77,5 Grad Nord
Grönland, die grösste Insel der Welt, verliert mehr Eis denn je, schneller denn je. Welche Folgen hat das Tauwetter im hohen Norden für den Erdball? Eine Forschungsreise jenseits des Polarkreises. Auf Inseln, Folge 3.
Von Tim Kalvelage (Text) und Jan Richard Heinicke (Bilder), 22.07.2020
Der Horizont über dem grauen Ozean wiegt im Bullauge sanft hin und her, während sich Christian Mertens in seiner Kabine über eine ausgebreitete Karte beugt. «Die kann ich stundenlang studieren», sagt der 54-jährige Meeresforscher, «Karten ordnen Dinge auf eine schöne Art und Weise.»
Am linken Rand des Ausschnitts der Welt, der vor Mertens liegt, liegt als mächtiger weisser Keil Grönland, die grösste Insel der Welt, vollgepackt mit Eis. Mertens zeigt auf einige Gletscher, die an der Ostküste ins Meer fliessen: Helheim, Kangersertuaq, Nioghalvfjerdsfjorden.
Grönland ist ein autonomer Teil des Staates Dänemark. Auf einer Fläche von 2,1 Millionen Quadratkilometern leben insgesamt knapp 56’000 Menschen, 18’000 davon in der Hauptstadt Nuuk. Der Nioghalvfjerdsfjorden ist mit einer Länge von 70 Kilometern und einer Breite von 20 Kilometern der grösste Gletscher Grönlands, der Scoresbysund gilt mit einer Fläche von 38’000 Quadratkilometern als grösster Fjord der Welt. Der Ostgrönlandstrom transportiert vor allem kaltes und salzarmes Wasser.
Deshalb sind Christian Mertens und seine Crew aus 19 Forscherinnen, Wissenschaftlern und Studierenden hier, in der Arktis, auf dem Forschungsschiff Maria S. Merian: Sie wollen dem Klimawandel auf die Spur kommen. Herausfinden, wie viel Schmelzwasser der Ostgrönlandstrom nach Süden verfrachtet, in den Nordatlantik. Dafür wollen sie bis auf 77,5 Grad Nord vorstossen, 1390 Kilometer südlich des Nordpols. Doch es ist unklar, ob es die «Merian» bis dorthin schafft – dickes Eis versperrt den Weg.
Es ist Ende Juli 2019, das Forschungsschiff hat auf Neufundland abgelegt und Kurs auf Grönland genommen. Die Expedition ist Teil eines Grossprojekts, in dem Physiker, Geologinnen und Meteorologen den Rückzug der grönländischen Gletscher untersuchen. Und welche Folgen das für den Ozean hat.
Keine Region der Erde heizt sich schneller auf als die Arktis. Die Erwärmung beträgt hier das Doppelte, mancherorts das Vierfache des globalen Mittels. Neben dem schwindenden Meereis bereitet Klimaforscherinnen vor allem der grönländische Eispanzer Sorgen: Das Eis ist stellenweise mehr als 3 Kilometer dick, doch die gefrorene Decke der Rieseninsel wird immer schneller immer dünner. Die Insel verliert heute sechsmal so schnell an Masse wie vor 30 bis 40 Jahren: Heute schmelzen gegen 300 Milliarden Tonnen pro Jahr – in den 80er-Jahren waren es rund 50 Milliarden Tonnen.
Auf Inseln
Inseln faszinieren den Menschen, seit er denken, fühlen, sich sehnen kann. Und sie sind wunderbare Bühnen, um die Welt zu erzählen: Die Serie «Auf Inseln».
Folge 2
Sokotra, Jemen: Das Blut der Brüder
Sie lesen: Folge 3
Grönland, Dänemark: 77,5 Grad Nord
Folge 4
Budapest, Ungarn: Einmal heile Welt für alle
Folge 5
Über den Rand der Welt: Erlebnis und Erinnerung verschmelzen
Folge 6
Víkholmen, Norwegen: Allein unter Möwen
Folge 7
Hongkong, China: Im Auge des Wirbelsturms
Folge 8
Kulturgeschichte: Der Mythos der «einsamen» Insel
Folge 9
Norfolk Island, Australien: Die Bounty im Blut
Bonus-Folge
Das Game «Anno 1800»: Gestrandet im Kapitalismus
Vor allem die Gletscher an der Küste schmelzen im Rekordtempo, weil wärmeres Meerwasser in die Fjorde strömt. Der Eisschwund auf Grönland ist eine der Hauptursachen für den Anstieg des Meeresspiegels. Würde der gesamte Eisschild abtauen, der Pegel der Weltmeere läge 7 Meter höher.
Der steigende Meeresspiegel ist das eine Problem, das sichtbare. Das andere spielt sich in den Tiefen des Ozeans ab: Vor der Südspitze Grönlands läuft ein wichtiger Motor für die Zirkulation im Atlantik und für den Wärmeaustausch zwischen Tropen und subpolaren Gebieten. Wie ein gigantischer submariner Wasserfall sinkt dort schweres, salzreiches Wasser in die Tiefsee, um anschliessend Richtung Äquator abzubiegen. An der Oberfläche strömt Wasser aus dem Süden nach – der Golfstrom, der karibische Wärme mit sich bringt und Europa sein mildes Klima beschert.
Dieser Motor beginnt zu stottern.
Möglicherweise schwächelt die Umwälzung, weil Süsswasser – einst in Gletschern eingeschlossen – den Salzgehalt im Nordatlantik verringert. Das jedenfalls deuten Klimamodelle an.
Grönlands Eisschild schrumpft auch deshalb immer schneller, weil sich der Ozean aufheizt. Das belegen Langzeitmessungen in der Framstrasse zwischen Grönland und Spitzbergen, wo atlantisches Wasser in die Arktis strömt – ein Teil jedoch kehrtmacht und entlang des grönländischen Schelfs wieder nach Süden fliesst.
Seit 1997 ist die Temperatur des Atlantikwassers um etwa 1 Grad gestiegen. Dadurch erodiert die Unterseite der Küstengletscher, ihre Fliessgeschwindigkeit nimmt zu, und gewaltige Mengen Süsswasser gelangen in den Ozean.
Es gibt Anzeichen dafür, dass der Salzgehalt vor Grönlands Südküste an der Oberfläche abnimmt und so weniger Tiefenwasser entsteht. Klimaforscher befürchten, dass dies die atlantische Zirkulation bremst. Eine schwächelnde Umwälzung könnte abrupte Klimaveränderungen zur Folge haben.
Doch es fehlt an Messungen in den grönländischen Gewässern, um die Modelle zu überprüfen. Vor allem im unzugänglichen Nordosten.
63 Grad Nord
Als die «Merian» die Südostküste Grönlands erreicht, hängt ein trüber Schleier über der schroffen Felskulisse. Es wimmelt von Eisbergen, manche zerfurcht und kantig wie grobes Schnitzwerk, andere kieselglatt. Azurblaue Adern durchziehen die Eiskörper. Das Schiff dampft mit halber Kraft, um Brocken ausweichen zu können, die in Wellentälern lauern. Alle paar Seemeilen versenken die Forscherinnen ihre Messgeräte und holen Hunderte Liter Wasser aus der Tiefe.
Klack, klack, klack, schallt ein heller, metallischer Klang übers Deck. Klimaforscher Oliver Huhn hämmert mit einem Schraubenschlüssel rhythmisch auf eine Aluschiene, die er mit einem Wal und einem Boot verziert hat, sein grauer Mittelscheitel wippt im Takt. Die Schiene fixiert ein dünnes Kupferrohr, aus dem eisiges Meerwasser über Huhns gelbe Gummistiefel plätschert. Noch einmal schlägt er auf das Aluminium, klack, klack, um letzte Luftblasen aus dem Rohr zu bekommen, dann klemmt er die beiden Enden ab. Die Wasserprobe soll ihm später Hinweise darauf liefern, was hier vor Grönland vor sich geht.
«Das Eis, das Licht, die körperliche und mentale Herausforderung», beschreibt Huhn seine Faszination für die Polargebiete. Schon als Student fuhr der heute 49-Jährige auf einem Eisbrecher in die Antarktis, 3 Jahre seines Lebens hat er insgesamt auf See verbracht. «Ich will nicht die Welt retten», sagt er, «aber die grossen Zusammenhänge verstehen zwischen dem Klimawandel und den Veränderungen im Ozean.»
Vor 3 Jahren begann Huhn mit anderen Forscherinnen, einen der mächtigsten Gletscher Grönlands zu untersuchen. Im Nordosten streckt die Eisinsel dem Meer eine ihrer Zungen entgegen, den mehr als 70 Kilometer langen Nioghalvfjerdsfjorden, auch genannt: der 79-Grad-Nord-Gletscher. Der schwimmende Teil des Gletschers ragt teilweise bis in 900 Meter Tiefe. Doch das Eis wird zusehends dünner. Die Zunge des benachbarten Zachariaegletschers ist bereits fast vollständig abgebrochen.
Auf zwei früheren Expeditionen hat Oliver Huhn am 79-Grad-Nord-Gletscher Kupferrohre gefüllt. Um zu bestimmen, wie viel Eis an der Unterseite verloren geht. Ziel der jetzigen Reise ist es, die übrigen grossen Gletscher an der Ostküste zu erfassen und die Spur des Schmelzwassers zu verfolgen. Dafür analysiert er Edelgase, die einst in Luftbläschen im Gletschereis eingeschlossen wurden und sich nun im Meerwasser lösen. Weil der Ozean sonst nur sehr geringe Mengen Edelgase enthält, lässt sich der Schmelzwasseranteil so recht präzise bestimmen.
65 Grad Nord
Durch ein kleines Fenster sieht man, wie sich das Meer aufbäumt, um kurz darauf gegen die Bordwand zu prallen. Vor Island ist die Expedition in einen Sturm geraten, die «Merian» taumelt wie ein angezählter Boxer, die Bullaugen starren in den bleiernen Himmel und die finstere See. In der Kombüse fliegt Porzellan, der Schiffsarzt verteilt Pflaster gegen Seekrankheit. Nur die Eissturmvögel gleiten unbeeindruckt über den wütenden Ozean.
Auf der Brücke herrscht auch bei Windstärke 8 und 7 Meter hohen Wellen Gelassenheit. «Die ‹Merian› ist ein Stehaufmännchen», sagt Kapitän Ralf Schmidt, während das Schiff hinter dem nächsten Brecher abtaucht. «Wir haben schon bei Windstärke 12 geforscht.» Eisberge jedoch seien tückisch bei diesem Wetter. Gletschereis ist hart wie Beton, und kleinere Brocken sind auf dem Radar von den Schaumkronen nicht zu unterscheiden.
Momentan stampft das Schiff über den eisfreien offenen Ozean, aber es wird bald flacheres Wasser erreichen. Ralf Schmidt hat die neueste Eiskarte vom dänischen Wetterdienst ausgedruckt: Vor der grönländischen Ostküste lauern zahlreiche Eisberge. Weiter nördlich verzweigt sich der Scoresbysund tief in das Inselinnere. «Ab dort ist dann erhöhte Aufmerksamkeit erfordert», sagt er. An der Fjordmündung beginnt das Meereis, das aus dem Arktischen Ozean nach Süden driftet. Dünnes Neueis kann die «Merian» brechen, um mehrjährige Schollen macht sie lieber einen Bogen. Der nördlichste Teil der Route führt durch ein Gebiet mit über 90 Prozent Eisbedeckung. Dort bestünde die Gefahr, eingeschlossen zu werden.
Die «Merian» hat auf früheren Expeditionen schon den 80. Breitengrad überquert. Die Eisbedeckung schwankt seit jeher, doch die letzten 12 Jahre fiel ein Rekord nach dem anderen. Manchmal bedeckte Ende Sommer nur noch halb so viel Eis den Arktischen Ozean wie normalerweise. Der Klimawandel sei deutlich sichtbar, sagt auch Kapitän Schmidt. «Vor der grönländischen Küste geht das Eis extrem zurück.» Die «Merian» erkundet Fjorde, wo die Seekarten noch Gletscher verzeichnen.
Während die «Merian» durch das Eiswasser fährt, ächzt Grönland unter jener Hitzewelle, die Mitteleuropa im Sommer 2019 neue Temperaturrekorde bescherte. An der Küste, 1000 Kilometer nördlich des Polarkreises, klettert das Thermometer auf 19 Grad. Auf dem Höhepunkt der Hitzewelle verliert Grönland 12 Milliarden Tonnen Eis pro Tag. Das Schmelzwasser, das allein im Monat Juli ins Meer strömt, würde ausreichen, die Schweiz fast 5 Meter zu fluten.
68 Grad Nord
Nach gut einer Woche auf See passiert die Expedition bei 66,6 Grad Nord den Polarkreis. Das Meer hat sich inzwischen ausgetobt. Backbord treibt die gezähnte Küste vorbei. Die «Merian» umschifft Eisberge – Kathedralen, Frachtern und riesenhaften Schildkröten gleich –, die der Sturm nahe an die Insel gedrückt hat.
Das Leben an Bord folgt einem eigenen Rhythmus, bestimmt durch die Stationen entlang der Route. Erreicht das Schiff die nächste Position, versenken die Wissenschaftler ihre Messgeräte und sammeln Proben. Weil Schiffszeit kostbar und teuer ist, wird im Schichtbetrieb gearbeitet.
Morgens beim Frühstück in der Kombüse blickt man in müde Augen. Und während die einen danach in ihrer Koje die Vorhänge zuziehen, beginnt für die anderen die tägliche Routine – Probengefässe vorbereiten, Meerwasser abfüllen, Daten sichten. Dazwischen: sich an Deck den Wind um die Ohren pfeifen lassen, die fremdartige Szenerie geniessen und darauf hoffen, dass irgendwo ein Wal auftaucht. Abends spielt man Tischfussball und Pingpong oder trinkt mit der Crew ein Bier in der Schiffsbar. Die Veteranen erzählen dann von früheren Forschungsexpeditionen, von sonnigen Fahrten in die Karibik und von Stürmen im Nordatlantik mit angelegten Rettungswesten.
Heute liegt das Meer friedlich im Dämmerlicht. Frederike Benz greift zum Funkgerät: «Labor an Brücke: Das Gerät ist bereit zum Aussetzen.» Die Studentin hat Schicht und ist zuständig dafür, dass Klimaforscher Huhn seine Proben erhält. «Verstanden. Dann kann das Gerät zu Wasser», tönt es blechern aus dem Lautsprecher. Aus ihrem Labor sieht Benz, wie sich die Schiebetür auf Steuerbord öffnet und die «Merian» einen roten Arm ausstreckt. An einem Drahtseil baumelt ein mannshohes Stahlrondell. Daran befestigt sind 22 verschliessbare Plastikrohre und Instrumente zur Bestimmung von Salzgehalt, Temperatur und Strömung.
Während der Stahlrahmen zum Meeresgrund schwebt, verfolgt Benz die Messungen live am Computer. Wie das Wasser mit zunehmender Tiefe salziger wird und die Temperatur unter 0 Grad sinkt. Die Physik des Ozeans, die hinter den langsam vor ihr über den Bildschirm kriechenden Linien steckt, ist ihre Leidenschaft. Sie träumt von einer Zukunft als Polarforscherin.
Der ursprünglich erlernte Beruf – Steuerfachangestellte – erschien der 28-Jährigen ohne höheren Sinn. Also kündigte sie, holte ihr Abitur nach und schrieb sich an der Uni Hamburg ein: Ocean and Climate Physics. Statt weisser Bluse trägt sie jetzt Strickpulli und Gummistiefel.
1250 Meter Tiefe: Knapp über dem Meeresgrund wird das Messgerät gestoppt und das Drahtseil langsam wieder aufgespult. «Ich will zu etwas Wichtigem beitragen», sagt Frederike Benz, während sie per Mausklick in der Tiefe einige Plastikrohre schliesst.
70 Grad Nord
Die Expedition hat die Mitte der Ostküste erreicht. Von oben betrachtet, klafft dort eine riesige Wunde: der Scoresbysund. Der grösste Fjord der Erde verästelt sich Hunderte Kilometer weit landeinwärts. Vor der Mündung dümpeln ein Dutzend kleinerer Eisberge, strahlend wie eine makellose Zahnreihe. Auf der anderen Seite passiert die «Merian» einen gigantischen Eiswürfel. Offenbar fest verankert ragt der rund 100 Meter hohe Monolith wie eine uneinnehmbare Festung aus dem Wasser. Seine Mauern glänzen im weichen Licht der nördlichen Sonne.
Oliver Huhn nutzt die Fahrt zwischen zwei Stationen, um das gute Wetter an Deck zu geniessen. Für einen Moment verstummt das metallische Hämmern auf seinen Kupferrohren. «Wir liegen gut in der Zeit», sagt er und zieht an seiner Zigarette. Er hat entschieden, zusätzliche Proben am Ausgang des Scoresbysund zu nehmen, der für den Wissenschaftler Huhn ein Highlight der Reise ist: «Der Fjord ist vermutlich eine starke Schmelzwasserquelle für den Ostgrönlandstrom.»
Hinter dem Scoresbysund trifft die «Merian» zum ersten Mal auf Meereis. Zunächst sind es nur einzelne Bruchstücke, die vortreiben – ein weisser Scherbenhaufen. Dazwischen flattern Krabbentaucher, weissbäuchige Vögel mit schwarzer Maske, hektisch vor dem stählernen Eindringling davon. Ringelrobben lassen sich ins Wasser gleiten. Als die Eisdecke dichter wird, drosselt die «Merian» auf 3 Knoten, Schrittgeschwindigkeit. Kleine Schollen schiebt sie beiseite oder zerteilt sie knackend. Trifft das Schiff auf eine grössere, ertönt ein dumpfer Schlag und der Rumpf erzittert.
Ansonsten herrscht vor allem: Stille.
72 Grad Nord
Nachts wird es längst nicht mehr dunkel. Die Sonne schafft es kaum noch, sich unterm Horizont zu verkriechen. Frederike Benz steht mit anderen Studierenden an der Reling, sie machen Selfies mit dem Meereis, das im Dämmerlicht in zarten Blautönen schimmert. In der Ferne verhüllt ein Nebelschleier die Silhouette der grönländischen Küstenberge. Darüber: ein orangenes Band, vor dem Schwärme von Krabbentauchern als schwarze Punkte vorbeiziehen. «Versteht ihr, warum die Arktis für mich ein magischer Ort ist?», fragt Benz.
Doch die gewaltige Arktis ist zerbrechlich. In den letzten 40 Jahren ist die Eisbedeckung im Sommer um rund 30 bis 50 Prozent zurückgegangen, nie gab es im Juli seit Beginn der Satellitenmessungen weniger Meereis. Die Schollen werden immer dünner, und vor allem das mehrjährige Eis verschwindet. In wenigen Jahrzehnten könnte die Arktis in der warmen Jahreszeit gänzlich eisfrei sein. Dann würde sich der Ozean noch weiter aufheizen.
Noch gibt es Eis, noch muss die «Merian» durchs Eis navigieren. Gut zwei Wochen ist die Crew nun auf See, die Bärte werden länger, die Salzkrusten auf der Arbeitskleidung dicker, die Songs während der oft monotonen Arbeit lauter und rockiger.
Bisher ist die «Merian» gut vorangekommen, der Grossteil der Messungen und Probennahmen konnten wie geplant erfolgen. Nun aber ist der letzte Abschnitt gefährdet. «Der aktuellen Eiskarte nach ist für uns bei 77,5 Grad Nord auf dem Schelf kein Durchkommen», erklärt Kapitän Ralf Schmidt. Er und Fahrtleiter Christian Mertens entscheiden daher, zunächst etwas weiter südlich zur Küste vorzustossen. Dort schwimmen die Schollen weniger dicht gedrängt. So hoffen sie, wertvolle Zeit zu gewinnen, um am Ende doch noch den nördlichsten Teil des Ostgrönlandstroms ansteuern zu können.
Bevor es wieder Richtung Küste geht, werfen die Forscherinnen noch eine Treibboje mit Satellitenantenne über Bord. Sie wird bis zu 4 Jahre lang autonom zwischen der Meeresoberfläche und 2000 Meter Tiefe pendeln und dabei den Salzgehalt und die Wassertemperatur messen. Knapp 4000 dieser Bojen haben Wissenschaftler in den vergangenen 20 Jahren im Ozean ausgesetzt. Sie bilden ein weltumspannendes Beobachtungssystem, das Klimaforscherinnen wichtige Langzeitdaten liefert. «Früher waren die Messungen oft lückenhaft», sagt Christian Mertens. «Heute zeichnen Bojen ständig und überall die Temperatur auf und belegen zweifelsfrei: Der Ozean wird wärmer.»
74 Grad Nord
Nach Nächten durch Nebel und Eis reisst am Morgen des dritten Tages der graue Schleier auf und enthüllt eine leuchtend weisse Welt. An der Meeresoberfläche liegt die Temperatur inzwischen knapp unter dem Gefrierpunkt. Immer enger umschliessen die gewaltigen Eismassen die «Merian», der Ozean schrumpft zu einer versprengten Seenlandschaft. Mit einem Knoten bahnt sich das Schiff einen Weg durch die eisige Wüste.
«Eisbär!», schreit plötzlich jemand übers Deck. «Eisbär!» Forscherinnen und Matrosen stürmen zur Reling. «Wo?» In rund 200 Metern Entfernung tritt der König der Arktis auf einer Scholle hinter einer Schneewehe hervor. Kameras klicken. Der Bär hebt den massigen Schädel und hält seine Schnauze in den Wind, als würde er die Eindringlinge wittern. Dann stapft er weiter, um hinter einem anderen Schneehaufen zu verschwinden. Augenblicke später sieht man den Eisbären ins Wasser springen. Während er zur Nachbarscholle schwimmt, verschwindet er allmählich aus dem Blickfeld der «Merian».
77 Grad Nord
Früher als vermutet stösst die «Merian» wieder auf Meereis. Zahlreiche Schollen haben sich vom Hauptfeld über dem Schelf gelöst. Dazu ist das Schiff bald wieder in dichten Nebel gehüllt, die Sichtweite beträgt kaum 200 Meter. Flösse, gross wie Fussballplätze, treiben vorbei, durchzogen von türkisblauen Kanälen und Schmelztümpeln. Auf dem Radar erscheinen sie als grüne Punkte mit grauem Schweif, als kreuze die «Merian» einen Kometenschauer. Schliesslich ist das Eis so dicht, dass sie nicht mehr ausweichen kann. Rumms! Wie in Zeitlupe brechen die Schollen unter lautem Knacken entzwei, driften auseinander und schieben sich an anderer Stelle knirschend übereinander.
Bei 77,5 Grad Nord ist Schluss, die «Merian» muss kehrtmachen. Das Eis, dessen Verschwinden sie dokumentieren und verstehen, am Ende verhindern wollen, ist zu dicht. Noch einmal lassen sie ihre Instrumente zu Wasser und sammeln letzte Proben. Dann geht es mit 13 Knoten durch die Framstrasse nach Spitzbergen.
3615 Seemeilen, 170 Stationen und 720 Kupferrohre zur Analyse von Schmelzwasser: Für Expeditionsleiter Christian Mertens war die Reise ein voller Erfolg. «Wir haben völliges Neuland erforscht», sagt er.
Wenn alle Proben gemessen und alle Daten ausgewertet sind, werden sie mehr darüber wissen, wie die schmelzenden Gletscher Grönlands den Ozean verändern. Jetzt aber freut sich Oliver Huhn erstmal auf wärmeres Wetter und seine Gartenparzelle in Bremen, in der die Tomaten und Brombeeren reif sind. Studentin Frederike Benz wird in der Arktis bleiben. Sie will auf Spitzbergen die Zirkulation in einem der Fjorde untersuchen. Damit kommt sie ihrem Traum ein Stück näher: als Polarforscherin zu etwas Bedeutsamem beizutragen. Zu einem besseren Verständnis des Klimawandels. Und zum Wissen darüber, was dagegen zu tun ist.
In einer früheren Version schrieben wir fälschlicherweise, Grönland verliere 300 Millionen Tonnen Eis pro Jahr – es sind, wie jetzt korrekt beschrieben, 300 Milliarden Tonnen pro Jahr.