Menschenrechtlerin Salma Hemed, Jihad-Reisende Shamima Begum, Flugzeug­entführerin Leila Khaled (v. l.). Karam Almasri/Getty Images, Ronen Zvulun/Reuters, Alamy Stock Photo

Tödliche Klischees

Frauen führen die Mehrheit aller Selbstmordattacken von Boko Haram aus. Und ja, es gibt rein weibliche IS-Zellen. Trotzdem sprechen Behörden und Medien diesen Täterinnen oft das eigen­mächtige Handeln ab. Sie gelten als manipuliert, naiv, passiv. Dieses Rollen­bild hat fatale Konsequenzen.

Von Leandra Bias (Text) und Anthony Gerace (Illustration), 13.08.2020

Das Ereignis ging unspektakulär und diskret vonstatten, dabei war es historisch: Im Februar wurde einer Schweizerin die Staats­bürgerschaft entzogen – die Republik berichtete. Es war ein Entscheid, der so seit dem Ende des Zweiten Welt­kriegs nicht mehr gefällt worden war. Er betraf eine Genferin, die auch französische Staats­angehörige ist und die 2016 nach Syrien gereist war, um sich dem Islamischen Staat anzuschliessen.

Sie gehört damit zu den 13 Prozent Frauen der rund 40’000 Personen, die zwischen 2013 und 2018 ihre Heimat­länder Richtung Syrien und Irak verliessen, um den sogenannten Islamischen Staat (IS) zu unterstützen. Frauen sind also eine Minderheit – und wir tun uns mit ihnen sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf politischer Ebene besonders schwer.

Wie sich das äussert, warum das so ist und weshalb das für die offizielle Strategie zur Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus sowie für die Frauen selber fatal ist, hat die Schweizer Plattform für Friedensförderung gemeinsam mit der feministischen Friedens­organisation CFD (Christlicher Friedens­dienst) und Friedens­frauen weltweit erforscht.

Zur Autorin

Leandra Bias gehört der Plattform für Friedensförderung an und arbeitet als Gender-Expertin bei der Friedensstiftung Swisspeace. In dieser Rolle leitet sie das Projekt zum zivil­gesellschaftlichen Beitrag zur Umsetzung des Nationalen Schweizer Aktionsplans 1325, worauf dieser Artikel basiert. Sie promoviert ausserdem an der Universität Oxford in Politologie.

Aus Europa reisten Frauen vor allem aus Frankreich (320) und Gross­britannien (mehr als 100) an. In Gross­britannien zeigte sich vergangenes Jahr auch anschaulich, wie Frauen in den Medien dargestellt werden, die sich mit gewalt­tätigen Organisationen identifizieren.

Einer der bekanntesten Fälle ist der von Shamima Begum.

2015 trat die damals 15-Jährige mit zwei weiteren Schülerinnen aus ihrer Heimat­stadt London die Reise nach Syrien an. Vier Jahre später wurde sie in einem Flüchtlings­lager mit zwei Kindern und schwanger aufgefunden. Um ihre Rückreise zu verhindern, wurde ihr die britische Staats­bürgerschaft unmittelbar entzogen. Dies, obwohl sie dadurch staatenlos wurde. Gerecht­fertigt wurde der Entscheid damit, dass Begum auch die Staats­bürgerschaft Bangladeshs erwerben könne. Begum hat das Land noch nie besucht, und Bangladesh bestreitet, dass Begum Staats­bürgerin sei oder einen Pass beantragen könnte. Am 16. Juli hat ein Berufungs­gericht entschieden, Begum dürfe nach London zurückkehren, um rechtlich für ihre Staats­bürgerschaft zu kämpfen.

Die Boulevardpresse hat Begum in der Vergangenheit überwiegend als «Jihad-Braut» betitelt. Das ist einer der zwei Begriffe, die sich in Bezug auf «Extremistinnen» seit 2014 in den britischen Tabloids durchgesetzt haben, womit auch die öffentliche Debatte massgeblich beeinflusst wurde. Der andere ist «IS-Mutter». Wie Google-Suchen zeigen, dominierte auch in der Schweiz der Begriff «ISIS-Braut», wenn von einer IS-Sympathisantin in den Medien berichtet wurde.

Ich will es genauer wissen: «Terrorismus» und «Extremismus»

Die Begriffe «Terrorismus» wie auch «Extremismus» sind aus Sicht der Friedens­förderung problematisch. Sie sind nicht universell einheitlich definiert, was Staaten ermöglicht, ihre gesetzliche und politische Macht zum Nachteil der Menschen­rechte immer weiter auszubauen. Zudem werden beide Begriffe im negativen Kontext «globaler Krieg gegen den Terror», bei Militär­interventionen und anti­muslimischem Rassismus gebraucht. Aus diesem Grund werden sie in diesem Artikel in Anführungs­zeichen oder zumindest mit der weiteren Bezeichnung «gewalttätig» benutzt. Es sei denn, der Begriff wird als Teil eines offiziellen politischen Programms genannt.

Ob Braut oder Mutter, beide Etiketten stellen die Frauen in den Hinter­grund ihrer kämpferischen Ehe­männer und reduzieren ihr Handeln auf einen biologischen Wunsch nach Ehe und Mutterschaft. Ausserdem vermitteln sie, dass diese Frauen von den IS-Männern verführt und getäuscht worden seien. Darauf basierte denn oft auch ihre öffentliche Verteidigung. Zu jung sei Begum zum Zeit­punkt ihrer Reise gewesen, um sich bewusst für diesen Schritt entschieden zu haben. So wurde beispiels­weise mehrmals in der politischen Diskussions­runde «Today» auf BBC 4 argumentiert.

Die Forschung zieht das Fazit: manipuliert, naiv und definitiv passiv. Das ist die Darstellung, wenn von weiblichen «Extremistinnen» die Rede ist. Sie steht in starkem Kontrast zum Bild der Männer, die als «ausländische Kämpfer» gelten.

In unseren patriarchalen Gesellschaften wird zu diesen Darstellungen gegriffen, weil Frauen, die sich mit gewalt­tätigen Organisationen identifizieren oder selber Gewalt anwenden, die traditionellen Rollen­bilder ins Wanken bringen. Gemäss diesen sind nur Männer «natur­gemäss» gewalt­tätig, während Frauen Opfer sind. Sobald Frauen nicht mehr nach diesem Skript spielen, wird ihr Verhalten nicht auf selbst­ständiges und politisches Denken zurück­geführt, sondern auf mentale oder emotionale Schwäche. So können die Geschlechter­vorstellungen bewahrt werden.

Frauen werden als Täterinnen unterschätzt

In Wahrheit spielen Frauen in nicht­staatlichen bewaffneten Gruppen ganz unter­schiedliche Rollen: Sie können aktive Täterinnen und Unter­stützerinnen sein wie auch Familien­angehörige von Unter­stützern und Entführten.

Als Täterinnen üben Frauen vor allem Selbstmord­attentate aus – und zwar mit steigender Tendenz. Während es um die Jahrtausend­wende knapp einen Fall eines weiblichen Selbst­mord­attentats pro Jahr gab, sind es mittler­weile jährlich siebzig. Seit 2013 geschieht die grosse Mehrheit dieser Fälle im subsaharischen Afrika, insbesondere in Nigeria, wo Boko Haram so viele Frauen einsetzt wie keine andere Gruppe. Mehr als die Hälfte ihrer Attacken werden von Frauen ausgeübt.

Frauen erweisen sich als besonders wirkungs­voll, weil sie als potenzielle Täterinnen unterschätzt werden. Dadurch erhalten sie einfacheren Zugang zu Märkten, Moscheen oder Universitäten, wo sich viele Menschen aufhalten. In einem Interview mit der BBC beschrieb die berühmte Entführerin der Volks­front zur Befreiung Palästinas, Leila Khaled, wie einfach sie durch die Sicherheits­kontrolle kam: «Ich hatte eine Pistole in meinem Gurt, eine Hand­granate in meiner Hosen­tasche und Spreng­stoff in meiner Hand­tasche. Ich war eine gut gekleidete Frau. Als ich meine Tasche zur Inspektion öffnete, sah der Mann nur mein Make-up und winkte mich durch.»

Es ist daher nicht erstaunlich, dass Selbstmord­attentate gemäss neuesten Forschungs­ergebnissen tödlicher ausfallen, wenn sie von Frauen verübt werden. In Nigeria führen sie im Schnitt zum Tod von zwölf Zivilisten, während Männer durchschnittlich acht Menschen mit in den Tod reissen. Diesen Vorteil entdeckte auch der IS, als er im Nahen Osten vermehrt bedrängt wurde. Ab 2016 begann er daher, in Nord­afrika und Europa mehr Frauen einzusetzen. Im gleichen Jahr wurde in Paris die erste vollkommen weibliche IS-Zelle entdeckt. Und ein «Frauen­flügel» der al-Qaida auf dem indischen Subkontinent hat bereits über 500 Attentäterinnen ausgebildet.

Wie jede Organisation braucht eine gewalt­tätige Gruppe Leute, die sich der Rekrutierung, der Ausbildung, der Finanzierung und der Logistik widmen. Auch hier kommen Frauen zum Zug: In Kenia sind Frauen wirkungs­volle Mobil­macherinnen für die Al-Shabaab-Miliz, die im Land seit 2014 aktiv ist. Ein beliebter Ort für die erste Kontakt­aufnahme sind Beerdigungen, wo Witwen und andere Frauen abgefangen werden. Aber auch auf Hochzeits­feiern, in Schönheits­salons und auf Märkten werden Frauen angesprochen.

Ebenso gehört es zur Realität von Frauen, dass sie nicht­staatliche bewaffnete Gruppierungen als Angehörige von Mitgliedern begleiten – teils freiwillig, teils aber auch unfreiwillig, etwa wie bei den zahl­reichen von Boko Haram entführten Mädchen oder bei den vom IS versklavten Jesidinnen im Irak.

Obwohl die Rollen der Frauen also vielfältig sind, sind es die Geschichten von Opfern, die im Vorder­grund bleiben. Sie mögen zentral sein, der Komplexität des Themas aber werden sie nicht gerecht. Doch dieser kognitive Kurzschluss ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen. Auch die Präventions­politik baut darauf auf, mit der Folge, dass der institutionelle Umgang mit gewalt­tätigen Frauen ebenfalls lückenhaft ist. Um das zu verstehen, ist ein kleiner Exkurs nötig.

Mutterinstinkt als Frühwarnsystem

Auch das war historisch: Im Oktober 2000 nahm der Uno-Sicherheitsrat, das oberste Gremium der Vereinten Nationen, die Resolution 1325 zu «Frauen, Frieden, Sicherheit» einstimmig an. Dadurch wurde zum ersten Mal auf höchster Stufe der internationalen Sicherheits­politik anerkannt, dass das Geschlecht besonders berücksichtigt werden soll, um Konflikte zu bewältigen und ihnen vorzubeugen. Es war das Verdienst von jahre­langem Lobbying von feministischen Friedens­aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen, insbesondere aus dem globalen Süden.

Doch kurz darauf wurde mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und dem «Krieg gegen Terror» die globale Sicherheits­agenda umgewälzt und die Resolution 1325 davon eingeholt. 2015 vollzog sich eine Vermählung zwischen Terrorismus­bekämpfung und sogenannter Frauen­bestärkung. Die Uno ruft seither dazu auf, dass Frauen in die «Extremismus-Prävention» einbezogen werden und in ihr mitwirken sollen. Dadurch wurde nicht nur eine ursprüngliche Friedens­bestrebung militarisiert. Vielmehr besteht die Gefahr, dass nun auch die offizielle Terror­abwehr das traditionelle Frauen­bild verstärkt. Mit verheerenden Folgen.

Die gemeinsamen Recherchen der Plattform für Friedensförderung, der Friedensfrauen und des feministischen Friedens­diensts haben ergeben, dass Frauen in Präventions­programmen oft stereotype Rollen als passive und fried­liebende Wesen einnehmen sollen. Das zeigt sich vor allem in der verbreiteten Annahme, dass Frauen am besten zu Hause als Mütter zur Prävention beitragen könnten. So sind viele Programme entstanden, in denen Frauen als eingebettete Sicherheits­agentinnen in ihren Familien und Gemeinschaften helfen sollen, Radikalisierung frühzeitig zu erkennen.

Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Mütter­schulen, die von den Nicht­regierungs­organisationen «Women without Borders» und «Sisters Against Violent Extremism» entwickelt wurden. Die Idee: Mütter für Prävention zu schulen, weil sie wichtiges Wissen darüber haben, was einzelne Menschen für radikale Einflüsse anfällig macht, und weil sie Verhalten erklären können, das von aussen unverständlich erscheint.

Der viel beschworene Mutter­instinkt wird hier also zum Früh­warn­system. Damit wird die staatliche Verantwortung auf die Schultern der Mütter übertragen, häufig mit dem Effekt, dass sie stigmatisiert werden, wenn ihre Kinder sich «dennoch» radikalisieren.

Als mögliche Täterinnen werden Frauen entsprechend auch in der Politik nach wie vor übersehen. Weder die Uno noch die Mehrheit der Staaten betreiben «Extremismus-Prävention» mit einem Fokus auf die Rehabilitation und die Reintegration Betroffener – von einem Augen­merk auf Frauen ganz zu schweigen. Das hat zur Folge, dass die Beweg­gründe von Frauen, sich nicht­staatlichen bewaffneten Gruppen anzuschliessen, noch immer nicht verstanden und berücksichtigt werden. Für eine Politik, die behauptet, die Ursache des Problems bekämpfen und den Gewalt­zyklus beenden zu wollen, wäre das aber unabdingbar.

«Was erwarten Sie von so einer Frau?»

Wieso also schliessen sich Frauen bewaffneten Bewegungen an?

Zu den Gründen gehören – wie bei Männern auch – sozio­ökonomische Sorgen, aber auch Trauer und Groll, wenn der Staat einem geliebten Menschen Gewalt angetan hat. In Kenia erklärt Salma Hemed, stellvertretende Direktorin der Menschen­rechts­organisation Haki Africa, warum Frauen sich als Reaktion freiwillig der Al-Shabaab-Miliz anschliessen: «Wenn ein Mann getötet wird und eine Ehefrau mit Kindern zurück­lässt, tut die Regierung nicht das Mindeste, um dieser Frau zu helfen. Sie wird mit ihren Kindern, die versorgt werden müssen, allein­gelassen. Sie findet keine Arbeit, da niemand sie einstellen will. Was erwarten Sie von so einer Frau?»

Auch ökonomische Anreize können eine Rolle spielen, besonders dann, wenn Frauen ohnehin schon zu einer Gruppe gehören, die politisch und wirtschaftlich marginalisiert ist. Bei Boko Haram war dies ein Grund, warum mehrere ursprünglich entführte Frauen nicht mehr nach Hause wollten oder selbst nach einem Deradikalisierungs­programm wieder zu ihren Entführern bei Boko Haram zurück­kehrten. Die BBC berichtete über einen solchen Fall, wo die mittler­weile 25-jährige Frau davon schwärmte, wie gut ihr neuer Ehemann sie behandle, mit wie vielen Geschenken er sie überhäufe und dass sie über 30 versklavte Frauen unter sich habe.

Teil einer gewalttätigen nicht­staatlichen Gruppe zu werden, kann tatsächlich ein Aufstieg für Frauen bedeuten, die bis anhin wenig Macht und Handlungs­spielraum hatten. Wenn sie dazu noch unterdrückt werden und womöglich Opfer von sexualisierter oder häuslicher Gewalt sind, kann der Anschluss ein Ausweg sein – oder zumindest als solcher erscheinen.

Die neueste umfängliche Studie zu Frauen und Extremismus, die vom «International Civil Society Action Network» gemeinsam mit dem Entwicklungs­programm der Uno durchgeführt wurde, zeigt, dass Gewalt gegen Frauen auch in Europa zur Radikalisierung beitragen kann. Das gilt insbesondere auch für Musliminnen, die zusätzlich von anti­muslimischem Rassismus betroffen sind. Für manche stellt sich der Ausweg als Illusion heraus. Für andere, wie die Frauen von Boko-Haram-Kommandanten oder jene, die in der Moral­polizei des IS dienten, waren die Anerkennung und der Komfort durchaus real.

Ein sicherheits­politischer Trugschluss

Eine Politik, die vorgibt, Frauen in der Gewalt­prävention zu berücksichtigen, müsste diese Gründe mitdenken. Frauen müssten als handelnde Subjekte und nicht ausschliesslich als Opfer betrachtet werden. Denn nur wenn wir die Beweg­gründe verstehen, können wir von der Symptom- zur Wurzel­behandlung schwenken. Das wäre fundamental, um alle Frauen zu schützen und weiterer Radikalisierung vorzubeugen.

Zurzeit halten sich rund 2000 ausländische Frauen und Kinder, die mit dem IS in Verbindung standen, in Flüchtlings­lagern im kurdisch kontrollierten Norden Syriens auf. In einem solchen Lager befindet sich auch die eingangs erwähnte Genferin. Andere Fälle zeigen, dass die Frauen und ihre Kinder grossen Risiken ausgesetzt sind.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in Mosul im Irak berichten beispiels­weise, dass Familien, die mit dem IS assoziiert werden, in Internierungs­lagern untergebracht sind. Bei den meisten gibt es kein männliches Oberhaupt mehr, sodass bei den regelmässigen Polizei­durchsuchungen die jungen Söhne den Hass zu spüren bekommen. Die Frauen gelten zudem als sexuell freizügig, weil sie die gesellschaftlichen Regeln gebrochen haben, und werden oft Opfer von sexualisierter Gewalt.

Es ist bekannt, dass Gefängnisse und Gefangenen­lager massgeblich zur Radikalisierung beitragen. Dasselbe droht nun diesen zurück­gelassenen Frauen. Rückkehr ins Heimat­land und Reintegration wären der Schlüssel zur Deeskalation. Stattdessen haben die Länder in Europa die Präventions­politik zu einem Wettbewerb der schnelleren Ausbürgerung gemacht.

Das ist nicht nur staats­politisch ein Problem, weil der Schutz der Bevölkerung über die Menschen­rechte der Betroffenen gestellt wird. Denn die Staats­bürgerschaft ist kein Privileg, das zur Bestrafung entzogen werden kann, sondern ein Recht, das auch jenen zusteht, die sich etwa dem IS angeschlossen haben.

Die rasche Ausbürgerung ist auch aus sicherheits­politischer Perspektive ein Trug­schluss. In Wahrheit führt diese Taktik dazu, dass sich die Mehrzahl der Frauen in einer juristischen Grauzone befindet und trotz zweiter Staats­angehörigkeit de facto staatenlos wird. Ist erst einmal die Staats­bürgerschaft entzogen, läge die Verantwortung eigentlich beim anderen Staat. Dieser kann sich aber der Aufgabe entziehen, indem er sagt, die Frau habe sich am ehemaligen Wohnort radikalisiert.

Wenn «Extremistinnen» von keinem Staat akzeptiert werden, bleiben sie in Gemeinschaften zurück, die sie aufgrund des Terrors, dem sie sich angeschlossen haben, zutiefst missachten. Ein Umfeld, das schwer zur Deradikalisierung beitragen wird.

In so einem Umfeld stecken Frauen aber auch fest, weil sie fürchten, von ihren Kindern getrennt zu werden. Staaten entziehen Doppel­bürgerinnen zwar die Staats­bürgerschaft, bemühen sich aber oft darum, ihre Kinder zurück­zuholen. Das trägt dazu bei, dass Frauen es bevorzugen, unerkannt zu bleiben. Ausserdem ist es schwierig, die nötigen Papiere für Kinder zu besorgen, die in Konflikt­gebieten geboren wurden. Im ehemals vom IS kontrollierten Gebiet kamen mindestens 730 Kinder zur Welt. Dadurch wird sowohl die Rück­reise wie auch die Identifizierung bei der Grenz­überschreitung erschwert. Grossbritannien führte deshalb sogar DNA-Tests an Babys von Rückkehrenden aus.

Aus diesen Gründen kehrt der Grossteil der Frauen nicht in ihre Heimat­länder zurück. So waren zum Beispiel nur 7 der 133 Rückkehrenden nach Kosovo Frauen. Insgesamt kehren 20 Prozent der Männer zurück, die nach Syrien und in den Irak gereist sind. Unter den Frauen tun dies nur 5 Prozent. Die Mehrheit bleibt an Orten, wo sie mit Gewalt konfrontiert ist, was die Radikalisierung fördern kann. Es wäre falsch zu glauben, das Problem bleibe fern, nur weil die Frauen dank der Ausbürgerung geografisch fern bleiben.

Derzeit gibt es noch keine Präventions­strategie, die auch die 13 Prozent Frauen berücksichtigt, die aus Europa zum IS reisten. Vielmehr gibt es die Leugnung eines Problems. Eine angemessene geschlechter­spezifische Sicherheits­politik muss Frauen sowohl als Täterinnen wie auch als Rück­kehrerinnen mitdenken. Und nicht nur in jener Form, in der sie dem traditionellen Rollen­bild entsprechen. Nur so gewähren wir Sicherheit vor und für alle Frauen. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, dass das Schweizer Aussen­departement Frauen in Präventions­bemühungen auch als Täterinnen erwähnt.

Dabei darf es aber nicht bleiben. In ganz Europa sind auch innen­politische Bemühungen zur Rück­kehr und zur Reintegration nötig. Zur Not kann dieser politische Wandel gutschweizerisch ablaufen wie die entzogene Staats­bürgerschaft: historisch und doch unspektakulär.