Auf Inseln – Folge 7

Idylle vor Hongkong: Tea-Time auf Lamma Island.

Im Auge des Sturms

Hongkong, eine Megametropole mit über 260 Inseln. Eine davon: Lamma Island. Sie liegt wenige Fährminuten vom Zentrum entfernt – und scheint doch weit weg vom politischen Machtkampf, der gerade das Leben der Stadt verändert. Auf Inseln, Folge 7.

Von Ivan Abreu (Text und Bilder) und Sarah Fuhrmann (Übersetzung), 01.08.2020

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Im Jahr 1952 verewigte der Schweizer Fotograf Werner Bischof Hongkong mit einem der ikonischsten Bilder, die je von der Stadt gemacht wurden. Auf seinem Schwarzweiss­foto liegen Dutzende chinesische Segel­boote, einige davon mit gehissten Segeln, im Wasser des Südchinesischen Meeres.

Die Dschunken auf Bischofs Bild scheinen stillzustehen, die Wolken dagegen wirken wie eine dunstige Flottille in Bewegung. In der Ferne ist, eher unscharf, eine Gebirgs­kette zu erkennen. Die Wolken­ränder werden von der Sonne hervor­gehoben, die in der Szene fehlt, und das Wasser der Bucht ist ruhig und glatt, nur ganz leicht gekräuselt. Abgesehen von den festen Schiffs­körpern in tiefschwarzen Tönen, betont das blass­graue Licht in diesem Bild ein Gefühl der Ruhe.

Ikonisches Bild: Werner Bischofs Blick auf Hongkong im Jahr 1952. Werner Bischof/Magnum Photos/Keystone

Die meisten Elemente in dem Bild, die sichtbaren, aber vor allem die unsichtbaren, gibt es nicht mehr: die Seeleute, die wir nicht sehen, die Geschäfte, die Hongkongs Bewohnerinnen damals führten, ihr Alltag, ihre Gesellschaft.

Auch die Boote, die Hongkongs Gewässer befahren, haben sich natürlich verändert, und um die sauberen Berge herum wurden in den letzten Jahr­zehnten unzählige neue Bauten, Hochhäuser und grosse Brücken gebaut.

Als ich am Morgen des 1. Juli 2020 aus dem Fenster der Fähre schaue, scheinen die einzigen Merkmale, die von damals geblieben sind, das Meer und der Himmel zu sein, in den gleichen typischen Sommer­farben Blau und Gelb.

Zum Autor

Ivan Abreu ist Filme­macher, Fotograf und Multimedia-Journalist aus Brasilien und lebt in Hongkong. Er arbeitet unter anderem für Channel 4, Bloomberg, AJ+ und Getty Images.

Für mich, der umgeben von Hügeln, Weiden und viel befahrenen Serpentinen­strassen auf dem Land in Brasilien aufgewachsen ist, ist es eine alles andere als banale Erfahrung, jeden Tag mit der Fähre zu pendeln. Es nutzt sich nicht ab. Nie. Jede Fahrt ruft ein einzigartiges Gefühl hervor, das nur mit diesem Augenblick verbunden ist, eingehüllt in den mantra­artigen Effekt des Motors und des Wassers.

Vom Wasser aus scheint diese chinesische Stadt mit dem rechtlichen Sonder­status immer in sich zu ruhen. Aber das ist weit von der Realität entfernt, die Hongkong in den letzten Jahren erlebt hat. Wirtschaftlich verliert die Stadt gegenüber anderen asiatischen Mega­städten wie Shanghai, Shenzhen oder Singapur ständig an Bedeutung. Seit Jahrzehnten verlassen Unternehmen die Stadt. Auch politisch steckt Hongkong seit einiger Zeit in einer turbulenten, pausenlosen Abfolge von Protesten, Staats­versagen und Polizei­gewalt, verstärkt durch Pekings Einmischung.

All das hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf das Leben der Hongkonger. Die meisten der 7,5 Millionen Einwohnerinnen haben Mühe, ihre Lebens­qualität zu halten.

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Hongkong ist eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Nur wenige Minuten mit der Fähre entfernt liegt Lamma Island, wo die ländliche Lebensart in extremem Kontrast zur hektischen Metropole steht.


Die Insel der Ruhe

Als ich Anfang 2015 nach Asien zog, stolperte ich nach einiger Zeit über eine Anzeige für eine Zwischen­miete über den Sommer auf Lamma Island. Die Wohnung, die ich dort bekam, sah ganz anders aus als die kleinen Wohnungen, die mir zuvor angeboten worden waren.

Auf Lamma teilt sich eine bunt gemischte Gemeinschaft aus Chilenen, Kongolesinnen, Filipinos, Inderinnen, Japanern, Polinnen, Russen, Spanierinnen und Thais den Platz mit einheimischen Fischern und Bäuerinnen, die seit Jahr­hunderten dort ansässig sind – die Insel ist eine der ältesten menschlichen Siedlungen der ganzen Region.

Der Vertrag für die Zwischen­miete lief nach zwei Monaten aus, aber Lamma Island ist mein Zuhause in Hongkong geblieben.

Fischerin am Fährhafen von Lamma Island.
Mundschutz nicht obligatorisch: Touristinnen auf der Yung Shue Wan Main Street.

Die Fähre pflügt sich durch die Wellen. Um diese Zeit herrscht reger Verkehr, Container­schiffe, kleine Fischer­boote und andere Fähren. Grosse Frachter tauchen vor uns auf, verdecken zeitweise mit ihren bräunlichen und schwarzen Rümpfen und den bunten Containern darüber die Sicht aus den Fenstern.

Plötzlich taucht eine Karawane aus Booten mit flatternden Hongkonger und chinesischen Flaggen und Bannern mit Botschaften in roten und gelben chinesischen Buchstaben auf. Die Schiffe bilden eine unorganisierte Parade. Sie ist Teil der Feierlichkeiten an diesem 1. Juli, dem 23. Jahres­tag der Rückgabe Hongkongs an China.

Rote Flaggen feiern den 23. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an China.

Auf der anderen Seite der Bucht bilden einige Brücken eine Linie, die andere Hongkonger Inseln miteinander verbindet. Unterhalb der Linie kann man die Bewegung von Last­wagen, Schleppern und Kränen sehen, die wegen des National­feiertags nicht ihre Arbeit unterbrechen.

Trotz des Verlustes seiner wirtschaftlichen Bedeutung hat Hongkong immer noch einen der verkehrs­reichsten Container­häfen der Welt. Er ist der Haupt­umschlag­platz für Produkte zum und vom chinesischen Festland und ein Zentrum für den Handel zwischen Asien und dem Rest der Welt.

Nachdem sie am südwestlichen Teil von Hong Kong Island vorbeigefahren ist, kommt die Fähre in einen Korridor mit grossen, glänzenden Gebäuden und dockt bald am Landungs­steg Nummer vier an.

Auf Inseln

Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».

Folge 2

Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder

Folge 3

Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord

Folge 4

Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle

Folge 5

Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung ver­schmel­zen

Folge 6

Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen

Sie lesen: Folge 7

Hongkong, China: Im Auge des Wir­bel­stur­ms

Folge 8

Kul­tur­ge­schich­te: Der Mythos der «einsamen» Insel

Folge 9

Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut

Bonus-Folge

Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Ka­pi­ta­lis­mus

Causeway Bay ist ein geschäftiger Bezirk mitten auf Hong Kong Island, voller Lärm, Neon­lichter und Bild­schirme, die Mode­trends, Videospiel­werbung und Luxus­autos zeigen. Es ist ein Viertel mit sehr teuren Läden, Wohnungen und Büros. Aber es ist auch einer der Orte, an denen die Menschen von Hongkong in den letzten Jahren zusammen­gekommen sind, um zu demonstrieren und politische Kundgebungen abzuhalten.

Proteste sind Hongkongs politische Ausdrucks­form schlechthin. Weil Hongkonger nicht richtig demokratisch wählen dürfen, äussern sie ihre Meinung auf der Strasse. Im Jahr 2019 wurden die Demonstrationen zum ständigen Teil des Alltags in der Stadt.

Es ist heiss, 34 Grad Celsius mit einer starken Mittags­sonne, deren Strahlen ihren Weg zwischen den Gebäuden hindurch finden. Vor der U-Bahn-Station scheint sich eine undefinierte Menge aus Einkäuferinnen und Passanten mit den ersten Gruppen von Protestierenden zu vermischen. Anders als an den anderen Tagen sehe ich nicht viele Poster, Plakate oder Banner mit politischen Parolen.

Bald erscheint die Polizei in voller Montur. Sie ist hier, um die geplanten Demonstrationen zu stoppen, die von der Hongkonger Regierung verboten worden sind. Trotzdem sind Zehn­tausende gekommen, um gegen Pekings neues Nationales Sicherheits­gesetz zu protestieren.

Drängeln für die U-Bahn im Hongkonger Businessbezirk Causeway Bay.
Sicherheitsabstand? Eine der grossen Demonstrationen gegen das umstrittene Nationale Sicherheitsgesetz.

China im Nacken, Orwell im Ohr

Hongkong hat seit der Übergabe 1997, als es wieder der chinesischen Hoheit unterstellt wurde, regelmässige Proteste erlebt. Die meisten Demonstrationen haben einen Bezug zu dem, was die Hongkongerinnen als einen Verstoss gegen die chinesisch-britische gemeinsame Erklärung sehen, eine Vereinbarung zwischen China und Grossbritannien, die festlegte, dass Hongkong seine Teil-Autonomie nach der Übergabe für fünfzig Jahre behalten würde – «ein Land, zwei Systeme».

Nach weniger als der Hälfte der Zeit jedoch kam am Vorabend dieses 1. Juli Chinas bisher unverhohlenste Einmischung, als es das Nationale Sicherheits­gesetz erliess, mit dem Peking jetzt die Gangart gegenüber Hongkong verschärft.

Ich interviewte die Oppositions­politikerin Claudia Mo zu dem neuen Gesetz, und sie sagte: «Peking versucht, Hongkong in eine orwellsche Gesellschaft zu verwandeln.» Die prodemokratische Mo sagte ausserdem: «Dieses neue Gesetz hat sich als Todes­urteil für Hongkong herausgestellt, unser ‹ein Land, zwei Systeme› ist verloren. Denn Peking macht deutlich, dass sie das letzte Wort haben; sie haben die Befugnis für alles.»

Das ist heute die Angst vieler Menschen auf den Strassen von Causeway Bay.

Die Stimmung ist angespannter als an anderen Protest­tagen. Gruppen von voll ausgerüsteten Polizisten beginnen rasch damit, Demonstrantinnen in kleinere Gruppen aufzulösen und einzukesseln. Sie benutzen Absperr­band, um die Strassen abzuriegeln, sowie Schlag­stöcke und Pfeffer­spray, um die Menge aufzulösen.

Ab und zu halten die Polizisten bunte Banner mit Warn­botschaften hoch, wie üblich bei den Auseinander­setzungen. Heute kommt ein neues lila Banner zum Einsatz, das sich auf das Nationale Sicherheits­gesetz bezieht: «Dies ist eine polizeiliche Warnung. Sie zeigen Flaggen oder Transparente, skandieren Parolen oder handeln mit der Absicht der Abspaltung oder der Zersetzung, was einen Straftat­bestand unter dem Nationalen Sicherheits­gesetz in der HKSAR darstellen kann. Sie könnten festgenommen und straf­rechtlich verfolgt werden.»

Im Verlauf eines Jahres, zwischen Juni 2019 und Juni 2020, nahm die Polizei von Hongkong im Zusammenhang mit den Protesten über 9000 Menschen fest.

Doch die Leute bewegen sich nicht vom Fleck. Jedes Mal, wenn Polizisten ein Warn­banner heben, klatschen die Demonstranten ironisch, applaudieren und jubeln.

Wir haben euch gewarnt! Ein Polizist hält ein Plakat hoch, auf dem der Einsatz von Tränengas angedroht wird.
Hartes Vorgehen: Doch der Einsatz der Polizei schreckt die Protestierenden nicht ab, sie kommen immer wieder.
Ein Demonstrant schleudert eine Tränengas-Kartusche zurück in Richtung Polizei.

Mitten in dieser Sackgasse sehe ich drei junge Demonstrierende, zwei Männer und eine Frau, schwarz gekleidet im Dress­code der Demokratiebewegung.

«Ich hoffe wirklich, dass dieses Gesetz eines Tages zurück­genommen wird. Aber die chinesische Regierung wird das nicht zulassen», sagt einer der drei Demonstranten in Schwarz. «Unser Rechts­system ist durch die chinesische Regierung zersetzt worden, und ich glaube, die ganze Welt kann sehen, was hier passiert. Es ist ein eindeutiger Verstoss gegen die chinesisch-britische gemeinsame Erklärung», fügt er hinzu.

Von Mao bis zum Handelsstreit

Als ich frage, ob er vorhat, Hongkong zu verlassen, sagt er, er sei ziemlich sicher, dass die meisten Hongkongerinnen nicht den Wunsch hätten, fortzugehen. «Vielleicht weil wir hier aufgewachsen, hier geboren sind, haben wir das Gefühl, dass es unser Zuhause ist und dass es ein Ort ist, den wir schützen und an dem wir bleiben sollten», sagt er.

Obwohl er bei seinen Antworten grössten­teils sicher klingt, zeigt er auch Anzeichen von Zweifeln. Eine Antwort bricht er nach der Hälfte ab, dann sagt er: «Es wird jeden Tag schlimmer werden.»

Hongkong gilt als Ort, wo der Osten auf den Westen trifft. Mehr als ein Jahr­hundert lang war die Stadt wegen der strategischen Position im Herzen des asiatischen Kontinents einer der Haupt­umschlag­hafen des British Empire.

Im zwanzigsten Jahrhundert war Hongkong mit seiner hügeligen Landschaft auch Zufluchts­ort für verschiedene chinesische Exil­gemeinschaften, darunter Tausende Nationalisten, die im Bürger­krieg gegen die Kommunisten von Mao Zedong auf der Verlierer­seite standen.

In jüngerer Vergangenheit war die Stadt Zentrum eines weiteren Disputs: Im Handels­krieg zwischen China und den USA versuchen beide Seiten, Hongkongs Lokal­politik zu beeinflussen.

Diese Spannung zwischen den beiden Super­mächten, die sich beide der Strategien der hybriden Kriegs­führung bedienen, und dazu ein Gründungs­mythos, der auf die koloniale Vergangenheit zurückgeht – das sind zwei der vielen verwirrenden Elemente dessen, was Analystinnen eine tiefe Identitäts­krise nennen. Dennoch scheinen die Proteste der letzten Monate einen Teil der Bevölkerung geeint zu haben.

Meine Unterhaltung mit den jungen Studierenden wird von einer neuen Aktion der Bereitschafts­polizei abrupt unterbrochen.

Nach einem langen Austausch von Beleidigungen zwischen ihnen und einer Gruppe von Demonstranten verlassen zehn oder zwölf Gesetzes­hüter ihre Stellung hinter einer Barrikade und fangen an zu rennen, die Waffen in der Hand. Sie versprühen Pfeffer­spray und jagen Demonstrantinnen. Einen Moment lang herrscht Panik. Protestierende fliehen, viele suchen Schutz in einem Einkaufszentrum.

Anderswo sehe ich, wie die Polizei mehrere junge Protestierende einfängt. Sie werfen sie gegen die Wand, durchsuchen ihre Taschen und führen sie in Hand­schellen ab auf eine improvisierte Wache.

Die effektivste Botschaft der Polizei ist die hohe Zahl von Festnahmen: insgesamt 370 Personen, 10 davon unter dem neuen Nationalen Sicherheits­gesetz. Die Taktik der Regierung scheint klar: den Protestierenden mit dem Risiko einer Verhaftung zu drohen, sie zu ermüden, ihre Solidarität zu schwächen und schliesslich die Demokratie­bewegung zu zerschlagen.

100 Quadratmeter statt ein Schuhkarton

Das Leben, die Tage in Hongkong können ermüdend sein. Die hohe Luft­feuchtigkeit, das extreme Tempo der Stadt und der ständige Wettbewerb um Platz sind zermürbend.

Zum ersten Mal spürte ich die Vorzüge von Lamma Island direkt am Körper. Es war Abend, und ich war auf dem Heimweg nach einem langen Drehtag auf den Strassen. Nach der 25-minütigen Überfahrt von Central nach Lamma reihte ich mich in die Schlange von einigen hundert Menschen ein, die das Schiff verliessen.

In dem Moment, als ich die schmale Strasse betrat, die den Steg mit Yung Shue Wan verbindet, dem Haupt­dorf auf Lamma, und mein Blick auf die kleine Bucht mit den Fischer­booten fiel, die sich anmutig über das Wasser bewegten, und auf die Häuser, die mit erleuchteten Fenstern an den Hängen verstreut lagen, senkten sich meine Schultern. Ein beruhigender Schauer durchfuhr meinen Körper.

Auf dem Weg vom Steg zu meiner Wohnung komme ich an Fisch­restaurants mit riesigen Aquarien neben den Eingangs­türen vorbei und an Gruppen von Leuten, die auf den Terrassen zu Abend essen oder etwas trinken, an Cafés, an Läden, die traditionelles chinesisches Essen verkaufen, an Teehäusern und kleinen Lebensmittel­läden, an Menschen, die mit ihren Hunden spazieren gehen, und an Kindern, die auf der Strasse spielen.

Keine Spur von Tränengas, keine prügelnden Polizisten: Ein Lebensmittelladen auf Lamma Island.
Weg von der umkämpften Metropole: Auf der Fähre zu den Inseln.

An den Wochen­enden ziehen Lammas Berge, Strände und die ländliche Umgebung massenhaft Touristen an, viele kommen vom chinesischen Festland. Im Gegensatz zur extremen Dichte von Hongkong gibt es auf Lamma viel Platz.

Weil immer mehr Menschen sich Lamma als Wohn­ort aussuchen, schiessen aber auch hier immer mehr Gebäude aus dem Boden, und die Mieten und Immobilien­preise steigen. Dennoch, im Vergleich zu den meisten anderen Stadt­teilen sind die 17’000 Hongkong-Dollar (gut 2000 Franken), die ich für meine 100 Quadrat­meter bezahle, ein unglaubliches Schnäppchen. Auf der anderen Seite, im Central District, würde ich für dieses Geld in einem Schuh­karton wohnen.

Von Cindy, der jungen Maklerin, die mir meine Wohnung vermietet, erfahre ich, dass die Entwicklung von Lamma seit dem Jahr 2000 angezogen hat und viele neue Häuser in den urbaneren Teilen der Insel gebaut werden.

Aber bis jetzt scheinen die speziellen Regelungen auf der Insel – Autos sind verboten, Gebäude dürfen nicht höher als drei Stock­werke sein – dem Druck des Marktes standzuhalten, der Lamma sonst gewaltig verändern würde.

Lennon Walls und Yellow Shops

Ein neuer Tag, eine neue Überfahrt. Ein Sturm kündigt sich an, der Wind wühlt das Meer auf und lässt auf der Wasser­oberfläche silberne Formen entstehen. Neben mir, im Inneren der Fähre, spricht ein alter Mann am Handy, während seine Frau auf ihrem ein Video anschaut. Der Ton des Videos ist eine Mischung aus Keyboard-Popmelodie und Spiel­automaten­geräuschen. Der Track wiederholt sich immer wieder, vermischt sich mit dem Geräusch der Fähre.

In dem Video, das die alte Frau anschaut, schneidet ein Mann mit einem riesigen Hackbeil die langen Haare von Frauen, die in einer Reihe warten. Immer wenn er einen neuen Schnitt anfängt, fängt auch die Musik von vorne an.

Es ist noch früh am Morgen, und die meisten Läden in Causeway Bay sind geschlossen. Es ist ruhig auf den Strassen. Arbeiterinnen putzen die Spuren der Proteste vom Tag zuvor weg. Sie lösen Aufkleber ab, waschen Graffiti weg, reissen Plakate herunter, entfernen die letzten Lennon Walls.

In den früheren Achtzigern, nach dem Mord an John Lennon, malten junge Leute in Prag – damals unter einem kommunistischen Regime, beeinflusst von der Sowjetunion – ein Bild des früheren Beatles-Musikers auf eine Mauer in der tschechischen Hauptstadt. Bald war sie voll von politischen Botschaften, Gedichten, Lied­texten und anderen Graffiti, zum Ärger der Behörden.

Mit Post-its gegen China: Eine der Lennon Walls voller Protestnoten in Causeway Bay, die noch nicht abgeräumt sind.

Die erste Lennon Wall in Hongkong tauchte während der Regenschirm-Bewegung im Oktober 2014 auf. Das bunte Mosaik aus Post-its, Zeichnungen, Bildern und Plakaten wuchs organisch auf einer Treppe vor dem Regierungsgebäude.

Seit dem Beginn der letzten Bewegung 2019 sind die Walls zurückgekehrt, aber diesmal an ganz unterschiedlichen Orten, öffentlichen und privaten.

Die Protestierenden bewiesen Kunst­fertigkeit und Kreativität, bezogen Elemente und Parolen anderer Bewegungen aus der ganzen Welt mit ein, schufen ihre eigene Identität. Und Hongkong entwickelte sich von einer eher grauen und sterilen, überorganisierten urbanen Landschaft zu einem lebhaften Ort mit Strassen­kunst und Interventionen. Wird all das nun durch das Nationale Sicherheits­gesetz verschwinden?

Ich kehre zurück in den Central District. Auf meiner Liste sind Adressen von Yellow Shops: Läden, die sich offen auf die Seite der Protest­bewegung stellen. Ich will fotografieren, wie sie ihre Lennon Walls abnehmen, weil sie wegen des neuen Gesetzes Konsequenzen fürchten.

«Wir haben sie gestern verschwinden lassen», sagt mir ein Angestellter aus einem der Shops auf meiner Liste. «Das Gesetz ist sehr eindeutig», sagt die Geschäfts­führerin eines taiwanischen Teeladens und kratzt die Reste eines Aufklebers von der Wand. «Du wirst keine finden», sagt mir eine andere Angestellte in einem Café, während sie an der Tür meine Temperatur misst. Eine nach der anderen schickt mich weg.

Die Botschaft, die Peking mit seinem Nationalen Sicherheits­gesetz ausgesandt hat, ist angekommen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es hätte anders sein können.

«Politik? Nein, das Leben ist uns entglitten»

Zurück am Pier in Lamma, treffe ich Matthew, der Flyer verteilt, auf denen die Leute aufgefordert werden, bei den Vorwahlen zu wählen, gut eine Woche nachdem das neue Gesetz erlassen wurde. Die prodemokratischen Oppositions­parteien halten Vorwahlen ab, aus Protest gegen das neue Gesetz und um ihre Chancen auf eine Mehrheit der 70 Sitze in Hongkongs Legislativ­rat bei den für September geplanten Wahlen. (Diese wurden nun auf unbestimmte Zeit verschoben, Anm. d. Red.)

Matthew verteilt Flugblätter an die Leute, die sich beeilen, die Fähre um acht Uhr zu erwischen, wobei er immer wieder den gleichen Satz wiederholt, manchmal auf Englisch, manchmal auf Kantonesisch mit einem starken westlichen Akzent. Er ist vor über 25 Jahren aus Australien nach Hongkong gekommen, um für eine australische Gebäck­firma zu arbeiten. Er interessiert sich sehr dafür, was in der Stadt passiert. «Andere Leute würden es vielleicht so nennen, aber ich finde nicht, dass das, was ich tue, Politik ist», sagt er. «Es geht um unser Leben. Dass das Leben, wie wir es kennen, uns entglitten ist.»

Zur Orientierung

Hongkong liegt im Süden des chinesischen Festlandes, angrenzend an die Provinz Guangdong. Nach dem Ersten Opiumkrieg zwischen Grossbritannien und dem damaligen Kaiser­reich China wurde Hongkong zur britischen Kronkolonie erklärt. 1997 erfolgte die Rückgabe an China, seither ist Hongkong eine Sonder­verwaltungs­zone der Volksrepublik, die aber ihre kapitalistische Wirtschafts­ordnung für fünfzig Jahre beibehalten darf («one country, two systems»). In Hongkong leben auf einer Fläche von 1104 km2 7,5 Millionen Menschen, 92 Prozent davon sind chinesische Staatsbürgerinnen.

Wir sitzen zusammen auf der Terrasse des «Sampan», eines der einheimischen chinesischen Restaurants mit Blick auf die Bucht von Yung Shue Wan. Um diese frühe Zeit sind die meisten Gäste ältere Einheimische, die Tee trinken und Dumplings zum Frühstück essen. Matthew und ich trinken chinesischen Tee, während er mir ausführlich das komplexe Hongkonger Wahlsystem erklärt.

«In den letzten zwei oder drei Wochen habe ich mich dafür engagiert, dass die Leute ein Bewusstsein für die Vorwahlen bekommen und sie dies ermutigt, zu wählen», sagt er.

Die Vorwahlen in Hongkong sind freiwillig, sie sind nicht Teil des offiziellen Wahl­verfahrens. Die Oppositions­parteien hätten sich intern auf ihre Kandidaten einigen können, aber stattdessen beschlossen sie, Vorwahlen zu organisieren, um mehr Leute einzubinden. «Kurz gesagt sind die Vorwahlen ein Werkzeug, damit sich die Leute einbringen können.»

Liebe zu China, Furcht vor Peking

Ich frage ihn, was seiner Meinung nach passieren werde, wenn das prodemokratische Lager im September eine Mehrheit bekommt.

Er fängt an zu erzählen. Sie hätten in den letzten ein, zwei Jahren «viel über Chinas Verhalten und die Kommunistische Partei» gelernt, aber dann unterbricht er sich. Er zögert, sucht nach Worten: «Ich sage nicht gern China», sagt er dann, «ich liebe China, ich habe dort acht Jahre gelebt. Ich liebe China, ich liebe die Menschen, wirklich. Ich habe viele Freunde dort, ich fahre gern dorthin.» Matthew versucht deutlich zu machen, dass er China und die Kommunistische Partei als zwei verschiedene Dinge sieht.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich das höre. Letztes Jahr zum Beispiel, während der gewalt­tätigsten Proteste, interviewte ich einen 63-jährigen buddhistischen Mönch und Aktivisten namens Lau Kin-kwok.

In einem unserer Gespräche, als die Kamera ausgeschaltet war, bemerkte ich ihm gegenüber, dass er, obwohl er ein leidenschaftlicher Verteidiger der Demonstrantinnen in Hongkong und ihrer Anliegen war, auch sehr emotional über China sprach, von wo seine Eltern vor Maos Regime geflohen waren.

Bevor ich den Satz beenden konnte, sagte Lau: «Ich bin Chinese! Die Tatsache, dass ich gegen die Kommunistische Partei kämpfe, ändert nichts an diesem Gefühl.»

In Hongkong werden Ansichten auf strenge, traditionelle Art und Weise von einer Generation an die nächste weitergegeben. Aber sie treffen hier mit neuen Perspektiven aus aller Welt zusammen. Ich finde es interessant, die Menschen jeden Alters protestieren zu sehen in einer Stadt, in der sie normaler­weise dazu gedrängt werden, zu konsumieren und ihren Frust beim pausenlosen Shopping abzulassen.

Am Samstag und Sonntag, dem 11. und 12. Juli, gaben mehr als 600’000 Menschen bei den Vorwahlen des prodemokratischen Lagers ihre Stimme ab. Eine symbolische Geste, ein mögliches Zeichen, dass viele Hongkonger sich tatsächlich Sorgen über ihre Zukunft machen. Sie werden nicht aufhören zu marschieren.

Auf Inseln

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Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder

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