Selbst wer mit dem Teufel tanzt, hat das Recht auf Rechte
Die Ausbürgerung eines islamistischen Schweizer Terrorhelfers ist falsch, feige und nutzlos.
Ein Kommentar von Carlos Hanimann, 04.10.2019
Es gehört offenbar zu den Eigenheiten der schweizerischen Politik, dass die krassesten Skandale nur im Flüsterton erzählt werden. Dabei geht es um ein beispielloses Ereignis.
Mitte September hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) verlauten lassen, dass es zum ersten Mal überhaupt einem Doppelbürger die Schweizer Staatsbürgerschaft entziehe.
Zur Anziehungskraft des Jihadismus
Warum werden so viele junge Europäer zu Jihadisten? Ein aktuelles Buch beleuchtet die Ursachen, die ebenso viel mit der westlichen Gesellschaft wie mit dem Islam zu tun haben: Warum junge Europäer in den Heiligen Krieg ziehen.
Der schweizerisch-türkische Doppelbürger Ümit Y. war Anfang 2017 bei einer Anti-Terror-Razzia im Tessin festgenommen und bald darauf im abgekürzten Verfahren vom Bundesstrafgericht in Bellinzona wegen Verstössen gegen das IS-al-Qaida-Gesetz zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Weil er sich geständig und reuig gab, musste er nur sechs Monate in Haft; der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Der heute 34-Jährige ist in der Türkei geboren und in der Gegend um Lugano aufgewachsen. Er soll ein talentierter Tischtennisspieler gewesen sein, ehe er sich radikalisierte und begann, Propaganda für eine islamistische Terrororganisation zu verbreiten. Laut Medienberichten unterhielt er enge Verbindungen zu Jihadisten in Italien. Er half zwei Personen, ins Kriegsgebiet in Syrien zu reisen.
Jetzt soll er nicht mehr Schweizer sein. Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig, der Betroffene kann den Beschluss bis Mitte Oktober ans Bundesverwaltungsgericht weiterziehen. Doch die Grundsatzfragen sind gestellt: Hat Ümit Y. als verurteilter Terrorhelfer sein Recht auf einen Schweizer Pass verspielt?
Darf ein Staat seine Bürgerinnen ausbürgern? Nur Jihadisten? Oder auch rechtsextreme Terroristen? Wann? Mit welchem Ziel? Und zu welchem Preis?
Die Behörden betreten Neuland
Die Grundlage für den Entzug des Bürgerrechts stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als der Bundesrat unter Anwendung von extrakonstitutionellem Staatsnotrecht als Vollmachtenregime regierte. 1940 schuf die Regierung eine Sondergesetzgebung für Doppelbürger, die von da an ausgebürgert werden konnten, wenn sie «den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich» schadeten. Die Formulierung hat sich bis heute kaum verändert.
86 Personen wurde damals das Bürgerrecht entzogen, den meisten, weil sie sich nationalsozialistischen Gruppierungen angeschlossen hatten.
Nach dem Krieg und dem Ende des Vollmachtenregimes floss die Ausbürgerungsbestimmung unverändert in die Regelgesetzgebung. Und geriet in Vergessenheit: Der Gesetzesartikel wurde seit seiner Inkraftsetzung im Jahr 1953 nie angewandt – bis ihn ein paar findige Beamte bei der Migrationsbehörde SEM und dem Geheimdienst NDB hervorkramten und Ende 2015 als wirksame Massnahme im Kampf gegen islamistischen Terrorismus anpriesen.
Der Passentzug löste ein Dilemma: Geheimdienst und Migrationsbehörde fürchteten, die sogenannten Schweizer Jihadreisenden könnten eine Gefahr für die Sicherheit in der Schweiz darstellen, wenn sie dereinst aus dem Kriegsgebiet in Syrien zurückkehren würden. Denn die Behörden durften ihnen – Schweizer Bürgern – die Einreise nicht verwehren. Anders nach einem Passentzug: Dann könnten die Jihadrückkehrer mit einer Einreisesperre belegt werden. Damit liesse sich «die von ihnen ausgehende direkte Bedrohung für die Schweiz fernhalten», liess die Anti-Terror-Taskforce Tetra Ende 2015 verlauten.
Die Massnahme ist zwar nur beschränkt anwendbar: Der Passentzug ist nur bei Doppelbürgern möglich (bei 18 von 92 Jihadreisenden). Und ihre Wirksamkeit ist fragwürdig: Eine Einreisesperre allein verhindert noch keinen Anschlag. Doch die Behörden wollen trotzdem Neuland betreten.
Die Regel von rechts
Die Ausbürgerung von Ümit Y. ist bereits der zweite Testballon von Geheimdienst und Migrationsbehörde. Der erste platzte vor rund zwei Jahren.
Das Staatssekretariat für Migration plante damals, dem schweizerisch-italienischen Doppelbürger Christian I. das Bürgerrecht zu entziehen, weil er sich in Syrien der Terrormiliz IS angeschlossen hatte. Als das SEM die Ausbürgerung einleitete, war der junge Winterthurer, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen war, aber wohl schon tot. Er sei im Kriegsgebiet gestorben, hiess es in Medienberichten.
Einen Toten ausbürgern, der nie vor einem Gericht gestanden hatte – das war den Behörden dann doch zu grotesk, zu perfid. Im Frühling 2017 sistierte das SEM das Ausbürgerungsverfahren gegen Christian I.
Jetzt also der zweite Anlauf.
Die Unterschiede sind offensichtlich: Im Gegensatz zu Christian I. lebt Ümit Y. und wurde rechtskräftig verurteilt. Er scheint alle formellen Bedingungen zu erfüllen, die seit dem letzten gescheiterten Versuch auf Verordnungsstufe präzisiert wurden. Wird Ümit Y. damit zum Präzedenzfall?
Das SEM scheint jedenfalls vorbereitet zu sein.
Schon jetzt zieht die Behörde bei einem weiteren Dutzend Doppelbürgern die Ausbürgerung in Betracht. Sie werden verdächtigt, sich im Ausland an Verbrechen beteiligt zu haben, die im Zusammenhang mit Terrorismus stehen. Beim Fall von Ümit Y. handelt es sich also nicht um einen besonders krassen Einzelfall. Der Entzug des Bürgerrechts für Doppelbürger soll vielmehr die Regel werden, so, wie es von rechts aussen gefordert wird.
Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung betroffen
In der Schweiz kann nur ausgebürgert werden, wer über einen zweiten Pass verfügt. Eine Bürgerin in die Staatenlosigkeit zu entlassen, wäre zwar möglich, würde aber internationalen Übereinkommen widersprechen.
Der Fokus auf Schweizer Doppelbürger bei der Terrorabwehr legt eine krasse Geringschätzung eines grundlegenden Prinzips des Rechtsstaats offen: dass alle Bürgerinnen und Bürger gleich seien.
Denn nichts anderes bedeutet die Möglichkeit, dass allein Doppelbürgerinnen ausgebürgert werden können: Wer über zwei Pässe verfügt, wer eine Mehrfachzugehörigkeit hat, eine Migrationsgeschichte kennt – der nehme sich in Acht. Für ihn gelten andere Regeln. Er gehört nicht recht dazu und wird nie dazugehören.
Einem Terroristen, dessen Familie schon seit Generationen nur den einen selben Fleck Erde kennt, wird die Schweiz niemals die Staatsbürgerschaft entziehen. Egal, wie viele Menschen er tötet. Egal, wie sehr «sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz» schadet, wie es im Bürgerrechtsgesetz heisst.
Heute ist jede dritte Ehe binational, ein Viertel der Schweizer haben eine zweite Staatsbürgerschaft. Es handelt sich nicht um die leidliche Ungleichbehandlung von letztlich marginalen Einzelfällen, sondern um die gesetzlich festgeschriebene Diskriminierung von mindestens einem Viertel der Schweizer.
Der Entzug der Staatsbürgerschaft als Anti-Terror-Massnahme ist also ein völlig verkehrter Ansatz, zumal man versucht, die vermeintliche Unzulänglichkeit einer allzu milden Strafe mit einer verwaltungsrechtlichen Massnahme zu beheben.
Selbst wenn im Fall Ümit Y. die rechtlichen Formalitäten des Bürgerrechtsgesetzes erfüllt sein sollten, bleibt es doch falsch, feige und nutzlos, einem Bürger die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Die Ausbürgerung ist falsch, weil sie einen unverhältnismässig krassen Eingriff in die Identität eines Menschen darstellt. Die Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, sondern ein Recht: das Recht auf Rechte.
Die Ausbürgerung ist feige, weil sie das Problem Terrorismus nicht selber angeht, sondern an einen anderen Staat abschiebt.
Die Ausbürgerung ist nutzlos, weil sie im Kampf gegen den Terror nichts bringt. Der Staat entlässt damit seine Bürger aus ihrem Einfluss- und Kontrollbereich – und treibt sie in internationale Netzwerke von Terroristen, wie verschiedene Untersuchungen zeigen.
Der Entzug der Staatsbürgerschaft als Anti-Terror-Massnahme – das erinnert weniger an einen modernen Rechtsstaat als vielmehr an die mittelalterliche Methode der Verbannung. Umso schändlicher ist es, dass die erste Ausbürgerung eines Doppelbürgers überhaupt so leise erfolgt – fast ohne Aufschrei und Widerspruch.
Denn das macht den Rechtsstaat ja gerade aus: Selbst wer mit dem Teufel tanzt, darf das grundlegendste aller Rechte nicht verlieren – die Staatsbürgerschaft. Oder eben: das Recht auf Rechte.