Die Welt auf 562 Hektaren
Die Adriainsel Brijuni wurde vom Malariasumpf zum exklusiven Seebad, das Kaiser, Nobelpreisträger und Hollywoodstars verzauberte. Und schliesslich den alten Partisanen Tito, der dort Hof hielt. Auf Inseln, Folge 1.
Von Michael Rüegg, 11.07.2020
Ankunft, die erste: Österreich liegt am Meer
Die Überfahrt vom istrischen Festland hat nicht lange gedauert. Der venezianische Kirchturm der Ortschaft Fasana (heute kroatisch Fažana) ist noch immer gut sichtbar, als die Herren Frosch und Elsner aus Preussen im kleinen Hafen von Brioni Maggiore an Land gehen.
Auf der Insel, die viele meiden. Der Seuche wegen.
Das Jahr 1900 neigt sich dem Ende zu, als die beiden Ärzte Brioni besuchen. Sieben Jahre zuvor hatte Paul Kupelwieser, ein österreichischer Industriemanager im Ruhestand, fast den gesamten Archipel von einem in Triest wohnhaften Schweizer erstanden. Viel gaben die Inseln damals nicht her: einen alten Steinbruch und viel mediterranes Buschwerk.
Doch Kupelwieser hatte nicht nur Zeit und genügend Mittel, er hatte auch eine Vision: hier, «im Süden Österreichs», unweit des k. u. k. Kriegshafens Pola, eine exklusive Feriendestination aufzubauen – schliesslich führte eine neue Eisenbahnlinie von Wien direkt an die Südspitze Istriens.
Der Verwandlung Brionis in ein begehrtes Seebad stand jedoch ein winziges Problem im Weg: Mücken der Gattung Anopheles bevölkerten die Insel in weitaus grösserer Zahl als Kurgäste – und mit ihnen der Malariaerreger. Kupelwieser hatte Gerüchte über die Krankheit für übertrieben gehalten. Bis er sich anlässlich seines ersten Besuchs auf der frisch gekauften Insel ansteckte und nur knapp dem Tod entging.
Auf Inseln
Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».
Sie lesen: Folge 1
Brijuni, Kroatien: Die Welt auf 562 Hektaren
Folge 2
Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder
Folge 3
Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord
Folge 4
Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle
Folge 5
Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung verschmelzen
Folge 6
Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen
Folge 7
Hongkong, China: Im Auge des Wirbelsturms
Folge 8
Kulturgeschichte: Der Mythos der «einsamen» Insel
Folge 9
Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut
Bonus-Folge
Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Kapitalismus
Paul Kupelwieser machte vorwärts, liess roden, pflanzen, bauen. Doch die Gäste blieben aus. In der Zeitung las der Unternehmer einen Namen, der die mögliche Lösung seines Seuchenproblems versprach: Robert Koch. Ein deutscher Bakteriologe von Weltruhm, der nicht nur der Tuberkulose den Kampf angesagt hatte, sondern darauf erpicht war, in Italien die Malaria zu erforschen. Kupelwieser schrieb ihm, der Herr Professor möge doch Brioni als Ort für seine Forschung auswählen. Das Angebot kam wie gerufen, Koch entsandte zwei Mitarbeiter nach Istrien, ebenjenen Dr. Frosch und seinen Assistenten Dr. Elsner.
Kaum in Brioni angelangt, zapften die beiden den Gepäckträgern und dem Oberkellner Blut ab und gingen auf Mückenfang. Das Bild unter dem Mikroskop und die Untersuchung im Labor bestätigten die Vermutung: kein Zweifel, Malaria.
Von da an ging alles verhältnismässig schnell: Die damals spärliche Inselbevölkerung wurde mit Chinin behandelt, auf den Teichen brannte man einen Petrolfilm ab, um die Mückenlarven zu vernichten, Sümpfe wurden mit Schutt aus den alten Steinbrüchen trockengelegt. Und ein Jahr später war Brioni malariafrei.
Es dauerte nicht lange, und Kaiser, Königinnen, Fürstinnen, Künstler reisten auf die Insel – alles, was Rang und Namen hatte. Zeugnis davon liefert die regelmässig erscheinende «Insel-Zeitung», in der kein prominenter Name unerwähnt blieb. Kupelwieser hatte innerhalb weniger Jahre einen der begehrtesten Ferienorte Europas geschaffen. Einschliesslich des ersten beheizten Hallenbades im Mittelmeerraum.
Ankunft, die zweite: Der siegreiche Partisan
Das Jahr 1948. Der Mann an Bord des Bootes blickt mit seinen hellgrauen Augen auf fünf Nobelhotels im sezessionistischen Stil. Der einstige Besitzer Paul Kupelwieser und seine Erben hatten sie hier errichtet, doch geben sie nun ein trauriges Bild ab: Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs legten die westlichen Alliierten Teile davon in Schutt und Asche, weil die Deutschen hier auf Brioni U-Boot-Offiziere stationiert hatten, nachdem Italien kapituliert hatte, zu dem Brioni ab 1920 wie der Rest Istriens gehörte.
Doch selbst als dieses einst so berühmte Seebad in Trümmern lag, konnte die Insel ihren Reiz vor dem frisch eingetroffenen Gast nicht verbergen. Josip Broz, nom de guerre «Tito», musste in Brijuni (wie es auf Kroatisch heisst) etwas gesehen haben. Denn wenig später kam er wieder, um zu bleiben. Und wie Kupelwieser lockte auch Tito grosse Namen der Geschichte hierher.
Ankunft, die dritte: Bloss weg von der Pandemie
Anfang Juli des Jahres 2020. Der Dieselmotor der Fähre brummt beim Anlegen am Kai, dem Tor zum Nationalpark Brijuni. Genau an dieser Stelle fuhr einst das allererste mit Diesel betriebene Passagierschiff der Welt ein, bestellt und bezahlt von Paul Kupelwieser. Hinter uns auf dem Festland ragt seit Jahrhunderten der venezianische Kirchturm von Fažana in den Himmel, wie die Ortschaft nun heisst (obwohl sie wie die meisten in der Umgebung auch ihre italienische Bezeichnung nach wie vor führt.)
120 Jahre sind vergangen, seit Robert Kochs Mitarbeiter hier Mücken fingen. Und doch liest man den Namen des Nobelpreisträgers noch immer in den Zeitungen. Anders als vor 120 Jahren grassiert die aktuelle Seuche auf dem gesamten Erdball. Das hält die Hotelgäste auf Brijuni keinesfalls davon ab, das Coronavirus als ein Festland-Phänomen zu betrachten. Während Hotels und Apartments entlang der Küste nicht einmal ein Drittel der üblichen Gäste empfangen, kann Brijuni nicht klagen: «Wir sind seit Beginn der Lockerungen gut gebucht», wird die Dame an der Hotelrezeption später berichten.
Seit Brijuni Anfang Juni wieder Buchungen entgegennimmt, suchen Menschen Zuflucht auf der Insel. Wie Tito damals, der hier dem lästigen Regieren entging. Kein Wunder, auf Brijuni steht man sich nicht gegenseitig auf den Füssen. Bloss 300 Betten zählt das Eiland heute. Weitaus weniger als in den goldenen Jahren, als der magische Name Brioni die Hautevolee Europas anlockte.
Bundesgartenschau im Mittelmeer
Veliki Brijun heisst sie, mit 562 Hektaren die grösste der insgesamt 14 Inseln des Archipels. Aus der Luft betrachtet sieht sie aus, als wäre sie von allen Seiten angeknabbert worden. Es wimmelt nur so von Buchten, eine jede anders als ihre Nachbarin.
Hier machte sich Paul Kupelwieser die Welt, wie sie ihm gefiel. Er liess Büsche roden und an ihre Stelle Rasen ausbringen, Wälder pflanzen, Alleen bauen und Gärten anlegen. Die österreichische Kriegsmarine transportierte für seinen Chefförster Alojz Čufar Samen von Bäumen und Sträuchern aus aller Welt. Daher hat die Flora Brijunis so gar nichts mit derjenigen anderer Adriainseln gemein. Sie ist ein Stadtpark mit Stränden, Bundesgartenschau mitten im Mittelmeer. Oder wie es in der mit EU-Fördergeldern neu kreierten Ausstellung im Bootshaus am Hafen heisst: «Brijuni ist die ganze Welt im Kleinen.»
Wenn Tagesgäste hier landen, können sie sich in eine Bimmelbahn setzen und auf einer mehrstündigen Rundfahrt die Highlights der Insel erklären lassen. Wer dem nicht viel abgewinnen kann, entdeckt Brijuni auf eigene Faust: mit überteuerten Mietvelos oder elektrischen Golfwagen. Mich führt mein Programm allerdings zunächst ins Inselmuseum, wo Chefguide Branka bereits wartet, eine freundliche Dame mit sehr gutem Deutsch.
Eine Stunde und gefühlte tausend Fotos von Tito später bricht ein Gewitter über uns herein. Es giesst in Strömen, man sucht Zuflucht auf der Terrasse des Hotels Neptun. Von diesen Hotels gab es zu Kupelwiesers Zeiten gleich mehrere, sodass sie nummeriert wurden. Neptun 1, 2, 3. Je höher die Ziffer, desto grösser der Luxus.
Pfauen wie Steine am Strand
Als der Regen aufhört, setze ich mich aufs Rad, die Luft fühlt sich an wie in den Tropen. Der Schauer stellt sich als Glücksfall heraus, denn nun ist die Inselfauna auf den Beinen. Der erste Pfau, der im omnipräsenten englischen Rasen herumpickt, erregt noch meine Aufmerksamkeit. Mit der Zeit nimmt der Reiz dieser Vögel ab, hier gibt es so viele davon wie anderswo Tauben.
Tiere sind auf Brijuni seit Generationen an Menschen gewöhnt. Das gilt auch für die Hirsche, die auf der gesamten Insel weiden. Und für die beiden Kaninchen, die auf dem Golfplatz seelenruhig an den Halmen knabbern, während zwei ältere Herren ein paar Meter weiter ihre Tees setzen, wie andere es hundert Jahre vor ihnen taten.
An keinem Ort auf der Welt habe ich je einen Golfplatz gesehen, der so wenig als solcher auffällt. Die gesamte Insel mit ihren Rasenflächen, Wäldchen und sanften Hügeln wirkt wie ein riesiger Country Club. Der Sport stellt übrigens die einzige reelle Gefahr auf Brijuni dar, vom Ertrinken im Meer mal abgesehen: Schilder warnen vor herumfliegenden Golfbällen. Was den Rest betrifft: Es gibt ausser für den Unterhalt und mit Ausnahme von Titos altem Cadillac (kann man für viel Geld mieten) keine Autos, keine kriminellen Banden, und auch die schwarze Zornnatter, die ich beinahe überfahren hätte, ist gemäss Internet nur dann zornig, wenn sie sich verteidigen muss. Brijuni ist wie Baldrian.
Stundenlang kann man auf der Insel gemächlich umherradeln, nur wenige kleine Steigungen verlangen etwas körperlichen Einsatz. Auf dem Weg begegnen mir Blumengärten, Ruinen einer römischen Villa und einer byzantinischen Siedlung, ein venezianisches Kastell, ein Steinbruch mit dem in Fels gehauenen Antlitz Robert Kochs, die letzte Ruhestätte von Kupelwiesers Gattin, ein 1600 Jahre alter Olivenbaum, der noch immer Früchte trägt. Und eine eingezäunte Anlage der kroatischen Armee.
Früher waren die Streitkräfte hier durchaus präsenter. Wer vor 1984 ohne Einladung Brijuni zu nahe kam, durfte davon ausgehen, erschossen zu werden.
Ein Bolschewik im Paradies
Das Foto mit Eleanor Roosevelt datiert vom Juli 1953. Tito hatte nach seinem ersten Besuch auf Brijuni die Insel wieder flottmachen lassen, mittlerweile verbrachte er bis zu sechs Monate im Jahr hier. Er hatte sich mit der «weissen Villa» ein mediterranes Gegenstück zu seinem weissen Palast in Belgrad bauen lassen. Keine zehn Jahre zuvor war er noch als Partisan durch bosnische Wälder gerobbt, nun führte er berühmte Gäste über seine Insel, etwa die Witwe Franklin D. Roosevelts, der während der Kriegsjahre Präsident der Vereinigten Staaten war.
Erst fünf Jahre zuvor, 1948, hatte Tito mit Stalin gebrochen. Tito und seine jugoslawischen Kommunisten strebten zwar durchaus nach der Revolution und sahen ihre Zukunft im Sozialismus – aber erstens nicht genau nach sowjetischem Muster, und zweitens (und das war der wichtigere Aspekt) waren sie nicht erpicht darauf, sich dem Diktat des Kreml zu unterwerfen. Es sei wichtig, befand Tito, «Herr im eigenen Haus zu bleiben».
Bis zu diesem Punkt in der Geschichte hatten kommunistische Bewegungen ihre Instruktionen aus Moskau bezogen. Dass Jugoslawien ausscherte und sich von der UdSSR emanzipierte, war das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs auf dem Westbalkan: Jugoslawien war eine junge Nation, erst 1920 unter der serbischen Königskrone gegründet, ein Flickwerk aus früheren Teilen des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns. Die jugoslawischen Kommunisten agierten wie vielerorts im Untergrund, als Moskau 1937 den neuen Sekretär der jugoslawischen KP bestimmte: Josip Broz, damals Mitte vierzig, aus dem ländlichen Kroatien stammend, Mutter Slowenin.
Broz hatte Schlosser gelernt, bei Benz & Cie. in Deutschland und bei Daimler in Österreich gearbeitet, auf österreichischer Seite im Ersten Weltkrieg gedient und war als Kriegsgefangener nach Russland gelangt. Dort wurde er Zeuge der Oktoberrevolution und schloss sich den Kommunisten an. Meist von Moskau aus, manchmal inkognito in Jugoslawien oder in Paris kümmerte er sich um die Belange der jugoslawischen Kommunisten, von denen nicht wenige im Gefängnis sassen.
Während Stalins Säuberungswelle blieb Broz, so gut es ging, unter dem Radar des Diktators. Zu oft musste er in Moskau mitansehen, wie seine Nachbarn im Hotel Lux inklusive Frauen und Kindern des Nachts abgeholt wurden und danach vom Erdboden verschwanden.
1941 marschierten die Deutschen in Serbien ein. Als das Naziregime auch die UdSSR angriff, kam für Tito die Stunde des Kampfes. Er stellte sich an die Spitze einer Partisanenarmee. Zeitgleich mit dem Weltkrieg brach damit ein jugoslawischer Bürgerkrieg aus, mehrheitlich zwischen der faschistischen kroatischen Ustascha, die auf der Seite der Deutschen stand, den königstreuen und mehrheitlich serbischen Tschetniks und den (zu Beginn noch schwachen) kommunistischen Partisanen. In Slowenien zog ausserdem eine klerikal gefärbte «Landwehr» auf deutscher Seite gegen die Bolschewiken in den Kampf. Feinde hatten die Partisanen damit genug, Freunde zu Beginn hingegen kaum.
Im Verlauf des Krieges wuchs Titos Partisanenarmee immer mehr zu einem ernst zu nehmenden Player heran, sodass auch die Alliierten sie nicht mehr ignorieren konnten. Während er bei Genosse Stalin mit seinen Bitten um Unterstützung auf Granit biss – dieser hatte mit der Ostfront seine eigenen Baustellen –, erhielt Tito von den Westmächten zwar zögerlich, aber zusehends mehr Hilfe. Gegen Kriegsende schwenkte der britische Premier Winston Churchill endgültig um: Er entzog dem unzuverlässigen serbischen Tschetnik-Anführer Draža Mihailović den Support und setzte fortan auf Tito und dessen Partisanen.
Diese Zusammenarbeit ihres jugoslawischen Parteisekretärs mit den «imperialistischen Mächten» war Moskau ein Dorn im Auge. Und besonders eines der verschlüsselten Telegramme aus Jugoslawien verzieh ihm Stalin nie, beim Lesen soll er vor Wut mit den Füssen gestampft haben. Tito schrieb: «Wenn Sie uns keine Hilfe anbieten können, dann behindern Sie uns wenigstens nicht.»
Jugoslawiens eigener Weg
Damit stand erstens Jugoslawien nach dem Krieg mit einer erprobten Armee da, die nicht die Rote war. Und zweitens hielt die Bevölkerung auch nach Titos Zerwürfnis mit Stalin zu ihrem Partisanenführer. Wobei man nicht unerwähnt lassen darf, dass sich Tito und seine Kameraden selber in bester stalinistischer Manier der moskautreuen Kräfte zu entledigen wussten – wie sie es bei Kriegsende auch mit verbliebenen Ustascha- und Tschetnik-Verbänden taten.
Man muss sich also einen Tito vorstellen, der 1948 bei seiner Ankunft auf Brijuni nach Jahren der Machtkämpfe und des Krieges wohl der Meinung war, etwas Erholung täte gut. Auf das Tagesgeschäft des Regierens hatte er sowieso wenig Lust, er herrschte lieber und behielt bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort. Ausserdem wurde ihm seine Bühne schnell einmal zu klein.
Diese konnte er nun nicht zuletzt dank Brijuni erweitern. Kommunist Tito öffnete mitten im Kalten Krieg nicht nur sein Land, sondern auch seine Insel. Zumindest für Persönlichkeiten, die er auf seiner Augenhöhe wähnte. So sass er nun bestens gelaunt mit Eleanor Roosevelt in der Pferdekutsche, während drüben in den USA Senator McCarthy Jagd auf kommunistische Elemente machte.
Stalins Leiche war noch beinahe warm in ihrem Grab, als Tito bereits wieder mit beiden Sphären des Kalten Krieges flirtete. Brijuni spielte eine grosse Rolle in seiner Aussenpolitik. Die Visite der früheren amerikanischen First Lady war nur eine von vielen, die Tito auf Brijuni zelebrierte. 90 führende Politiker und Staatsoberhäupter aus 60 Ländern hatten bis zu seinem Tod 1980 die Insel besucht, dazu zahlreiche Hollywoodstars. Tito war nämlich ein grosser Kinofan, an die Felswand im alten Steinbruch Brijunis liess er Filme projizieren – und er empfing Richard Burton, damit dieser sich auf seine Rolle in einem jugoslawischen Partisanenfilm vorbereiten konnte – jene des heroischen Marschalls Tito.
Das Obergeschoss des Inselmuseums auf Brijuni ist Tito und seinem Wirken auf der Insel gewidmet. Die Ausstellung zeichnet das heldenhafte Bild eines sympathischen Herrn: Tito bei der Mandarinenernte, Tito mit Willy Brandt, Tito mit dem indonesischen Präsidenten Soekarno, beim Fischen, Tito mit Elizabeth Taylor, mit Fidel Castro Zigarre rauchend, Tito im Motorboot mit Hồ Chí Minh, im Weinkeller, Tito in seinem Cadillac, einem Geschenk kroatischer Emigranten aus Kanada. Und Tito unter der lauschigen Laube der Nachbarinsel Vanga, seines privaten Refugiums. Etwas viel Propaganda? «Die Ausstellung», sagt Igor Duda, Professor für kroatische und jugoslawische Geschichte an der Universität Pula, «wurde bereits 1984 eröffnet, bevor die ersten Touristen auf die Insel gelassen wurden. Sie ist damit selber längst Geschichte.»
Etwa 15 Minuten dauert die Fahrt mit dem Schiff von Fažana nach Veliki Brijun, der Hauptinsel des Archipels. Auch von der Hafenstadt Pula, der grössten Stadt Istriens, gibt es Schifffahrten nach Brijuni. Vanga ist die Insel, die sich der legendäre jugoslawische Präsident Josip Broz Tito als privaten Rückzugsort gewählt hat. Ein Besuch dort ist möglich, aber nur mit einer Anmeldung, die 15 Tage zuvor erfolgt sein muss.
Unter der Laube auf Vanga sass Tito eines Abends im Jahr 1956 mit den beiden Staatschefs Ägyptens und Indiens, Nasser und Nehru. Dort beschlossen die drei Männer, die Bewegung der Blockfreien Staaten zu gründen, in der Jugoslawien während des Kalten Krieges eine führende Rolle übernahm. 120 Länder waren zur Spitzenzeit Mitglied der Bewegung, viele davon ehemalige europäische Kolonien.
Der Schlosser aus der Provinz, der unter einem Dutzend Decknamen im Untergrund agiert, Monate im Gefängnis und Jahre in den Wäldern Bosniens verbracht hatte, war zu einer Grösse in der Weltpolitik aufgestiegen. Das rechnet man ihm in Kroatien noch heute hoch an. «Wenn du morgen auf dem Markt hier in Pula 100 Leute nach ihrer Meinung fragst», sagt Historiker Duda, «werden dir wohl 80 sagen, dass Tito ein guter Staatschef war.» Und selbst der montenegrinische Kellner findet: «He was amazing.»
Die spätere Auflösung seines Bundesstaates vermochte Tito nicht aufzuhalten. An Zeugnissen aus seiner Zeit auf Brijuni fehlt es hingegen nicht. Einige davon sind quicklebendig und grasen friedlich auf der Wiese: vierbeinige Geschenke aus aller Welt, die auf der Insel eine neue Heimat gefunden haben.
Tito und die wilden Tiere
Der Staatslenker war zwar ein begeisterter Jäger und als solcher auch mal gekränkt, wenn andere die grössere Beute machten. Etwa als er mit dem rumänischen Diktator Ceaușescu in den Karpaten auf der Pirsch war und dieser sich erdreistete, den grösseren Bären abzuknallen als sein Staatsgast.
Er galt aber auch als Tierfreund, und das sprach sich in der Welt herum. Aus allerlei Erdteilen schickten Staaten Tiere als Geschenke nach Jugoslawien. Die meisten landeten auf Brijuni, wo bereits zu Kupelwiesers Zeiten der Hamburger Zoologe Carl Hagenbeck Tiergehege anlegen liess.
Heute stehen die Anlagen leer. Für damalige Verhältnisse, als man Tiere in Käfigen ausstellte, wirken die geräumigen Gräben an der Steilwand des Steinbruchs überraschend artgerecht. Die meisten übrig gebliebenen Wildtiere wurden nach Titos Ableben in den Zoo von Zagreb übergesiedelt. Einzig Elefant Lanka, ein Geschenk Indira Ghandis, verbringt ihren Lebensabend im «Safari-Park» an der Nordspitze Brijunis. Unweit ihres Geheges weiden Nachkommen früherer Präsente, afrikanische Zebras. Ausserdem Shetlandponys, die einst Königin Elisabeth II. kredenzte – während Ghadhafis Dromedare längst das Zeitliche gesegnet haben und zusammen mit Tiger, Leoparden, Giraffen und einer Auswahl heimischer Vogelarten ausgestopft im Erdgeschoss des Inselmuseums stehen. «Sind alle eines natürlichen Todes gestorben», versichert Guide Branka.
Lanka und die anderen heute noch lebenden Tiere werden die letzten Zeugen von Titos Sammelfreude sein. Denn Kroatiens Nationalparkgesetz verbietet heute die Ansiedlung von fremden Arten.
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Dreimal entging ich der Hitze mit einem Sprung ins Meer: neben dem alten Polofeld, das Kupelwiesers Sohn fast ruiniert hatte. Und mit dessen Hilfe der italienische Edel-Herrenausstatter Brioni nach dem Zusammenbruch Osteuropas den alten Luxus auf die Insel zurückholen wollte. Am Strand für Hotelgäste wurde ich Zeuge, wie eine Möwe einer Dame die Zigarettenschachtel klaute.
Und ich schwamm gegenüber der «weissen Villa», wo Tito auf Teppichen von Reza Schah Pahlewi Staatsbankette abhielt. Dort setzte Tito mit schweren Holzmöbeln und Brokattapeten seine Vorstellung von Komfort um, die bereits Winston Churchills Sohn Randolph verwundert hatte, als dieser während des Krieges Kontaktmann im Partisanenlager war. Über Titos Versteck in einer Höhle in Bosnien schrieb der Sohn 1944 an den Vater und Premierminister: «[Titos] Arbeitsraum ist ganz mit Fallschirmseide ausgeschlagen und ähnelt mehr dem Liebesnest einer Kurtisane als dem Quartier eines Partisanenführers.»
Angesichts dieser geschmacklichen Eigenheiten mag man sich nicht wundern, dass die kroatischen Präsidenten, denen die Villa nach 1990 als Ferienresidenz zur Verfügung stand, sich kaum je dort blicken liessen.
Zurück im Hotel erinnert mich die Lobby des wiederaufgebauten «Neptun» hingegen an den Palast der Republik in Ostberlin. Sozialistischer Chic der frühen Siebziger. Den Sprung ins Jetzt haben Brijunis Staatshotels nicht geschafft. Für umfangreiche Renovationen fehlt das Geld, doch der Mangel an Investitionskapital konserviert ihren Charakter. Ein bisschen fühle ich mich wie einer der oberen Parteikader, die hier einst von Titos Gnaden einen exklusiven Urlaub verbringen durften.
Diniert wird auf der Terrasse. Aus einem Loch in der Markise tropft plötzlich auf den Nachbartisch Wasser, das sich während des Gewitters gesammelt hat. Der Anblick lässt mich an Titos vierte Frau denken, die Serbin Jovanka Budisavljević. Nachdem ihr Gatte 1980 an den Folgen seines starken Tabakkonsums dahingeschieden war, beschlagnahmte man ihr Vermögen und verfrachtete sie nach Belgrad, in ein schäbiges Haus mit leckem Dach. Das damalige Jugoslawien fühlte sich reif genug, ohne Herrschermythos weiterzumachen.
Und ich denke an Katia Mann, die mit ihrem Mann Thomas 1911 hierhergereist war. Sie regte sich darüber auf, dass ihr ranghöchster Mitgast, Maria Josepha von Sachsen, Erzherzogin von Österreich, stets zu spät zum Abendessen erschien und die versammelte Gesellschaft sich ihretwegen von der Tafel erheben musste. Ich hingegen stehe nicht auf für das holländische Paar, das neben mir Platz nimmt. Die beiden tragen Flipflops.
Der Abend auf Brijuni bleibt so ruhig wie der Tag selbst. Nicht wie damals, als die Gattin des Inselarztes, Maria Lenz geborene Guttenberg, zu den Klängen des «Bauer Quartetts» bis in die Nacht hinein mit den illustren Gästen tanzte. Oder drüben im Saal des Hotels Carmen die Militärmusik blies.
Kupelwiesers Brioni existiert auf Brijuni weiter, viele der Originalbauten stehen noch, auch wenn der Putz da und dort bröckelt. Doch von den damaligen aristokratischen Gästen zeugen nur noch alte Fotos. Dieses Europa ist längst Geschichte. Genauso wie Titos Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien.
Sein gefiederter Geist
Es war schon fast Zeit fürs Abendessen, als ich einen Anlauf nahm, doch noch jemanden aufzuspüren, der sich an den leibhaftigen Tito erinnert. Fündig wurde ich in der alten Fasanerie. Dort hielt Koki Hof, ans Gitter seiner Voliere gekrallt.
Koki ist ein Kakadu, den Tito einst seiner Enkelin schenkte und mit dem er viel Zeit verbrachte. Gut gelaunt unterhielt der Vogel gerade eine kroatische Familie. Als ich an der Reihe war, begrüsste mich der Kakadu. «Kiko», sagte er. Und dann gab er noch ein paar Fetzen seines Sprechvermögens Preis: «Tito! Tito!», rief der Vogel, vierzig Jahre nachdem der Alte tot war.
Irgendwie ergreifend. Es heisst auch, der Kakadu könne noch immer den Raucherhusten seines verstorbenen Besitzers imitieren.
Nach einigen Minuten und diverse «Kikos» und «Titos» später verabschiedete ich mich vom Kakadu. «Ciao», sagte er stilvoll. Dann würgte er ein schmerzhaft klingendes Röcheln heraus – das musste er sein, Titos Raucherhusten!
Ich war begeistert von der Wiedergabe dieser über vier Jahrzehnte alten Originalaufnahme.
Und ich verzieh dem Vogel, dass er nicht in seine Armbeuge hustete. Koki stammt einfach aus einer anderen Zeit. Wie alles hier auf Brijuni.
Hinweis: In einer früheren Version erwähnte der Autor den «Palast des Volkes» in Ostberlin – der hiess allerdings Palast der Republik. Wir danken der Leserin für den Hinweis und entschuldigen uns für den Fehler.