Wenn die Musik verstummt
Abgesagte Festivals, enttäuschte Fans, der Markt am Abgrund: Die Corona-Krise trifft die Schweizer Musikszene in ihrer Existenz. Und macht deutlich, was sich verändern muss.
Von Timo Posselt (Text) und Lukas Maeder (Bilder), 10.06.2020
Kendrick Lamar kommt nicht in den Thurgau, Céline Dion nicht an den Genfersee, Placebo nicht ins Sittertobel. Die Corona-Krise hat den Festivalsommer beendet, bevor er begann. Und ein Teil der Schweizer Musikszene sieht sich in seiner Existenz bedroht.
Der Bundesrat hatte schnell reagiert: Vier Tage nach dem Lockdown sprach er Ausfallentschädigungen sowie eine Corona-Nothilfe in Höhe von 280 Millionen Franken für den ganzen Kultursektor. Schon Mitte Mai waren mehr als vier Fünftel der Unterstützung angefragt. Dann verlängerte der Bundesrat die Hilfe bis in den Herbst. Noch reicht das Geld, aber die Gesuchszahlen steigen jetzt schneller. Weil die Folgen für viele spürbarer werden, je länger die Krise andauert.
Nun hagelt es Millionenverluste, vom Open Air St. Gallen bis zum Montreux Jazz Festival. Tausende Fans sitzen auf ihren Tickets. Nicht bei allen Festivals bekommen Kunden ihr Geld zurück. Stattdessen werden die Acts aufs nächste Jahr verschoben. Und manche Veranstalter kapitalisieren die Vorfreude: «Wir kommen nächstes Jahr grösser und besser zurück», schreibt das Open Air Frauenfeld und hat schon 10’000 Tickets für einen zusätzlichen Tag 2021 verkauft: «Wir können so das Corona-Jahr vergessen machen.» Wirklich?
Einstieg der Saudis
Seit der Tonträgerverkauf fast nichts mehr einbringt, dreht sich das Musikgeschäft um Konzerte. Tausende Festivals schossen aus dem Boden und die Gagen in die Höhe. Die grossen Veranstalter buhlen um die gleichen wenigen Headliner. Für die Fans bedeutet das: immer teurere Tickets und ähnlichere Line-ups.
Längst hat dies auch in der Schweiz internationale Konzerne auf den Plan gerufen: Multis wie Live Nation oder CTS Eventim schlucken alles, von den kleinen Agenturen bis zum lukrativen Ticketing. 2017 übernahm Live Nation das Open Air Frauenfeld, und Anfang 2020 stieg CTS Eventim beim Open Air St. Gallen ein. Aber die Corona-Krise macht nun selbst den Multis Liquiditätsprobleme. Der CEO von Live Nation sagt: «Das Glas ist halb voll.» Und er hat einen neuen Juniorteilhaber: den saudischen Staatsfonds. Stars von Madonna bis U2 treten also bald mit dem Kapital eines Regimes im Rücken auf, das im letzten Jahr laut Amnesty International so viele Menschen hinrichtete wie nie zuvor.
«Kein Bombast, kein Einfluss»
Wenn Live Nation ein Imperium ist, ist das «Bad Bonn» ein gallisches Dorf: ein Club in Düdingen, mitten im freiburgischen Nirgendwo, zwischen Autobahn und Stausee. Den ganzjährigen Clubbetrieb finanziert ein Festival mit 3000 Besucherinnen: die «Bad Bonn Kilbi». Bekannte Namen? Selten. Sponsorenzelte? Keine. Stattdessen macht sich der Programmverantwortliche Daniel Fontana einen Spass daraus, sein Publikum penetrant zu verblüffen: ein türkischer Klarinettenvirtuose am Freitagabend, ohrenbetäubender japanischer Noise auf der Hauptbühne oder das indonesische Duo Gabber Modus Operandi – der Name sagt eigentlich alles. Genauso kompromisslos ist das «Bad Bonn» wirtschaftlich: «Club und Kilbi gehören zusammen», sagt Daniel Fontana.
Die Regel der vergangenen Jahre lautete: Der Gewinn des Festivals ermöglicht den defizitären Clubbetrieb. «So erhalten wir hier auf dem Land Opposition und Vielfalt.» Das Publikum sah das genauso: Innert Minuten war die Kilbi jeweils ausverkauft. Grösser aufziehen wollte Fontana das Festival trotzdem nicht. Warum? «So sind wir in einer gesunden Balance: ein paar tausend Franken von Coca-Cola, aber kein Bombast und kein Einfluss», sagt Fontana und legt nach: «Die grossen Player gehen mir sowieso am Arsch vorbei, vorher höre ich lieber auf.» Nicht vorbeigegangen ist an der Kilbi allerdings die Pandemie – das Festival, das vergangenes Wochenende hätte stattfinden sollen, musste wegen Corona abgesagt werden.
Seit dem 6. Juni dürfen Clubs wie das «Bad Bonn» nun wieder öffnen, Veranstaltungen mit bis zu 300 Personen sind erlaubt. Aber Moshpits mit Social Distancing? Vergiss es. Sitzkonzerte? Na ja. Die Clubs müssen die Kontaktdaten der Gäste erfassen und pro Person 4 Quadratmeter Tanzfläche einrechnen. Doch: Die meisten Clubs rentieren erst, wenn sie fast voll sind. Definitiv nicht mit der Hälfte oder einem Viertel der Auslastung. Um 24 Uhr ist Zapfenstreich – auch nicht gerade geschäftsfördernd.
Nächstes Jahr werden neben den verschobenen Acts aus diesem Jahr Hunderte zusätzliche Bands auf Tour sein. Gigs brauchen sie alle. Die kommerziellen Veranstalter müssen die Verluste aus diesem Jahr ausgleichen – ob das ihre Experimentierfreude fördert? Oder werden sie eher auf sichere Werte setzen? Und wie wird sich all das auf Ticket- und Getränkepreise auswirken? Laut dem Veranstalter-Verband SMPA leidet die Schweizer Konzertbranche ohnehin schon seit Jahren unter Überhitzung: Tausende Tickets werden nicht verkauft, Konzerthallen bleiben zur Hälfte leer, Festivals gehen Millionen flöten. Nach Corona könnte sich das Problem noch verstärken.
Und die Musikerinnen?
Der deutsche Veranstalter und Publizist Berthold Seliger rechnet in seinem Buch «Vom Imperiengeschäft» vor: Auf das oberste 1 Prozent der Künstlerinnen fallen im weltweiten Musikgeschäft 60 Prozent der Einnahmen. Die Toten Hosen beispielsweise setzen so jährlich 15 Millionen Euro um. Und bei den anderen 99 Prozent?
Anruf bei Endo Anaconda, selbsterklärter Hochrisikopatient und Kopf der Mundartband Stiller Has: «Ich will nicht klagen, aber wenn ich vier Monate nicht spielen kann, dann sieht es bitter aus.»
Wie bei vielen Musikerinnen von seiner Bekanntheit steht bei Endo die Medienaufmerksamkeit in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen. Vor dem Lockdown wollten alle Endo. Und Endo war für alle da, ein letztes Mal: Er gab Interviews bis zum Hustenanfall und trat zu seiner letzten Tour mit Stiller Has an. Dann kam Corona, und die Abschiedstour war gestorben. Vorerst. Die Konzerte sind verschoben auf Herbst und ins nächste Jahr. Dazwischen liegen Monate ohne Einkünfte und die vorfinanzierte Produktion des Albums «Pfadfinder». Kosten: 30’000 Franken. Bezahlt ohne einen Rappen Fördergelder.
«Wir haben 32 Jahre lang gearbeitet, ohne Betreibungen, ohne Vorstrafen, ohne den Gang zum Sozialamt. Die Steuern immer hinterher, aber immerhin», sagt Endo Anaconda. Er freut sich auf seine letzte Tour, aber reich wird er nicht mehr.
3330 Franken im Monat ist das Durchschnittseinkommen in der Kulturbranche laut dem Kultur-Dachverband Suisseculture. Jahreslöhne von 16’000 Franken sind keine Seltenheit. Die Mehrheit der Musiker hangelt sich von einer Kurzanstellung zur nächsten. Sie jobben, kellnern, unterrichten und treten am Wochenende auf. Weil die Gagen zu tief sind, übersteigen sie selten die Hälfte ihres Einkommens und fliessen direkt in Fixkosten: Instrumente, Equipment, Proberaum-Miete. Für die Anerkennung als Selbstständige reicht es bei vielen nicht, in der Krise haben sie so keinen Anspruch auf Erwerbsersatz.
Der Bundesrat stoppte auf Mitte Mai den Erwerbsersatz für alle Selbstständigen, die nicht mehr vom Berufsverbot betroffen sind. Vom Bundesamt für Sozialversicherung heisst es jedoch: «Selbstständige Musikerinnen haben nach wie vor Anspruch auf Erwerbsersatz, wenn sie erklären und begründen können, dass sie vom Veranstaltungsverbot betroffen sind.» Nur, vom Erwerbsersatz allein können längst nicht alle Selbstständigen leben: Eine Motion zum Thema von SP-Parlamentarierin Mattea Meyer ist derzeit im Nationalrat hängig. Trotz der Lockerungen werden zahlreiche Kulturschaffende auf Nothilfe angewiesen sein, die bis zum 20. September verlängert wurde.
Die Solisten der Kulturbranche
Was für die Musikerinnen gilt, gilt auch für zahlreiche Selbstständige in der Kulturbranche, die nun ebenfalls auf sich allein gestellt sind. Der Bund hat darum einen Nothilfefonds für alle Kulturschaffenden eingerichtet: 1617 Gesuche sind bis zum 8. Juni dort eingegangen. Täglich kommen neue dazu, heisst es von Suisseculture Sociale. Trotzdem sei dies nur ein Bruchteil der Betroffenen. Warum also gehen nicht mehr Gesuche ein? Das zeigt ein Beispiel aus Basel.
Marlon McNeill ist Musiker, Bandmanager, Labelbetreiber und Geschäftsführer von IndieSuisse, dem Verband der unabhängigen Musiklabels. Sein Monatseinkommen: selten mehr als 2000 Franken. Marlon McNeill sagt: «Wenn der Bundesrat solche Zahlen sieht, wird der sich fragen: Wovon leben die überhaupt?» McNeill ist mit seinem Label A Tree in a Field verantwortlich dafür, dass Bands wie Asbest, Omni Selassi und Fai Baba ein professionelles Umfeld haben und international gehört werden. Diese Strukturen in der Schweiz sind jung und oft prekär.
«Musikerin und Labelbetreiber sind bis anhin Lebensläufe, die in der Schweiz gar nicht vorgesehen waren», sagt McNeill. Er bekommt Erwerbsersatz von 7.20 Franken pro Tag und hofft auf Ausfallentschädigungen für abgesagte Konzerte. Je länger das faktische «Berufsverbot» anhält, desto ungewisser wird seine Situation: McNeill weiss nicht, wie lange er sich mit Erwerbsersatz und knappen Rücklagen durchschlagen muss. Dennoch zögerte auch er, Nothilfe zu beantragen: «Es ist nicht leicht, sich das als Selbstständiger einzugestehen.» Zudem sei man es in seiner Branche gewohnt, sich durchzuschlagen.
Nur eine Minderheit in der Kulturbranche ist in Verbänden organisiert: 22’000 Mitglieder zählt der Kulturdachverband Suisseculture, aber allein in der Schweizer Musikwirtschaft arbeiteten 2013 laut dem Bundesamt für Kultur mehr als 30’000 Beschäftigte. Damit sind in der Krise Tausende Kulturschaffende auf sich allein gestellt. Es liegt an ihnen, sich zu organisieren. Denn dass ihre Arbeit etwas wert ist, geht immer mal wieder vergessen.
Und nun?
«Alles wird gut», sagte sich SRF Ende März und sendete Wohnzimmerkonzerte von bekannten Schweizer Musikerinnen in alle Landesteile. Gage? Nulla. Die Musiker verschenkten ihre Arbeit, um uns in dieser schwierigen Zeit ein bisschen Mut zu spenden. Die Sichtbarkeit war riesig, die sozialpolitische Botschaft katastrophal.
Dabei wusste es SRF auch schon besser: Kurz vor dem Lockdown schickte die Rockmusikerin Nadja Zela den Programmverantwortlichen einen offenen Brief. Sie forderte mehr Songs aus der Schweiz im Programm. Der Druck wirkte. SRF erhöhte die Anteile von Schweizer Musik in allen Programmen.
Zwar dürfen die Künstlerinnen damit auf mehr Urheberrechts-Tantiemen hoffen, aber davon leben können die wenigsten. Und ein Rückzug ins Nationale ist langfristig sowieso keine angemessene Lösung. Schliesslich geht es in den Künsten auch darum, Länder- und Sprachgrenzen zu überschreiten, anstatt sie zu verstärken.
Timo Posselt, 1991 geboren, studierte in Basel und im norwegischen Bergen Deutsch, Gender Studies und Geschichte. Er schreibt als freier Journalist über Pop, Film und Literatur und lebt in Basel. Für die Republik schrieb er zuletzt über den Wiener Rapper Mavi Phoenix.