Auf Inseln – Folge 1

Als Brijuni noch Brioni hiess: Naturbelassenes Idyll mit Gedenktafel für Alojz Čufar, den langjährigen Chefförster auf der Insel (1924). Die Dame 1924/ullstein bild/getty images

Die Welt auf 562 Hektaren

Die Adriainsel Brijuni wurde vom Malariasumpf zum exklusiven Seebad, das Kaiser, Nobelpreisträger und Hollywoodstars verzauberte. Und schliesslich den alten Partisanen Tito, der dort Hof hielt. Auf Inseln, Folge 1.

Von Michael Rüegg, 11.07.2020

Vorgelesen von Michael Rüegg
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Ankunft, die erste: Österreich liegt am Meer

Die Überfahrt vom istrischen Festland hat nicht lange gedauert. Der venezianische Kirchturm der Ortschaft Fasana (heute kroatisch Fažana) ist noch immer gut sichtbar, als die Herren Frosch und Elsner aus Preussen im kleinen Hafen von Brioni Maggiore an Land gehen.

Auf der Insel, die viele meiden. Der Seuche wegen.

Das Jahr 1900 neigt sich dem Ende zu, als die beiden Ärzte Brioni besuchen. Sieben Jahre zuvor hatte Paul Kupelwieser, ein öster­reichischer Industrie­manager im Ruhe­stand, fast den gesamten Archipel von einem in Triest wohnhaften Schweizer erstanden. Viel gaben die Inseln damals nicht her: einen alten Stein­bruch und viel mediterranes Busch­werk.

Doch Kupelwieser hatte nicht nur Zeit und genügend Mittel, er hatte auch eine Vision: hier, «im Süden Österreichs», unweit des k. u. k. Kriegs­hafens Pola, eine exklusive Ferien­destination aufzubauen – schliesslich führte eine neue Eisenbahn­linie von Wien direkt an die Südspitze Istriens.

Adel verdichtet: Graf Brockdorff, Prinz Hohenlohe, Gräfin Brockdorff, der Herzog von Civitella, Frau Samek und Elda Kupelwieser. Die Dame 1925/ullstein bild/Getty Images
Auflage zwischen 800 und 1000, im Schnitt 15 Seiten: Die Nummer 1 der «Insel-Zeitung», die zwischen Februar 1910 und Dezember 1913 erschien. Österreichische Nationalbibliothek

Der Verwandlung Brionis in ein begehrtes Seebad stand jedoch ein winziges Problem im Weg: Mücken der Gattung Anopheles bevölkerten die Insel in weitaus grösserer Zahl als Kurgäste – und mit ihnen der Malaria­erreger. Kupelwieser hatte Gerüchte über die Krankheit für übertrieben gehalten. Bis er sich anlässlich seines ersten Besuchs auf der frisch gekauften Insel ansteckte und nur knapp dem Tod entging.

Auf Inseln

Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».

Sie lesen: Folge 1

Brijuni, Kroatien: Die Welt auf 562 Hektaren

Folge 2

Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder

Folge 3

Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord

Folge 4

Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle

Folge 5

Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung ver­schmel­zen

Folge 6

Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen

Folge 7

Hongkong, China: Im Auge des Wir­bel­stur­ms

Folge 8

Kul­tur­ge­schich­te: Der Mythos der «einsamen» Insel

Folge 9

Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut

Bonus-Folge

Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Ka­pi­ta­lis­mus

Paul Kupelwieser machte vorwärts, liess roden, pflanzen, bauen. Doch die Gäste blieben aus. In der Zeitung las der Unter­nehmer einen Namen, der die mögliche Lösung seines Seuchen­problems versprach: Robert Koch. Ein deutscher Bakteriologe von Weltruhm, der nicht nur der Tuberkulose den Kampf angesagt hatte, sondern darauf erpicht war, in Italien die Malaria zu erforschen. Kupelwieser schrieb ihm, der Herr Professor möge doch Brioni als Ort für seine Forschung auswählen. Das Angebot kam wie gerufen, Koch entsandte zwei Mitarbeiter nach Istrien, ebenjenen Dr. Frosch und seinen Assistenten Dr. Elsner.

Kaum in Brioni angelangt, zapften die beiden den Gepäck­trägern und dem Oberkellner Blut ab und gingen auf Mücken­fang. Das Bild unter dem Mikroskop und die Unter­suchung im Labor bestätigten die Vermutung: kein Zweifel, Malaria.

Von da an ging alles verhältnis­mässig schnell: Die damals spärliche Insel­bevölkerung wurde mit Chinin behandelt, auf den Teichen brannte man einen Petrol­film ab, um die Mücken­larven zu vernichten, Sümpfe wurden mit Schutt aus den alten Stein­brüchen trocken­gelegt. Und ein Jahr später war Brioni malariafrei.

Es dauerte nicht lange, und Kaiser, Königinnen, Fürstinnen, Künstler reisten auf die Insel – alles, was Rang und Namen hatte. Zeugnis davon liefert die regelmässig erscheinende «Insel-Zeitung», in der kein prominenter Name unerwähnt blieb. Kupelwieser hatte innerhalb weniger Jahre einen der begehrtesten Ferien­orte Europas geschaffen. Einschliesslich des ersten beheizten Hallen­bades im Mittelmeer­raum.

Ankunft, die zweite: Der siegreiche Partisan

Das Jahr 1948. Der Mann an Bord des Bootes blickt mit seinen hellgrauen Augen auf fünf Nobel­hotels im sezessionistischen Stil. Der einstige Besitzer Paul Kupelwieser und seine Erben hatten sie hier errichtet, doch geben sie nun ein trauriges Bild ab: Kurz vor Ende des Zweiten Welt­kriegs legten die westlichen Alliierten Teile davon in Schutt und Asche, weil die Deutschen hier auf Brioni U-Boot-Offiziere stationiert hatten, nachdem Italien kapituliert hatte, zu dem Brioni ab 1920 wie der Rest Istriens gehörte.

Doch selbst als dieses einst so berühmte Seebad in Trümmern lag, konnte die Insel ihren Reiz vor dem frisch eingetroffenen Gast nicht verbergen. Josip Broz, nom de guerre «Tito», musste in Brijuni (wie es auf Kroatisch heisst) etwas gesehen haben. Denn wenig später kam er wieder, um zu bleiben. Und wie Kupelwieser lockte auch Tito grosse Namen der Geschichte hierher.

Ankunft, die dritte: Bloss weg von der Pandemie

Anfang Juli des Jahres 2020. Der Diesel­motor der Fähre brummt beim Anlegen am Kai, dem Tor zum National­park Brijuni. Genau an dieser Stelle fuhr einst das allererste mit Diesel betriebene Passagier­schiff der Welt ein, bestellt und bezahlt von Paul Kupelwieser. Hinter uns auf dem Festland ragt seit Jahr­hunderten der venezianische Kirch­turm von Fažana in den Himmel, wie die Ortschaft nun heisst (obwohl sie wie die meisten in der Umgebung auch ihre italienische Bezeichnung nach wie vor führt.)

120 Jahre sind vergangen, seit Robert Kochs Mitarbeiter hier Mücken fingen. Und doch liest man den Namen des Nobel­preis­trägers noch immer in den Zeitungen. Anders als vor 120 Jahren grassiert die aktuelle Seuche auf dem gesamten Erdball. Das hält die Hotel­gäste auf Brijuni keinesfalls davon ab, das Corona­virus als ein Festland-Phänomen zu betrachten. Während Hotels und Apartments entlang der Küste nicht einmal ein Drittel der üblichen Gäste empfangen, kann Brijuni nicht klagen: «Wir sind seit Beginn der Lockerungen gut gebucht», wird die Dame an der Hotel­rezeption später berichten.

Seit Brijuni Anfang Juni wieder Buchungen entgegen­nimmt, suchen Menschen Zuflucht auf der Insel. Wie Tito damals, der hier dem lästigen Regieren entging. Kein Wunder, auf Brijuni steht man sich nicht gegenseitig auf den Füssen. Bloss 300 Betten zählt das Eiland heute. Weitaus weniger als in den goldenen Jahren, als der magische Name Brioni die Hautevolee Europas anlockte.

Bundesgartenschau im Mittelmeer

Veliki Brijun heisst sie, mit 562 Hektaren die grösste der insgesamt 14 Inseln des Archipels. Aus der Luft betrachtet sieht sie aus, als wäre sie von allen Seiten angeknabbert worden. Es wimmelt nur so von Buchten, eine jede anders als ihre Nachbarin.

Der Archipel Brijuni, ganz rechts die zweigeteilte Insel Vanga, der private Rückzugsraum des jugoslawischen Präsidenten Tito. Renco Kosinožić/Brijuni National Park

Hier machte sich Paul Kupelwieser die Welt, wie sie ihm gefiel. Er liess Büsche roden und an ihre Stelle Rasen ausbringen, Wälder pflanzen, Alleen bauen und Gärten anlegen. Die österreichische Kriegs­marine transportierte für seinen Chef­förster Alojz Čufar Samen von Bäumen und Sträuchern aus aller Welt. Daher hat die Flora Brijunis so gar nichts mit derjenigen anderer Adria­inseln gemein. Sie ist ein Stadt­park mit Stränden, Bundes­gartenschau mitten im Mittel­meer. Oder wie es in der mit EU-Förder­geldern neu kreierten Ausstellung im Boots­haus am Hafen heisst: «Brijuni ist die ganze Welt im Kleinen.»

Wenn Tagesgäste hier landen, können sie sich in eine Bimmel­bahn setzen und auf einer mehr­stündigen Rundfahrt die Highlights der Insel erklären lassen. Wer dem nicht viel abgewinnen kann, entdeckt Brijuni auf eigene Faust: mit überteuerten Miet­velos oder elektrischen Golf­wagen. Mich führt mein Programm allerdings zunächst ins Insel­museum, wo Chefguide Branka bereits wartet, eine freundliche Dame mit sehr gutem Deutsch.

Eine Stunde und gefühlte tausend Fotos von Tito später bricht ein Gewitter über uns herein. Es giesst in Strömen, man sucht Zuflucht auf der Terrasse des Hotels Neptun. Von diesen Hotels gab es zu Kupel­wiesers Zeiten gleich mehrere, sodass sie nummeriert wurden. Neptun 1, 2, 3. Je höher die Ziffer, desto grösser der Luxus.

Pfauen wie Steine am Strand

Als der Regen aufhört, setze ich mich aufs Rad, die Luft fühlt sich an wie in den Tropen. Der Schauer stellt sich als Glücks­fall heraus, denn nun ist die Insel­fauna auf den Beinen. Der erste Pfau, der im omni­präsenten englischen Rasen herumpickt, erregt noch meine Aufmerksamkeit. Mit der Zeit nimmt der Reiz dieser Vögel ab, hier gibt es so viele davon wie anderswo Tauben.

Tiere sind auf Brijuni seit Generationen an Menschen gewöhnt. Das gilt auch für die Hirsche, die auf der gesamten Insel weiden. Und für die beiden Kaninchen, die auf dem Golfplatz seelen­ruhig an den Halmen knabbern, während zwei ältere Herren ein paar Meter weiter ihre Tees setzen, wie andere es hundert Jahre vor ihnen taten.

An keinem Ort auf der Welt habe ich je einen Golf­platz gesehen, der so wenig als solcher auffällt. Die gesamte Insel mit ihren Rasen­flächen, Wäldchen und sanften Hügeln wirkt wie ein riesiger Country Club. Der Sport stellt übrigens die einzige reelle Gefahr auf Brijuni dar, vom Ertrinken im Meer mal abgesehen: Schilder warnen vor herum­fliegenden Golf­bällen. Was den Rest betrifft: Es gibt ausser für den Unterhalt und mit Ausnahme von Titos altem Cadillac (kann man für viel Geld mieten) keine Autos, keine kriminellen Banden, und auch die schwarze Zornnatter, die ich beinahe überfahren hätte, ist gemäss Internet nur dann zornig, wenn sie sich verteidigen muss. Brijuni ist wie Baldrian.

Unersetzbar: Diese Zebras sind einige der letzten lebenden Wildtiere auf Brijuni. Tito sammelte diese Tiere einst, er bekam sie als Geschenk – heute verbietet Kroatiens National­park­gesetz die Ansiedlung von fremden Arten. Armin Smailovic/Agentur Focus

Stundenlang kann man auf der Insel gemächlich umher­radeln, nur wenige kleine Steigungen verlangen etwas körperlichen Einsatz. Auf dem Weg begegnen mir Blumen­gärten, Ruinen einer römischen Villa und einer byzantinischen Siedlung, ein venezianisches Kastell, ein Stein­bruch mit dem in Fels gehauenen Antlitz Robert Kochs, die letzte Ruhe­stätte von Kupelwiesers Gattin, ein 1600 Jahre alter Oliven­baum, der noch immer Früchte trägt. Und eine eingezäunte Anlage der kroatischen Armee.

Früher waren die Streitkräfte hier durchaus präsenter. Wer vor 1984 ohne Einladung Brijuni zu nahe kam, durfte davon ausgehen, erschossen zu werden.

Ein Bolschewik im Paradies

Das Foto mit Eleanor Roosevelt datiert vom Juli 1953. Tito hatte nach seinem ersten Besuch auf Brijuni die Insel wieder flottmachen lassen, mittler­weile verbrachte er bis zu sechs Monate im Jahr hier. Er hatte sich mit der «weissen Villa» ein mediterranes Gegen­stück zu seinem weissen Palast in Belgrad bauen lassen. Keine zehn Jahre zuvor war er noch als Partisan durch bosnische Wälder gerobbt, nun führte er berühmte Gäste über seine Insel, etwa die Witwe Franklin D. Roosevelts, der während der Kriegs­jahre Präsident der Vereinigten Staaten war.

Inselgespräch unter vier Augen: Eleanor Roosevelt im Gespräch mit Tito. Bettmann/Getty Images

Erst fünf Jahre zuvor, 1948, hatte Tito mit Stalin gebrochen. Tito und seine jugoslawischen Kommunisten strebten zwar durchaus nach der Revolution und sahen ihre Zukunft im Sozialismus – aber erstens nicht genau nach sowjetischem Muster, und zweitens (und das war der wichtigere Aspekt) waren sie nicht erpicht darauf, sich dem Diktat des Kreml zu unterwerfen. Es sei wichtig, befand Tito, «Herr im eigenen Haus zu bleiben».

Bis zu diesem Punkt in der Geschichte hatten kommunistische Bewegungen ihre Instruktionen aus Moskau bezogen. Dass Jugoslawien ausscherte und sich von der UdSSR emanzipierte, war das Ergebnis des Zweiten Welt­kriegs auf dem West­balkan: Jugoslawien war eine junge Nation, erst 1920 unter der serbischen Königs­krone gegründet, ein Flick­werk aus früheren Teilen des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns. Die jugoslawischen Kommunisten agierten wie vielerorts im Unter­grund, als Moskau 1937 den neuen Sekretär der jugoslawischen KP bestimmte: Josip Broz, damals Mitte vierzig, aus dem ländlichen Kroatien stammend, Mutter Slowenin.

Broz hatte Schlosser gelernt, bei Benz & Cie. in Deutschland und bei Daimler in Österreich gearbeitet, auf österreichischer Seite im Ersten Welt­krieg gedient und war als Kriegs­gefangener nach Russland gelangt. Dort wurde er Zeuge der Oktober­revolution und schloss sich den Kommunisten an. Meist von Moskau aus, manchmal inkognito in Jugoslawien oder in Paris kümmerte er sich um die Belange der jugoslawischen Kommunisten, von denen nicht wenige im Gefängnis sassen.

Während Stalins Säuberungs­welle blieb Broz, so gut es ging, unter dem Radar des Diktators. Zu oft musste er in Moskau mitansehen, wie seine Nachbarn im Hotel Lux inklusive Frauen und Kindern des Nachts abgeholt wurden und danach vom Erdboden verschwanden.

1941 marschierten die Deutschen in Serbien ein. Als das Nazi­regime auch die UdSSR angriff, kam für Tito die Stunde des Kampfes. Er stellte sich an die Spitze einer Partisanen­armee. Zeitgleich mit dem Welt­krieg brach damit ein jugoslawischer Bürger­krieg aus, mehrheitlich zwischen der faschistischen kroatischen Ustascha, die auf der Seite der Deutschen stand, den königs­treuen und mehrheitlich serbischen Tschetniks und den (zu Beginn noch schwachen) kommunistischen Partisanen. In Slowenien zog ausserdem eine klerikal gefärbte «Landwehr» auf deutscher Seite gegen die Bolschewiken in den Kampf. Feinde hatten die Partisanen damit genug, Freunde zu Beginn hingegen kaum.

Im Verlauf des Krieges wuchs Titos Partisanen­armee immer mehr zu einem ernst zu nehmenden Player heran, sodass auch die Alliierten sie nicht mehr ignorieren konnten. Während er bei Genosse Stalin mit seinen Bitten um Unter­stützung auf Granit biss – dieser hatte mit der Ost­front seine eigenen Baustellen –, erhielt Tito von den West­mächten zwar zögerlich, aber zusehends mehr Hilfe. Gegen Kriegs­ende schwenkte der britische Premier Winston Churchill endgültig um: Er entzog dem unzuverlässigen serbischen Tschetnik-Anführer Draža Mihailović den Support und setzte fortan auf Tito und dessen Partisanen.

Diese Zusammenarbeit ihres jugoslawischen Partei­sekretärs mit den «imperialistischen Mächten» war Moskau ein Dorn im Auge. Und besonders eines der verschlüsselten Telegramme aus Jugoslawien verzieh ihm Stalin nie, beim Lesen soll er vor Wut mit den Füssen gestampft haben. Tito schrieb: «Wenn Sie uns keine Hilfe anbieten können, dann behindern Sie uns wenigstens nicht.»

Jugoslawiens eigener Weg

Damit stand erstens Jugoslawien nach dem Krieg mit einer erprobten Armee da, die nicht die Rote war. Und zweitens hielt die Bevölkerung auch nach Titos Zerwürfnis mit Stalin zu ihrem Partisanen­führer. Wobei man nicht unerwähnt lassen darf, dass sich Tito und seine Kameraden selber in bester stalinistischer Manier der moskau­treuen Kräfte zu entledigen wussten – wie sie es bei Kriegs­ende auch mit verbliebenen Ustascha- und Tschetnik-Verbänden taten.

Man muss sich also einen Tito vorstellen, der 1948 bei seiner Ankunft auf Brijuni nach Jahren der Macht­kämpfe und des Krieges wohl der Meinung war, etwas Erholung täte gut. Auf das Tages­geschäft des Regierens hatte er sowieso wenig Lust, er herrschte lieber und behielt bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort. Ausserdem wurde ihm seine Bühne schnell einmal zu klein.

Diese konnte er nun nicht zuletzt dank Brijuni erweitern. Kommunist Tito öffnete mitten im Kalten Krieg nicht nur sein Land, sondern auch seine Insel. Zumindest für Persönlichkeiten, die er auf seiner Augen­höhe wähnte. So sass er nun bestens gelaunt mit Eleanor Roosevelt in der Pferde­kutsche, während drüben in den USA Senator McCarthy Jagd auf kommunistische Elemente machte.

Stalins Leiche war noch beinahe warm in ihrem Grab, als Tito bereits wieder mit beiden Sphären des Kalten Krieges flirtete. Brijuni spielte eine grosse Rolle in seiner Aussen­politik. Die Visite der früheren amerikanischen First Lady war nur eine von vielen, die Tito auf Brijuni zelebrierte. 90 führende Politiker und Staats­oberhäupter aus 60 Ländern hatten bis zu seinem Tod 1980 die Insel besucht, dazu zahlreiche Hollywood­stars. Tito war nämlich ein grosser Kinofan, an die Fels­wand im alten Stein­bruch Brijunis liess er Filme projizieren – und er empfing Richard Burton, damit dieser sich auf seine Rolle in einem jugoslawischen Partisanenfilm vorbereiten konnte – jene des heroischen Marschalls Tito.

Keine falsche Scheu vor dem Klassenfeind: Tito begrüsst im August die Hollywoodstars Elizabeth Taylor und Richard Burton. Keystone/Hulton Archive/Getty Images
So lässt es sich leben: Josip Broz Tito 1956 mit seiner vierten Ehefrau Jovanka auf Vanga. Keystone/United Archives

Das Obergeschoss des Insel­museums auf Brijuni ist Tito und seinem Wirken auf der Insel gewidmet. Die Ausstellung zeichnet das helden­hafte Bild eines sympathischen Herrn: Tito bei der Mandarinen­ernte, Tito mit Willy Brandt, Tito mit dem indonesischen Präsidenten Soekarno, beim Fischen, Tito mit Elizabeth Taylor, mit Fidel Castro Zigarre rauchend, Tito im Motor­boot mit Hồ Chí Minh, im Wein­keller, Tito in seinem Cadillac, einem Geschenk kroatischer Emigranten aus Kanada. Und Tito unter der lauschigen Laube der Nachbar­insel Vanga, seines privaten Refugiums. Etwas viel Propaganda? «Die Ausstellung», sagt Igor Duda, Professor für kroatische und jugoslawische Geschichte an der Universität Pula, «wurde bereits 1984 eröffnet, bevor die ersten Touristen auf die Insel gelassen wurden. Sie ist damit selber längst Geschichte.»

Die 14 Inseln von Brijuni

Etwa 15 Minuten dauert die Fahrt mit dem Schiff von Fažana nach Veliki Brijun, der Hauptinsel des Archipels. Auch von der Hafenstadt Pula, der grössten Stadt Istriens, gibt es Schifffahrten nach Brijuni. Vanga ist die Insel, die sich der legendäre jugoslawische Präsident Josip Broz Tito als privaten Rückzugsort gewählt hat. Ein Besuch dort ist möglich, aber nur mit einer Anmeldung, die 15 Tage zuvor erfolgt sein muss.

Unter der Laube auf Vanga sass Tito eines Abends im Jahr 1956 mit den beiden Staats­chefs Ägyptens und Indiens, Nasser und Nehru. Dort beschlossen die drei Männer, die Bewegung der Blockfreien Staaten zu gründen, in der Jugoslawien während des Kalten Krieges eine führende Rolle übernahm. 120 Länder waren zur Spitzen­zeit Mitglied der Bewegung, viele davon ehemalige europäische Kolonien.

Der Schlosser aus der Provinz, der unter einem Dutzend Deck­namen im Unter­grund agiert, Monate im Gefängnis und Jahre in den Wäldern Bosniens verbracht hatte, war zu einer Grösse in der Welt­politik aufgestiegen. Das rechnet man ihm in Kroatien noch heute hoch an. «Wenn du morgen auf dem Markt hier in Pula 100 Leute nach ihrer Meinung fragst», sagt Historiker Duda, «werden dir wohl 80 sagen, dass Tito ein guter Staats­chef war.» Und selbst der montenegrinische Kellner findet: «He was amazing.»

Die spätere Auflösung seines Bundes­staates vermochte Tito nicht aufzuhalten. An Zeugnissen aus seiner Zeit auf Brijuni fehlt es hingegen nicht. Einige davon sind quick­lebendig und grasen friedlich auf der Wiese: vierbeinige Geschenke aus aller Welt, die auf der Insel eine neue Heimat gefunden haben.

Tito und die wilden Tiere

Der Staatslenker war zwar ein begeisterter Jäger und als solcher auch mal gekränkt, wenn andere die grössere Beute machten. Etwa als er mit dem rumänischen Diktator Ceaușescu in den Karpaten auf der Pirsch war und dieser sich erdreistete, den grösseren Bären abzuknallen als sein Staatsgast.

Er galt aber auch als Tierfreund, und das sprach sich in der Welt herum. Aus allerlei Erdteilen schickten Staaten Tiere als Geschenke nach Jugoslawien. Die meisten landeten auf Brijuni, wo bereits zu Kupel­wiesers Zeiten der Hamburger Zoologe Carl Hagenbeck Tier­gehege anlegen liess.

Golfparadies am Adriatischen Meer: Das war 1923 nicht anders als heute. Die Dame 1923/ullstein bild/Getty Images

Heute stehen die Anlagen leer. Für damalige Verhältnisse, als man Tiere in Käfigen ausstellte, wirken die geräumigen Gräben an der Steil­wand des Stein­bruchs überraschend artgerecht. Die meisten übrig gebliebenen Wild­tiere wurden nach Titos Ableben in den Zoo von Zagreb übergesiedelt. Einzig Elefant Lanka, ein Geschenk Indira Ghandis, verbringt ihren Lebens­abend im «Safari-Park» an der Nord­spitze Brijunis. Unweit ihres Geheges weiden Nachkommen früherer Präsente, afrikanische Zebras. Ausserdem Shetland­ponys, die einst Königin Elisabeth II. kredenzte – während Ghadhafis Dromedare längst das Zeitliche gesegnet haben und zusammen mit Tiger, Leoparden, Giraffen und einer Auswahl heimischer Vogel­arten ausgestopft im Erdgeschoss des Insel­museums stehen. «Sind alle eines natürlichen Todes gestorben», versichert Guide Branka.

Lanka und die anderen heute noch lebenden Tiere werden die letzten Zeugen von Titos Sammel­freude sein. Denn Kroatiens National­park­gesetz verbietet heute die Ansiedlung von fremden Arten.

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Dreimal entging ich der Hitze mit einem Sprung ins Meer: neben dem alten Polofeld, das Kupelwiesers Sohn fast ruiniert hatte. Und mit dessen Hilfe der italienische Edel-Herren­ausstatter Brioni nach dem Zusammen­bruch Osteuropas den alten Luxus auf die Insel zurückholen wollte. Am Strand für Hotel­gäste wurde ich Zeuge, wie eine Möwe einer Dame die Zigaretten­schachtel klaute.

Und ich schwamm gegenüber der «weissen Villa», wo Tito auf Teppichen von Reza Schah Pahlewi Staats­bankette abhielt. Dort setzte Tito mit schweren Holz­möbeln und Brokat­tapeten seine Vorstellung von Komfort um, die bereits Winston Churchills Sohn Randolph verwundert hatte, als dieser während des Krieges Kontakt­mann im Partisanen­lager war. Über Titos Versteck in einer Höhle in Bosnien schrieb der Sohn 1944 an den Vater und Premier­minister: «[Titos] Arbeits­raum ist ganz mit Fallschirm­seide ausgeschlagen und ähnelt mehr dem Liebes­nest einer Kurtisane als dem Quartier eines Partisanen­führers.»

Angesichts dieser geschmacklichen Eigenheiten mag man sich nicht wundern, dass die kroatischen Präsidenten, denen die Villa nach 1990 als Ferien­residenz zur Verfügung stand, sich kaum je dort blicken liessen.

Da legt der Marschall selber Hand an: Tito braut seiner Gattin Jovanka einen Kaffee, dazu gibt es Melone. Popperfoto/Getty Images

Zurück im Hotel erinnert mich die Lobby des wiederaufgebauten «Neptun» hingegen an den Palast der Republik in Ostberlin. Sozialistischer Chic der frühen Siebziger. Den Sprung ins Jetzt haben Brijunis Staats­hotels nicht geschafft. Für umfangreiche Renovationen fehlt das Geld, doch der Mangel an Investitions­kapital konserviert ihren Charakter. Ein bisschen fühle ich mich wie einer der oberen Partei­kader, die hier einst von Titos Gnaden einen exklusiven Urlaub verbringen durften.

Diniert wird auf der Terrasse. Aus einem Loch in der Markise tropft plötzlich auf den Nachbar­tisch Wasser, das sich während des Gewitters gesammelt hat. Der Anblick lässt mich an Titos vierte Frau denken, die Serbin Jovanka Budisavljević. Nachdem ihr Gatte 1980 an den Folgen seines starken Tabak­konsums dahin­geschieden war, beschlag­nahmte man ihr Vermögen und verfrachtete sie nach Belgrad, in ein schäbiges Haus mit leckem Dach. Das damalige Jugoslawien fühlte sich reif genug, ohne Herrscher­mythos weiterzumachen.

Und ich denke an Katia Mann, die mit ihrem Mann Thomas 1911 hierher­gereist war. Sie regte sich darüber auf, dass ihr rang­höchster Mitgast, Maria Josepha von Sachsen, Erzherzogin von Österreich, stets zu spät zum Abend­essen erschien und die versammelte Gesellschaft sich ihretwegen von der Tafel erheben musste. Ich hingegen stehe nicht auf für das holländische Paar, das neben mir Platz nimmt. Die beiden tragen Flipflops.

Der Abend auf Brijuni bleibt so ruhig wie der Tag selbst. Nicht wie damals, als die Gattin des Insel­arztes, Maria Lenz geborene Guttenberg, zu den Klängen des «Bauer Quartetts» bis in die Nacht hinein mit den illustren Gästen tanzte. Oder drüben im Saal des Hotels Carmen die Militär­musik blies.

Kupelwiesers Brioni existiert auf Brijuni weiter, viele der Original­bauten stehen noch, auch wenn der Putz da und dort bröckelt. Doch von den damaligen aristokratischen Gästen zeugen nur noch alte Fotos. Dieses Europa ist längst Geschichte. Genauso wie Titos Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien.

Sein gefiederter Geist

Es war schon fast Zeit fürs Abend­essen, als ich einen Anlauf nahm, doch noch jemanden aufzuspüren, der sich an den leibhaftigen Tito erinnert. Fündig wurde ich in der alten Fasanerie. Dort hielt Koki Hof, ans Gitter seiner Voliere gekrallt.

Die Legende lebt: Gelbhaubenkakadu Koki könnte noch von Tito erzählen, dieser hatte ihn seiner Enkelin Saša 1978 zum 9. Geburtstag geschenkt. Aber mehr als «Tito» und «Ciao» bringt Koki selten zusammen. Armin Smailovic/Agentur Focus

Koki ist ein Kakadu, den Tito einst seiner Enkelin schenkte und mit dem er viel Zeit verbrachte. Gut gelaunt unterhielt der Vogel gerade eine kroatische Familie. Als ich an der Reihe war, begrüsste mich der Kakadu. «Kiko», sagte er. Und dann gab er noch ein paar Fetzen seines Sprech­vermögens Preis: «Tito! Tito!», rief der Vogel, vierzig Jahre nachdem der Alte tot war.

Irgendwie ergreifend. Es heisst auch, der Kakadu könne noch immer den Raucher­husten seines verstorbenen Besitzers imitieren.

Nach einigen Minuten und diverse «Kikos» und «Titos» später verabschiedete ich mich vom Kakadu. «Ciao», sagte er stilvoll. Dann würgte er ein schmerzhaft klingendes Röcheln heraus – das musste er sein, Titos Raucherhusten!

Ich war begeistert von der Wiedergabe dieser über vier Jahrzehnte alten Originalaufnahme.

Und ich verzieh dem Vogel, dass er nicht in seine Arm­beuge hustete. Koki stammt einfach aus einer anderen Zeit. Wie alles hier auf Brijuni.

Hinweis: In einer früheren Version erwähnte der Autor den «Palast des Volkes» in Ostberlin – der hiess allerdings Palast der Republik. Wir danken der Leserin für den Hinweis und entschuldigen uns für den Fehler.

Auf Inseln

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Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Ka­pi­ta­lis­mus