iLand – warum wir uns nach einsamen Inseln sehnen
Ein Mensch, für sich ganz allein: Dieser Mythos prägt die Literatur, die Kunst, den Tourismus – und war doch immer eine Illusion. Eine kleine Kulturgeschichte der Inselsehnsucht. Von den alten Ägyptern über Robinson Crusoe bis zu den Selfietrips auf Bali. Auf Inseln, Folge 8.
Von Volkmar Billig, 05.08.2020
Es war einer der positiven Nebeneffekte des Lockdown: Für einige Wochen tauchten plötzlich jene einsamen Inseln wieder auf, von denen die Romantiker der letzten 250 Jahre schwärmten und die in Zeiten des Massentourismus längst passé schienen. Selbst auf der Ostseeinsel Rügen – wo ich als Kulturwissenschaftler und Buchhändler lebe – war dies zu spüren. Oft genug kam es mir bei meinen Spaziergängen so vor, als wäre ich der einzige Mensch weit und breit, der sich an dem phänomenalen Frühling erfreute: an den entlang der Steilküste wuchernden Buschwindröschen, Leberblümchen und Knabenkräutern, den erwachenden Hummeln und Unken und dem gleichförmigen Rauschen der Wellen, die in hundert Metern Tiefe an die Kreidefelsen schlugen.
Ein Vierteljahr später kommt mir dieser Frühling beinahe wie eine poetische Idylle oder beiläufige Träumerei vor. Mit der Öffnung der Insel für die lauernden Urlauberinnen am 25. Mai hat sich der Eindruck romantischer Natureinsamkeit in sein Gegenteil verkehrt und ist einer (scheinbar end- und uferlosen) touristischen Hochsaison gewichen, unter Beteiligung auch all jener, die unter anderen Umständen ihre Erholung auf Kreta oder Bali, auf den Kanaren oder in der Karibik gesucht hätten.
Volkmar Billig, geboren 1963, studierte an der Humboldt-Universität sowie Freien Universität Berlin Kulturwissenschaften, Religionswissenschaft und Philosophie. Er promovierte über die Inselfaszination der literarischen und künstlerischen Moderne. Daraus ging auch sein Sachbuch «Inseln. Geschichte einer Faszination» hervor. Billig war als Kurator, Redakteur und Dozent für verschiedene Museen, Zeitschriften, Verlage und Institutionen tätig. Seit 2015 lebt er auf Rügen, wo er eine Buchhandlung führt, die auf Inseln, Meer und Seefahrt spezialisiert ist.
Bei genauerer Betrachtung trifft jedoch gerade dieses abrupte Umschalten zwischen touristischem und Lockdown-Modus den Kern der Inselthematik: Denn tatsächlich sind Inseln ja durch die Art und Weise ihrer partiellen «Öffnung» und «Schliessung» definiert, will heissen: durch die Entrückung vom Festland und somit durch eingeschränkte Erreichbarkeit.
Zumindest in vormodernen Zeiten waren die Konsequenzen beträchtlich: Um sie zu betreten und zu erkunden, bedurfte es zunächst einmal eines tauglichen Bootes, nautischer Kenntnisse und einer gehörigen Portion Abenteuerlust. War die betreffende Insel vom Festland aus nicht zu erkennen und lagen nur zweifelhafte Berichte über sie vor, musste sie überhaupt erst entdeckt werden – oder wiederentdeckt. Aber auch bekannte und kartografisch fixierte Inseln bleiben mit einer gewissen Unsicherheit behaftet: Immerhin können sie sich unbemerkt verwandeln, Naturereignisse, Umweltkatastrophen oder eintreffende Kolonisten können sie umformen, selbst ihr Untergang im Meer ist nicht auszuschliessen. Die Inselliteratur kennt einige prominente Beispiele dafür, die Suche nach dem vermeintlich «versunkenen Atlantis» bewegt die Menschen, auch 2500 Jahre nachdem Platon darüber geschrieben hat.
Kommt zu diesem ohnehin unsicheren Status noch hinzu: Wenn ein einziger Überlebender oder Entdecker für den Wahrheitsgehalt des Gesehenen bürgt, ist die Grenze zwischen einem authentischen Bericht und Fantasterei oft fliessend. Schon Homer hat seinem Helden Odysseus neben weiteren Talenten auch die Begabung attestiert, «der Wahrheit ähnliche Lügen» zu erzählen. Und je entlegener die Inseln sind und je schwerer der Wahrheitsgehalt der über sie geführten Reden nachzuprüfen ist, desto mehr eignen sie sich für allerlei Projektionen.
Und heute?
Die Faszination ist ungebrochen
Zwar haben Pandemie und Reisewarnungen manches Urlaubsziel wieder ein wenig entrückt. Doch zumindest auf den erreichbaren Urlaubsinseln ist vom entlegenen und unsicheren Status derselben nicht viel zu spüren.
Der Rest von «Inselgefühl» verdankt sich weniger einer sinnlichen Naturerfahrung als den Slogans der touristischen Werbeindustrie, die unermüdlich ein Inselglück à la Capri-Fischer beschwört – er wird, mit anderen Worten, zum blossen Zitat. Im konkreten Fall Rügens vervollständigen den romantischen Inseltraum die von Caspar David Friedrichs Pinsel geweihten «Kreidefelsen» und der in zig Varianten verkochte, verflüssigte und destillierte Sanddorn (der hierfür aus Brandenburg, Polen oder China importiert wird, wenn man sich die Mühe macht, das Kleingedruckte zu lesen).
Trotzdem zeugt der mit solchen Souvenirs und Zitaten erzielte Kassenerfolg davon, dass das derart beschworene Inselglück immer noch eine offenkundige Sehnsucht bedient; auch zwei Jahrhunderte nach den romantischen Inselwanderern.
Als Buchhändler wundere ich mich im Übrigen jedes Jahr von Neuem, wie viel Inselemotion literarisch reproduziert werden kann, ohne dass das Publikum sich übersättigt abwendet und davonläuft. Ganz im Gegenteil scheint der Bedarf an Inselabenteuern, idyllischen «Inselcafés» wie auch an Inselmorden und Inselhorror gerade weiter zu steigen. Wobei der Sehnsuchtsort keineswegs auf unterhaltsame Strandkorblektüre beschränkt bleibt. Auch literarische Grossmeisterinnen vom Rang eines Michel Houellebecq oder Jean-Marie Gustave Le Clézio, einer Yoko Tawada oder Hanya Yanagihara haben sich in den letzten Jahrzehnten auf das Inselthema kapriziert und diesem sogar neue und erregende Facetten abgewonnen – allen längst etablierten Motiven zum Trotz. Ganz davon abgesehen, dass es kaum einen literarischen Klassiker zum Thema gibt, der in den letzten zehn Jahren keine Neuauflage bzw. Neuübersetzung erlebt hat.
Worin also wurzelt diese anhaltende Inselfaszination? Wie kommt es, dass sie noch immer ihren Schatten von der Literatur über Musik und Film bis zu den touristischen Angeboten wirft? Dass sie bis heute und womöglich mehr denn je zuvor kultiviert wird?
Der paradiesische Garten
Mit dem einsamen Erlebnis einer idyllischen Natur hat die Faszination ja offenbar wenig zu tun – schon deswegen, weil dafür angesichts der allgegenwärtigen Touristenscharen de facto gar kein Raum bleibt. Und für solchen Naturgenuss braucht es ja im Grunde auch keine Insellandschaft, sondern weit eher die Abschottung von genau jenen Menschenströmen, die die bekannten und besungenen Urlaubsinseln allsommerlich strapazieren. Bemerkenswerterweise beschworen schon die antiken Bukoliker weniger die Inseln an sich, sondern vielmehr «anmutige Orte»: Orte, die meist in einem entrückten Bergtal lagen (und zu denen in aller Regel eine Wiese, ein Schatten spendender Baum, ein rauschender Wasserfall, zwitschernde Vögel und summende Bienen gehörten). Und das galt, obwohl die prominentesten dieser Autoren – Theokrit und Moschos – auf Sizilien gebürtige Insulaner waren.
Dennoch zeichnet sich im historischen Rückblick manche subtile Verbindung zwischen ihrer idyllischen Lyrik und der literarischen Inselfaszination ab: indem sie nämlich gerade in den Landschaftsbeschreibungen der «Odyssee», etwa des königlichen Gartens am Hofe der Phäaken, ein nachwirkendes Vorbild für ihre Visionen «anmutiger Orte» fanden. Dieser idyllische Aspekt der Inselsehnsucht, der schon in der «Odyssee» greifbar ist und bis in die Romantik und Moderne nachwirkt, ist eine literarische Liaison: Hier wie in zahlreichen antiken und altorientalischen Texten bis hin zum Alten Testament verbinden sich Insellegenden mit dem Konzept des paradiesischen Gartens.
Auf Inseln
Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».
Folge 2
Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder
Folge 3
Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord
Folge 4
Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle
Folge 5
Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung verschmelzen
Folge 6
Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen
Folge 7
Hongkong, China: Im Auge des Wirbelsturms
Sie lesen: Folge 8
Kulturgeschichte: Der Mythos der «einsamen» Insel
Folge 9
Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut
Bonus-Folge
Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Kapitalismus
Die Romantiker seit Rousseau haben dieses ideelle Wechselspiel wiederentdeckt und damit auch sich selbst: als potenzielle Paradiesgärtner. Dabei haben sie Inseln und Gärten zugleich zu Projektionsflächen ihrer Vorstellung einer «ursprünglichen Natur» gemacht (und liessen sich auch nicht dadurch beirren, dass es sich wenigstens beim Garten um eine exemplarische Kulturlandschaft handelt).
Selbst die um 1800 publizierten Abhandlungen über Theorie und Praxis der Gartenkunst kommen mit Vorliebe auf den Vergleich von Landschaftsgärten und Inselnatur zurück und illustrieren diesen mit Berichten über Reisen zu pazifischen, atlantischen und mediterranen Inseln. In seiner damals bahnbrechenden «Theorie der Gartenkunst» (1779) verweist Christian Cay Lorenz Hirschfeld unter anderem auf die Insellandschaften von Tahiti, die pazifischen Inseln Juan Fernández, Middelburg und Rotterdam, den Golf von Neapel, die Liparischen Inseln sowie die Balearen und Kanaren. Und er hebt nicht zuletzt die «merkwürdige Erscheinung» hervor, wonach «die Anpflanzungen, die Cook auf seiner neuesten Reise bey uncultivierten Nationen entdeckte, ... der englischen Manier, wovon diese Insulaner nie etwas gehört hatten, gleichwohl in einigen Theilen nahe kamen».
Doch das ist nur eines der gedanklichen Konstrukte, die der modernen Inselsehnsucht seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zugespielt haben.
Zur romantischen Adaption eines insularen Naturidylls gehört auch die Vorstellung eines empfindsamen und schöpferischen Individuums, das in dieser «einsamen Natur» lustwandelt – und sich dabei im besten Fall für schöpferische Werke inspiriert. Die assoziative Verknüpfung zwischen einsamem Ich und einsamer Insel, die «robinsonadische» Lesart von Inseln also, ist uns heute so unmittelbar vertraut, dass sie geradezu als Grundzutat jeder Inselsehnsucht erscheint.
Dabei haben wir längst vergessen, wie trügerisch diese Selbstverständlichkeit ist: In der antiken, mittelalterlichen oder auch frühneuzeitlichen Überlieferung wird man den Typus des einsamen Inselhelden nur schwerlich finden. Die Inseln, die Odysseus und andere Helden der antiken Literatur bereisen, sind durchweg von Halbgöttern oder Menschen bevölkert. Selbst die Hirten der Idyllen und Eklogen griechischer und römischer Lyriker suchen mitnichten die Einsamkeit, sondern im Gegenteil die Gesellschaft anderer Hirten, mit denen sie sich zum poetischen und musikalischen Wettbewerb zusammenfinden, bei dem sie die «anmutigen Orte» um sie herum besingen und bemüht sind, sich dabei gegenseitig zu übertreffen.
Das private «Ich-Land»
Eine Verknüpfung von poetischer Inselfantasie und touristischem Verlangen, wie sie dem modernen Urlaubsbetrieb zugrunde liegt, ist der Antike und selbst der frühen Neuzeit vollkommen fremd geblieben. Obwohl Inseln schon seit Beginn der literarischen Überlieferung ein bevorzugtes Sujet darstellen und obwohl Bildungs- und Urlaubsreisen auch in der römischen Antike durchaus populär waren, ist doch keine vormoderne Dichterin, kein Künstler oder Philosoph auf die Idee gekommen, auf eine Insel zu reisen, um sich dort für eigene Werke zu inspirieren – wie es in den letzten 250 Jahren gang und gäbe ist und wie es etwa Rousseau auf der Petersinsel im Bielersee, Goethe auf Sizilien und Nietzsche auf Ischia praktiziert haben (von Stevenson, Chamisso, Gauguin und unzähligen anderen Südseereisenden ganz zu schweigen).
Die moderne Vorstellung insularer Einsamkeit schliesst also weniger an den Typus des Inselabenteurers à la Odysseus an; sondern viel eher an ein Motiv, das in zahlreichen Schöpfungsmythen eine Rolle spielt: die Idee einer ursprünglichen Landschaft. In der altägyptischen Vorstellung etwa blüht aus dem «Meer des Nichts» eine erste Insel in Gestalt einer Lotosblüte auf, der auch der jugendliche Sonnengott entsteigt. Die grossen Städte des Alten Ägypten stritten sich geradezu um die Ehre, auf dem Boden dieser ersten Insel zu stehen, wo die Sonne im Moment des Weltanfangs aus dem Nichts gestiegen war. Ähnliche Erzählungen finden sich in babylonischen und indischen Texten oder in den orphischen Rhapsodien der Griechen. Die mythische Vorstellung von der «Sonneninsel» wirkt noch in der europäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts nach: Gerade die europäischen Aufklärer und Humanisten haben diese Zusammenführung von entrückter Insel, Licht der Aufklärung und machtvollem Subjekt in zahllosen Varianten ausbuchstabiert.
Man könnte etwas vereinfacht sagen, dass Daniel Defoe in seinem 1719 erschienenen «Robinson» eine populäre Summe daraus zieht: Der mit allem intellektuellen und technischen Know-how der europäischen Hochkultur ausgestattete Romanheld beackert die Insel, an der er gestrandet ist, so lange, bis sie sich kaum mehr von einem bürgerlichen Haus mit Garten unterscheidet.
Eine Pointe der Geistesgeschichte: Als Resultat der aufgeklärten und humanistischen Diskurse der europäischen Neuzeit verschmelzen die Denkfiguren von Ich und Insel in der Vorstellung eines privaten «Ich-Landes» – das auf den Plan tretende moderne Subjekt masst sich von nun an höchstselbst die mythischen Kapazitäten der einstmals fernen und legendenumwobenen Inseln an.
Die späteren Leser des «Robinson», insbesondere die mit Rousseau auftretenden romantischen Interpreten, haben übrigens versucht, diesen durch und durch bürgerlichen Aspekt des Romans umzudeuten, und dabei entscheidende Details der Romanhandlung unterschlagen. Das gilt vor allem für die Tatsache, dass sich Defoes Held in seiner Ausrüstung kräftig aus der Schiffsladung bedient – und sich nicht zuletzt dadurch zum Beherrscher der Insel aufschwingen kann. Während Defoes Robinson selbst gern seinen christlichen Glauben als Kraftquell für seine insulare Selbstbehauptung beschwört, steht ihm unter der Hand ein wortwörtlicher Deus ex Machina zur Seite, der seinem Gottvertrauen und Selbstbewusstsein die logistischen Voraussetzungen zuliefert und ihm so die Alleinherrschaft über seine Insel garantiert.
Doch die robinsonadische Art der Selbstermächtigung hat ihre anfängliche Überzeugungskraft schnell eingebüsst – das ist spätestens mit dem Auftritt Jean-Jaques Rousseaus und der seit den 1770er-Jahren überbordenden Tahiti-Begeisterung deutlich. Die Gewissheit über das eigene «Ich-Land» scheint bereits wieder verloren und das moderne Subjekt stattdessen darauf verfallen, den eigenen Ursprung und «Naturzustand» auf nahen und fernen Inseln zu suchen – am liebsten gleich am anderen Ende der Welt. Allerdings entpuppt sich die romantische Neuinterpretation als verkappte Bestärkung des alten Modells vom selbstbewussten Subjekt. Denn der Mensch braucht von jetzt an keinerlei zivilisatorische Technik mehr – sondern nur noch die Insel selbst. Deren angeblich ursprüngliche «Natur» reicht ihm, um sich als ebenso inselhaftes Selbst zu konstituieren.
Der Preis dafür ist: Von jetzt an bedarf es der Begegnung mit der eigenen Natur, um sich «selbst zu finden». Als vermeintlicher Restbestand der ursprünglichen Natur stellt die Insel den perfekten Schauplatz bereit, den Menschen in Kontakt zu seinem eigenen ursprünglichen Wesen, seinen Gefühlen und innersten Wünschen zu bringen.
Wenn im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, nach den Südseereisen von Bougainville und Cook, die Tahiti-Begeisterung überbordet, ist das weitaus mehr als ein historisch beiläufiges Phänomen. So wie die europäischen «Entdecker», unter denen nicht wenige überzeugte Rousseauisten waren, ihre ganz eigene Vorstellung vom menschlichen Naturzustand auf die Südseeinsel getragen haben, liess sich bald in jeder Mittelmeer-, Ostsee- oder Garteninsel eine «Insel der Poesie» (Goethe), der «Musik» (Tieck), der «Fantasie» (Schelling) oder der «Vereinigung» (Jean Paul) entdecken. Und insbesondere in den allerorten entstehenden sogenannten «englischen» Gärten durfte eine Insel mit einem «Otaheitischen Teehaus» nicht fehlen.
Auch in Rousseaus autobiografischen Schriften, den «Bekenntnissen» und den «Träumereien eines einsamen Spaziergängers», gibt ein an sich zweifelndes und gelegentlich verzweifelndes Ich den Ton an, das in der Natureinsamkeit (etwa der Petersinsel) einen Ausweg aus der zivilisatorischen Degeneration und eine verlorene Version seiner selbst sucht.
Träumerei mit Rousseau
Daraus ergeben sich zwei Varianten der romantischen Inselsehnsucht: Einerseits bedeutet die Idee der «Inseleinsamkeit» eine Rückkehr in eine naive Selbstgenügsamkeit, bei der die Insel die symbolische Rolle einer mütterlich-fürsorglichen Geliebten spielt. Andererseits entdecken Rousseau und seine Nachfolger die Insel als Schauplatz eines Zwiegesprächs: Als Medium der ursprünglichen Natur spricht die Insel nunmehr ihrerseits zum Menschen, und sie offenbart sich ihm vermittels der sich beim Aufenthalt auf ihr einstellenden «Rêverie» (also jener sublimen Träumerei, der Rousseau nicht nur selbst obsessiv verfallen ist, sondern mit der er auch die romantischen Seelen seiner Jünger heillos infiziert hat).
Dieser zweite Aspekt der romantischen Inselfaszination war ausgesprochen folgenreich. Nicht nur regte er den beginnenden Inseltourismus und zahlreiche weitere literarische «Bekenntnisse» an. Mit dem Stichwort «Träumerei» lieferte er dem romantischen Diskurs über Natur, Kreativität und eine autonome Kunst auch einen lange nachwirkenden Schlüsselbegriff.
Es ist ein Schweizer Ort, die Petersinsel im Bieler See, an dem Rousseau die Rêverie entdeckte. Diese wirkt bis heute fort. Sie klingt nach in den allgegenwärtigen Appellen des postindustriellen Kapitalismus, etwas «am eigenen Leib zu erleben», sich selbst zu verwirklichen sowie als «kreatives» Subjekt auszuzeichnen. Dass «einsame Träumerei» unter den Bedingungen des heutigen Massentourismus ein nicht weniger absurdes Begehren bezeichnet wie dazumal die romantische Vorstellung von Inseln und Gärten als Oasen einer «ursprünglichen Natur», wird bei solchen Anrufungen allzu gern vergessen. So wie es ja auch nicht eine Spur von «Individualität» hat, wenn in jeder Saison Tausende Touristinnen auf denselben Inseln dieselben Fotos und Selfies schiessen.
Eher also gibt es nach 200 Jahren Moderne und mehr als 100 Jahren Massentourismus gute Argumente, die letzten einsamen Inseln dieser Welt vor der Sehnsucht der darauf blickenden Menschen zu schützen. Die Aussicht von der Kreideküste Rügens wird auch dann noch so bezaubernd sein, wenn es keinen Menschen mehr gibt, der sich dorthin verirrt, sondern nur noch Hummeln und Singvögel. Und der sehnsüchtige Mensch ist wohl eher geeignet, die sich selbst genügende Naturschönheit durch sein Hinzutreten zu stören. Erst recht, wenn es sich nicht um einen einzelnen, sondern um Heerscharen seiner Spezies handelt.
Immer wieder inselreif
Was die romantische Inselsehnsucht auch gut zweihundert Jahre nach ihrer Erfindung am Leben hält, hat wohl weniger mit den Inseln selbst zu tun. Und viel damit, dass Sehnsucht – nicht anders als etwa erotisches Begehren, kulinarische Genüsse und körperliche Grenzerfahrungen – aus jenem «Stoff der Träume» gemacht ist, den die globale Wirtschaft für ihr eigenes Wachstum braucht und den sie daher mit immer neuen, immer wieder aufgeschobenen Heilsversprechen wachhält.
Das führt noch einmal zurück zur Literatur.
In den 1920er- und 1930er -Jahren etablierte sich die Filmindustrie und entdeckte die Inseln umgehend als Kulisse medialer Glücksfantasien. Unter ihrem Eindruck schrieb der argentinische Dichter Adolfo Bioy Casares 1940 seinen grossartigen Roman «Morels Erfindung», der die Inselnarrative der postmodernen Erlebnisindustrien bereits parabelhaft vorwegnimmt. Der Plot ist von atemberaubender Gegenwärtigkeit: Hinter Morels Erfindung verbirgt sich eine kinematografische Maschine, die auf einer einsamen Insel installiert ist. Sie sorgt für die Illusion einer zweiten, sich zyklisch wiederholenden Realität. Der Protagonist, Morel, hat es mithilfe einer raffiniert vorbereiteten Filmaufnahme (bei der die leibhaftigen Protagonisten allesamt ums Leben kamen) geschafft, die Landschaft der menschenleeren Insel mit einem dort abgedrehten Film zu «überspielen»: Für den hinzukommenden Betrachter ist der Film kaum von einem tatsächlichen Geschehen auf der Insel zu unterscheiden.
Was den Titelhelden zu diesem kinematografischen (und mörderischen) Projekt veranlasst hat? Mithilfe dieser medialen Inszenierung hat er sich die Sehnsucht nach der von ihm angebeteten Frau erfüllt, die ihn in seinem realen Leben abgewiesen hat. Der Film erzählt ihm und den zufälligen Besuchern der Insel also das Happy End, das im echten Leben ausgeblieben war. Die Insel, mit den modernen visuellen Medien zusammengekoppelt, zeigt sich als nahezu perfekte lllusionsmaschine. Sie spiegelt das Begehren derer, die auf sie gelangen, und spielt ihnen allein dadurch eine imaginäre Erfüllung desselben vor. Diese währt allerdings nur so lange, wie man noch «im Film» ist.
Danach lässt sie ein umso grösseres Verlangen zurück, das die Hoffnung auf noch exotischere Inselerlebnisse schürt.