Allein unter Möwen
Vor dem norwegischen Skudeneshavn liegt eine kleine Insel mit einem noch kleineren Wahrzeichen. Dort ist man gerne einsam – solange Sicht ist. Auf Inseln, Folge 6.
Von Peter Linden (Text) und Knut Egil Wang (Bilder), 30.07.2020
Seit meiner Kindheit stand er unerreichbar fern, der Leuchtturm, als entrücktes Ziel vieler Spaziergänge am Strand oder in meiner Fantasie. Rot-weiss gestrichen ragte er aus den Wellen, oftmals tollkühn errichtet auf schroffem, grauem Granit. Es gibt Bilder, auf denen Monsterwellen mitten im Ozean einen ganzen Leuchtturm verschlingen. Es gibt Bilder, auf denen der Leuchtturm am äussersten Ende der Welt steht, wie ein Vorbote auf das Paradies.
Und auf einmal hielt ich die Schlüssel in der Hand.
Gewiss, der Leuchtturm an der Südspitze von Víkholmen im Südwesten Norwegens ist klein, ein Winzling von zehn Metern, der kaum das Wärterhäuschen überragt. Doch er steht auf seiner eigenen, einsamen Insel, nicht einmal Schafe wohnen dort. Während ich mit meinem motorisierten Dingi, einem kleinen Beiboot, den Hafen von Skudeneshavn verliess und die wenigen hundert Meter hinüber zur Anlegestelle der Insel glitt, schickte der Turm beruhigend seine Lichtkegel aufs Meer. Licht. Schwärze. Licht. Schwärze. Licht. Bis zu zehn Kilometer weit können Fischer die Signale sehen. Die Experten sagen, seine Lichtstärke hat eine Reichweite von 3,6 nautischen Meilen (ca. 5,5 Kilometer).
Peter Linden ist freier Journalist mit Fokus Reisen und Tourismus und Dozent, unter anderem an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule, der Axel-Springer-Akademie und der Ringier-Journalistenschule. Er lebt in München.
Wie gross so ein einsames Inselchen ist, wenn man es zum ersten Mal betritt! Da gibt es dann mehr als bloss vier Himmelsrichtungen, sondern tausend. Ich lief los wie ein Verrückter, wollte alles anfassen, mich auf den Boden werfen, Felsen umarmen. Robinson Crusoe muss sich so gefühlt haben, ganz am Anfang, als Freitag noch fehlte. Frei, irgendwie mächtig. Einfach losbrüllen, und keiner hört einen. Italienische Arien schmettern. Kind sein, Tier sein. Tun und lassen, was man will. So fühlte sich das an, damals vor 25 Jahren.
Das Wärterhaus hat sich kaum verändert seither. Küche, Esszimmer, Wohnzimmer, nur die antiken Möbel hat die Seefahrervereinigung Skudeneshavn teilweise gegen eine funktionale, moderne Einrichtung ausgetauscht. Das zweite Stockwerk beherbergt nach wie vor zwei Gästezimmer. Und das Schlafzimmer die antike Notleuchte in einem weiss getünchten Erker. Diese Notleuchte hätte der Wärter früher sofort einschalten müssen, wäre der grosse Lichtkegel mal ausgefallen. Fiel aber nie aus.
Skudeneshavn (2) liegt etwa 320 Kilometer südwestlich von Norwegens Hauptstadt Oslo (1). «Fyr» ist das norwegische Wort für Leuchttürme, von denen es an der Küste des Landes 212 gibt, die aber nicht alle gleichzeitig in Betrieb waren oder sind. Die drei unten aufgeführten Leuchttürme vor Skudeneshavn gehören zu den 17 Leuchttürmen der Region Rogaland. Skudenes Fyr (4) wurde 1799 erbaut, Víkholmen Fyr (3) 1849 und Geitungen Fyr (5) 1924.
Skudeneshavn
Norwegen
3
4
1
2
Nordsee
5
1. Oslo
2. Skudeneshavn
3. Víkholmen Fyr
4. Skudenes Fyr
5. Geitungen Fyr
1
Norwegen
2
Skudeneshavn
3
4
Nordsee
5
1. Oslo
2. Skudeneshavn
3. Víkholmen Fyr
4. Skudenes Fyr
5. Geitungen Fyr
1849, zu Hochzeiten des Heringsfangs, wurde Víkholmen Fyr gebaut, 1875 erweitert. Seitdem wohnte auch ein Wärter dort, Sven Johannes Utne. Zu Utnes Zeit gab es Hunderte bemannter Leuchttürme entlang Norwegens Küste. Von einigen erzählte man sich schreckliche Geschichten. Auf Kya, weit draussen vor Osen im Nordatlantik, hatte der Orkan mal den kompletten Schuppen weggerissen samt den Schienen, auf denen der Wärter das Öl und anderes Material zum Turm fuhr. Oder Grip. Grip, vor Kristiansund gelegen, besteht nur aus einem Felsen in der Brandung und dem Turm. Man musste eine Leiter hinunterlassen, um Ankömmlinge zu empfangen. Toiletten gab es nicht, nur Luken. Das Süsswasser musste in Regenbehältern gesammelt werden. In den Ausschreibungen für Stellen auf Grip stand da immer: «Starke Nerven verlangt.»
Im Vergleich dazu herrschten auf Víkholmen immer schon traumhafte Zustände. In nur zwanzig Minuten konnte der Wärter hinüber ins Zentrum von Skudeneshavn rudern, einkaufen, einen Arzt aufsuchen. Ab 1908 war selbst das nicht mehr nötig, die Lichtkegel wurden jetzt ferngesteuert. Also zog Sven Johannes Utne nach 33 Jahren treuer Dienste am Seevolk hinüber aufs Festland. Sein Turm stand fortan fast 90 Jahre lang leer.
Licht. Schwärze. Licht. Schwärze. Licht. Ein wenig wirkten die Signale von Víkholmen in all den Jahren wie eine Metapher auf die norwegische Geschichte. Endlich unabhängig von den Dänen und den Schweden: Licht. Hunderttausende Auswanderer aus religiösen Gründen oder purer Not: Schwärze. Bessere Erträge im Fischfang durch moderne Kutter: Licht. Die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg: Schwärze. Und dann der 25. Oktober 1969. Vor Norwegens Küste wurde Öl entdeckt, sehr viel Öl: Licht.
Auf Víkholmen konnte man das wörtlich nehmen: Auf der anderen Seite der Bucht erstrahlt seither der Nachthimmel im künstlichen Licht. Stavanger entwickelte sich zur führenden Ölmetropole der gesamten Nordsee. Dort siedelten sich die Konzerne an. Von dort starten Flotten von Hubschraubern auf die Ölfelder. Natürlich ist dort das norwegische Ölmuseum beheimatet. Und natürlich forschen sie dort, und nicht nur dort, bereits für das postfossile Zeitalter.
Auf Inseln
Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».
Folge 2
Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder
Folge 3
Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord
Folge 4
Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle
Folge 5
Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung verschmelzen
Sie lesen: Folge 6
Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen
Folge 7
Hongkong, China: Im Auge des Wirbelsturms
Folge 8
Kulturgeschichte: Der Mythos der «einsamen» Insel
Folge 9
Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut
Bonus-Folge
Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Kapitalismus
Norwegen modernisierte sich so rasch wie kein anderes Land in Europa. Mit den Einnahmen aus dem Ölhandel errichtete man Brücken, grub Tunnel, baute Autobahnen. Überall entlang der langen Küste entstanden kulturelle und gesellschaftliche Zentren, Krankenhäuser und Universitäten. Und Norwegens Küste ist sehr lang. Fährt man alle Buchten und Fjorde ab, kommt man auf 25’000 Kilometer Küstenlinie. Inseln wie Víkholmen noch gar nicht eingerechnet.
Seeleute sind nostalgisch, sie trauern um jedes stillgelegte Schiff, um jeden verlassenen Hafen. Für viele Seeleute bedeutete Modernisierung zudem: Schufterei auf riesigen Hochseetrawlern oder Arbeitslosigkeit. Auch in Skudeneshavn ging es dahin mit dem traditionellen Fischfang.
1996 beschloss die Seefahrervereinigung, wenigstens ihren Turm samt Wärterhäuschen vor dem drohenden Verfall zu bewahren. Bei der Suche nach Lösungen stiessen sie auf den weltweiten Trend, alte Windmühlen, stillgelegte Bergwerke oder verlassene Klöster durch eine Umwandlung in Feriendomizile zu retten. Mehr als ein paar Handwerkerstunden brauchte es nicht, und Víkholmen hatte sich in eine Touristenattraktion verwandelt. Ich war sofort zur Stelle und mietete mich ein.
Zu meiner Überraschung dauerte es einige Jahre, bis sich die gewünschten Einnahmen erzielen liessen. Die Menschen waren offenbar skeptisch. Einen Leuchtturm mieten? Dort wohnen, wo man einst die Mönche der Meere wähnte, einsame, seltsame Geschöpfe, die nachts kein Auge zutun und womöglich unaufhörlich im Kreis rennen müssen mit einer Laterne in der Hand? Noch immer kommen nur 40 Leute pro Jahr nach Víkholmen, in guten Sommern auch mal 70.
Als ich aufwachte, stellte ich fest: Víkholmen hat doch Bewohner: Heringsmöwen mit eineinhalb Metern Flügelspannweite. Aus grosser Höhe lassen sie Krabben auf die Felsen hinter dem Haus knallen, sodass deren Panzer zerplatzen. Dann fressen sie sie auf. Die schwarzen Kormorane sitzen derweil arrogant auf dem Leuchtturm und blicken aufs Meer. Sobald sich da draussen was kräuselt, fliegen sie los. Bei Sturm verschwinden die Kormorane ganz. Dafür schwemmt der Ozean alte Stiefel, Holzplanken, Wellblech an. Und Flaschen, leider ohne Post. In der Nähe der Anlegestelle taumelte eine rote Boje wie besoffen auf den Wellen.
Ob Sturm oder nicht, viermal am Tag kam damals noch die Autofähre aus Stavanger direkt nach Skudeneshavn. Sie näherte sich wie ein Ungetüm. Erst dröhnte ihre hohle Sirene, dann warf ihr schwarzer Bauch einen beinahe ebenso schwarzen Schatten auf die Insel. Einmal gab es einen Moment, da glaubte ich, alles sei vorbei: die riesige Fähre und mein winziger Turm. Direkter Kollisionskurs, das Wärterhaus vibrierte. Es vibriert noch immer, wenn ein grosses Schiff einfährt – aber es vibriert seltener, die Fährverbindung wurde 2013 stillgelegt. Die E39, Norwegens neue Lebensader über 1330 Kilometer. Immer mehr Brücken und Tunnel statt Fähren und Hurtigruten, darauf läuft es hinaus. Heute muss man den Umweg über Arsvågen fahren.
Eines Abends, nachdem die letzte Fähre des Tages eingelaufen war, überprüfte ich unwillkürlich, ob mein Leuchtturm wirklich funktionierte. Ich fühlte mich plötzlich verantwortlich. Mit den Fingern zählte ich mit. Licht. Schwärze. Licht. Schwärze. Licht. Die Frequenz der Signale, ihre Farben und ihre Position halfen den Kapitänen früher bei der Bestimmung ihrer Route. Heute leitet ein Fernsteuerungssystem die grossen Tanker weit draussen an den Inseln des westnorwegischen Fjordlands vorbei. Auch die Kapitäne der kleineren Schiffe brauchen den Leuchtturm eigentlich nicht mehr.
Zwei Tage, drei Tage, vier. Mit jedem Spaziergang schien mein Reich zu schrumpfen. Die grosse Freiheit, sie bekam langsam Grenzen. Ich begann Víkholmen zu vermessen. Etwa 750 Schritte erstreckte es sich gen Norden, keine 300 zwischen West- und Ostküste. Bei Ebbe kamen ein paar tausend Quadratmeter Quallen und Tang dazu. Drei Kiefern wuchsen auf meiner Insel, in einer Felsnische kauerten die verdorrten Reste des einzigen Laubbaums. Ein paar Büsche waren ebenfalls gescheitert, ansonsten Gras, Heidekraut, Moos, Flechten, blankes Gestein. Vor kurzem, erzählt Steinar Mæland von der Seefahrervereinigung, haben sie der Vegetation noch einmal eine Chance gegeben. Ein paar Quadratmeter in der Mitte der Insel haben sie bepflanzt, dort bläst der Wind weniger stark.
Je kleiner die Insel wurde, umso behutsamer erforschte ich sie. Ich verlangsamte meine Schritte, aus atemlosem Rennen wurde Gehen, aus Gehen sachtes Schleichen. Meine Rundgänge dehnten sich auf zwei, manchmal drei Stunden. Nach Regen blickte ich lange in die Tümpel, die aussahen wie winzige Seen. Es gab kleine, romantische Buchten zum Verlieben. Es gab Klippen für den perfekten Mord. Von der höchsten Stelle aus beobachtete ich wie in Meditation die Lichtkegel von zwei anderen Leuchttürmen. Meinen Nachbarn: Skudenes Fyr und Geitungen Fyr.
Die Kinder des alten Wärters von Geitungen, sie leben noch. Daniel Ådnesen erzählte mir damals, dass er sich eine schönere Kindheit als auf einem Leuchtturm gar nicht vorstellen könne. Ein Familienorchester hatten sie. Hin und wieder brachte die Wanderbibliothek auf See Bücher vorbei. Schule war immer daheim, Spielplatz überall. Der Vater funkte den Fischern, wo er die Makrelenschwärme erspäht hatte und bekam dafür seinen Anteil. Platz für eine kleine Landwirtschaft mit Hühnern und Schweinen hatten sie auf Geitungen und ab 1958 sogar Strom.
Geitungen Fyr ist ein anderes Kaliber als Víkholmen. 41 Meter über dem Meer! 31 Kilometer Reichweite statt lumpiger 5,5! Bis 1983 mussten sie dort bei schlechter Sicht trotzdem zusätzlich das Nebelhorn bedienen. Ein grauenhafter, warnender Grunzton, der bis ins Mark geht. Víkholmen Fyr hat kein Nebelhorn, aber genauso oft Nebel.
Bei Nebel leiden Leuchtturmwärter. Einsamkeit ist auch eine Frage der Sichtweite. Durch jedes Fenster herrscht dann der gleiche Ausblick: das fahle Gelb von den Laternen in den Fahrtrinnen, ansonsten Grau. Auch mein Wärterhaus schien bei Nebel zu schrumpfen. Es wurde enger in dem Schlafzimmer mit dem Erker, dem Wohnzimmer, dessen alter Fernseher nur wenige Programme hergab, in der Küche, im spartanischen Esszimmer.
Im Bücherschrank standen die Aufzeichnungen des alten Wärters von Víkholmen. Der dichtete in einer solchen Nacht: «Einsam, einsam, sitze ich / In einem Turm, gehüllt in Nebel / In einem Haus, umspült vom Meer / Und die Ewigkeit lässt mich im Stich. / Und ich denke und ich denke / Und ich grüble und ich leide.»
Ich litt nicht, aber ich grübelte.
Ich grübelte, weshalb mich Leuchttürme und einsame Inseln seit meiner Kindheit so sehr angezogen hatten. Und weshalb ich mich, kaum war es draussen neblig und drinnen einsam und still, plötzlich nach Gesellschaft sehnte. Mit einem Mal kam mir mein ganzer Aufenthalt lächerlich vor. Was hatte ich, der Grossstadtbewohner, der Journalist, überhaupt in einem verlassenen norwegischen Leuchtturm zu suchen? Den Ausdruck «Social Distancing» hatten sie damals noch nicht erfunden.
Bei Sonne war dann alles wieder gut. Die drei Kiefern wiegten ihre Kronen im Wind, und die Heringsmöwen liessen ihre Krabben fallen. Ich spazierte auf dem alten Steinpfad zur Nordspitze von Víkholmen, von wo aus ich dem Treiben im Hafen zusehen konnte. Die weiss getünchten Holzhäuser von Skudeneshavn strahlten verlockend herüber, ebenso die liebevoll restaurierten ehemaligen Fischfabriken, in die man Ferienwohnungen eingebaut hatte. Und die Kutter, die im Blau des Atlantischen Ozeans schaukelten.
Irgendwann beschloss ich, doch einmal hinüberzutuckern in die Zivilisation. Am Hafen gibt es eine Eisdiele, eine Bäckerei, ein Café, in dem Waffeln mit Himbeermarmelade verkauft werden. Während ich anlegte und mein Boot vertäute, dröhnte aus der Ferne das vertraute Signal der Fähre. Schon bald zog es mich zurück zum Leuchtturm.
Am Kai herrschte Aufregung. Der Besitzer eines Dingis wurde gesucht, das einsam an der langen Kaimauer schaukelte: meines Dingis. Was folgte, war ein ernster Verweis für das Insel-Greenhorn. Das Dingi schaukelte im Parkverbot – ich hatte einem Frachter den Ankerplatz weggenommen.