche. Suchen ist das falsche Wort; ich wusste nicht, dass ich sie suchte, wusste nicht, dass es sie gibt – und weiss doch auf den ersten Blick, dass ich auf sie gewartet habe, nur auf sie, genau auf sie.
So klingt der Roman auf seiner ersten Seite. Und im Bann desselben rhythmischen Schemas steht er noch am Ende.
Ist das nun ästhetische Konsequenz? Vielleicht, aber eine fragwürdige.
Denn literarische Form ist nichts Starres, nichts, was dem Inhalt undialektisch gegenübersteht oder ihm äusserlich wäre. Sie bildet sich überhaupt erst aus der Durchdringung des Stoffes – oder sie läuft Gefahr, zum Formalismus zu werden.
Auf Stoifbergs Roman «Dort» bezogen: Über 300 Seiten hinweg nutzt sich die Sogwirkung der festen rhythmischen Formel zwangsläufig ab. Stoifberg hätte die Idee weiterentwickeln, in irgendeiner Form zum Gang der Geschichte und zur Entwicklung seiner Figuren in Beziehung setzen können. Aber der Rhythmus bleibt ohne Durchführung, wirkt dadurch zunehmend vom inhaltlichen Geschehen entkoppelt. Letztlich verzichtet der Autor darauf, einen besonders starken ästhetischen Einfall auch zu einem gestalterischen Prinzip zu machen. So erscheint er im Fortgang des Romans nur noch als Accessoire.
Wer will, kann darin statt einer ungenutzten Chance auch eine Verweigerung sehen. Denn Stoifbergs Roman kann man auch als literarische Infragestellung des freien Willens verstehen. Stoifberg lässt die Gerichtsbarkeit aus dem Roman verschwinden und zeichnet eine archaische Ordnung, die sich über Macht, Definitionshoheit und Abhängigkeit organisiert. Und so steht der starre Rhythmus wie ein Symbol über diesem Roman der Determination: als Gegenstück zur ästhetischen Erfahrung von Freiheit.
Denn es ist ja nach wie vor das Versprechen der Kunst, einen Raum der Autonomieerfahrung zu bieten. Für Fragen der Form lässt sich daraus ableiten: Auch die selbst gewählten Regeln eines Werks müssen flexibel bleiben. Formbeherrschung zeigt sich erst in der bewussten Sabotage von Form, im Dynamisieren und Transzendieren der eigenen Ausgangssetzung.
In diesem Sinne bildet der letzte Roman, um den es hier geht, das exakte Gegenstück zu «Dort». Denn das Schreiben von Anna Stern folgt im emphatischen Sinn einer Ästhetik der Verwandlung.
4) Vorwärts erzählen, rückwärts erzählen – Anna Stern
Wenn es einen Text gibt, bei dem all die bisher diskutierten Themen – literarische Zeit, Perspektive, formale Extravaganz – in potenzierter Weise zusammentreffen, dann vermutlich der aktuelle Roman von Anna Stern, «Wild wie die Wellen des Meeres».
Wem schon dieser Titel etwas too much ist, der wird womöglich die avancierte Form, mit der das Buch daherkommt, erst recht überladen finden. Was bei Ivna Žic noch eine Metapher war, gilt bei Anna Stern gleich für die ganze Konstruktion: Sie kommt aus zwei Richtungen.
Stern erzählt die Geschichte einer Trennung in Engführung zweier Handlungsstränge: einmal vorwärts, ausgehend von dem Tag, an dem Ava aufbricht, «eine Zukunft, vielleicht, in ihrem Bauch». Und einmal chronologisch rückwärts, als Tiefenbohrung in eine Vergangenheit, die nach und nach das Geschehen der Gegenwart in ein anderes Licht rücken wird. Beide Stränge werden zudem von einer bildlichen Ebene unterbrochen: Polaroidfotos, mit Daten versehen und reichlich rätselhaft, dazu Briefe, Notizen, Ausschnitte aus ständig neuen Büchern im Buch. Und wir als Lesende sollen all diese Quellen wie eine Kommissarin – oder ein Psychologe – zu einem Gesamtbild zusammensetzen.
Mit anderen Worten: Es klingt erst mal alles nach einer ziemlichen Zumutung. Was soll der ganze Aufwand? Wieso diese Polaroids, die ständigen Zitate? Und muss die Vogel- und Parasitenforscherin, um die es geht, dermassen verschroben sein?
«Die machen alles so unnötig kompliziert», sagt Ava einmal frustriert über «diesen ganzen Theoriekack» von Forschungsliteratur. Und unter Umständen hält man es zunächst für einen Racheakt mit gleichen Mitteln, sich durch ihre Geschichte graben zu sollen.
Dann geschieht das kleine Wunder dieses Textes.
Dass man nämlich im Fortgang des Lesens einen grundlegenden Perspektivwechsel durchläuft. Und im Wortsinne lernt, Avas Geschichte zu lesen, ihre Beziehung zu Paul, die so ganz anders entstanden ist als gedacht.
Vielleicht bleibt man anfangs überhaupt nur wegen der Faszinationskraft der Hauptfigur dabei. Ava mit den zwei Augenfarben, rechts Grün, links Grau. Ava, «wie Paul sie kennt: leicht, flüchtig, vogelgleich», aber auch mit ihrer manischen Prinzipienreiterei, ihrem rätselhaften Misstrauen, ihrer ins Soziophobe gehenden Melancholie. Das einstige Mädchen mit dem übermässig pochenden Herzen, «ein Kolibri in ihrer Brust». Die Biologin, scheinbar rational bis zur Gefühlstaubheit, die lateinische Vogelnamen aufsagt wie Zaubersprüche, und dann Sätze wie: «Ich muss vergessen, dass es Menschen gibt.»
Es ist die Lesebewegung selbst, die das Ereignis dieses Romans ausmacht: Eine geradezu kriminologische Rekonstruktion entlang zweier Stränge, die zeitlich mit jeder Seite weiter auseinanderstreben und doch aufeinander antworten. Bis scheinbar die äussere Spaltung genau in dem Moment heilt, als Ava stürzt und in ihrem Bein eine tiefe Wunde klafft. Bis man erfährt, dass sich in Wirklichkeit da erst die zentrale Spaltung der Erzählung öffnet, die beiden Versionen der Wahrheit. Bis man von diesem obsessiven Namens-Roman gelernt hat, selbst genau auf die Namen zu achten, weil sie helfen, ein Geheimnis zu erschliessen. Und bis man schliesslich versteht, wie es zu Avas Trauma und zur Trennung von Paul gekommen ist.
Das verändert auch den Blick auf den Anfang. Die vermeintlich absurden Begrüssungsszenen und Dialoge, das Banale ihres Inhalts, scheinbar überflüssig für einen Roman – erst im Lauf des Lesens begreift man, dass für Ava gerade im Zwischenmenschlichen eben nichts als selbstverständlich gilt. Und dass der Eindruck von «Fehlern» – auch von vermeintlichen literarischen – manchmal nur das Zugrundelegen einer falschen Erwartung ist.
Was Anna Stern gelingt, ist nicht weniger als eine Verführung zum langsamen Lesen. Wenn die Floskel von der Wahrnehmungsschule irgendwo richtig ist, dann hier. Sicher: Nicht jede Schwäche des Textes erscheint vom Ende her plötzlich in anderem Licht, womöglich wäre der Roman mit ein paar beherzten Streichungen noch überzeugender ausgefallen. Man muss diesem Buch und seiner komplexen Struktur viel Zeit schenken; dann merkt man vielleicht, dass man die in Wirklichkeit sich selbst schenkt.
Es ist nicht zuletzt die ästhetische Kompromisslosigkeit, das Wagnis zum Sperrigen, das Risiko, nicht von jeder und jedem zu Ende gelesen zu werden, die das Wider- und Eigenständige dieses Romans ausmacht. Vermutlich ist das exakt, was unsere Zeit von der Kunst am dringendsten braucht.
Tabea Steiner: «Balg». Roman. Edition Bücherlese, Luzern 2019. 240 Seiten, ca. 29 Franken.
Anna Stern: «Wild wie die Wellen des Meeres». Roman. Salis-Verlag, Zürich 2018. 320 Seiten, ca. 32 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.
Niko Stoifberg: «Dort». Roman. Nagel & Kimche, München 2019. 280 Seiten, ca. 36 Franken.
Ivna Žic: «Die Nachkommende». Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 164 Seiten, ca. 29 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.